Читать книгу In den Zeiten des Krieges - null Libert - Страница 6

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3.

Unvermittelt riss Lisa ihn am Arm und wies hinaus auf das Land. In der Ferne stieg eine dünne Rauchspur auf. Offenbar kaum sie aus einer Senke, die sie nicht einsehen konnten. Rauch bedeutete Feuer und Wärme. Das war das, was sie jetzt am nötigsten brauchten, um ihr nasses Zeug zu trocknen. Gleichzeitig ließ es auch auf die Anwesenheit von Menschen schließen. Sie registrierten es mit gemischten Gefühlen, denn sie waren im Verlaufe ihrer Reise misstrauisch geworden. Aber sie hatten keine Wahl.

Unverzüglich machten sie sich auf den Weg. Das Marschieren in der feuchten Kleidung wurde bald zur Qual. Unablässig wurden sie von Kälteschauern geschüttelt, doch der Anblick der dünnen Rauchspur beschleunigte ihre Schritte. Trotzdem kamen sie nicht schnell voran. Dazu waren ihre Glieder nach den überstandenen Strapazen zu schwer. Lediglich der kleine Bernd zeigte sich gut erholt und lief um sie herum. Dadurch fror er am wenigsten und schützte sich so auf seine eigene Weise. Lisa und Peter dagegen litten unter der Unterkühlung, aber kein Klageton kam über ihre Lippen. Sie waren dem Leiden gegenüber abgestumpft.

Statt dessen machten sie sich Gedanken über das, was sie in der Senke vorfinden würden. Wie würden sich die Menschen ihnen gegenüber verhalten? Vielleicht waren es Soldaten, die dort ein Feuer entzündet hatten? Letztlich führten alle diese Zweifel zu nichts. Sie hatten keine andere Möglichkeit, als es selbst heraus zu finden.

Je weiter sie vordrangen, desto deutlicher wurde, dass ihr erster Eindruck von der Landschaft nicht richtig gewesen war. Es gab zwar keine auffallenden Erhebungen, wohl aber zahlreiche langgezogene Wellen, zwischen denen sich weite flache Mulden erstreckten, die aus der Ferne nicht eingesehen werden konnten.

Diese Erfahrung bereitete sie auf das vor, was sie dann in der gesuchten Senke vorfanden. Es war mittlerweile später Nachmittag geworden.

Schon von weitem hatten sie unter der dünnen schwarzen Rauchspur die Spitzen mehrerer Dächer erkannt. Als sie näher kamen, lag ein zerstörtes Dorf vor ihren Augen. Schwarzverkohlte Ruinen ragten im bizarren Muster empor, zusammengestürzte Mauern gaben den Blick frei in das verwüstete Innere der Hütten. Kein lebendes Wesen war zu sehen.

Das Dorf bestand nur aus wenigen Häusern, und von diesen stand kaum noch eines unbeschädigt. Der Rauch, der den Flüchtlingen den Weg gewiesen hatte, stieg aus einer der abgebrannten Hütten empor. Dort loderten an den schwarzen Holzstümpfen noch kleine Flammen, deren Kraft aber zusehends nachließ.

Eine Untersuchung der anderen Hütten zeigte, dass die Verwüstung des Dorfes offenbar schon einige Tage zurück lag, denn bis auf die eine Ausnahme waren alle Brände erloschen und die Glut erkaltet.

Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass sich tatsächlich kein Mensch mehr im Dorf aufhielt, ging Peter noch einmal auf den höchsten Punkt der umgebenden Erdwälle und spähte nach allen Seiten. Nirgendwo konnte er etwas Beunruhigendes entdecken. Nun erst nahmen sie mit ungeteilter Begeisterung Besitz von dem verlassenen Dorf.

Sie hatten allen Grund, begeistert zu sein. Das letzte noch brennende Feuer hatte ihnen nicht nur den Weg hierher gewiesen, sondern ermöglichte es ihnen auch, endlich ihre Kleidung zu trocknen. Das war das erste, was sie taten. In einer der weniger beschädigten Hütten fanden sie einen noch intakten Kamin. Hier entfachten sie ein großes Holzfeuer. Dann zogen sie sich bis auf die Unterkleidung aus, hängten die nassen Sachen zum Trocknen über den Kamin, setzten sich dicht heran und ließen sich von allen Seiten ausgiebig durchwärmen.

Mit der Wärme kehrte auch ihr Unternehmungsgeist zurück, und sie machten sich daran, das Dorf nach brauchbaren Hinter-lassenschaften der verschwundenen Einwohner zu durchsuchen. Aber damit war es schlecht bestellt. Sie hatten vor allem gehofft, noch verwendbare Bekleidungsstücke oder Stoffe zu finden, doch diese Sachen waren alle verbrannt oder von den Bewohnern mitgenommen. Dagegen fanden sie noch einige halb verkohlte Essensreste, die sie reinigten und dann heißhungrig hinunter schlangen.

Inzwischen war auch ihre Kleidung getrocknet. In dem warmen Zeug und mit halbwegs gefülltem Magen fühlten sie sich wie neu geboren.

Ein letzter Rundblick zeigte ihnen, dass das Dorf nichts für sie Nützliches mehr zu bieten hatte. Sie beschlossen, hier nur noch die Nacht zu verbringen, um am anderen Morgen den Marsch ins Landesinnere fortzusetzen.

Früh am folgenden Tag brachen die drei jungen Flüchtlinge auf. Vor ihnen öffnete sich die ungeheure Weite dieses unbekannten Landes, von dem sie nur wussten, dass seit Jahren schon der Krieg in ihm herrschte. Voller Bedrückung sahen sie auf das, was vor ihnen lag. Sie erinnerten sich an die Flüchtlinge aus dem Landesinneren, die sie an Bord des Schiffes kennen gelernt hatten. Sie sahen die ausgezehrten Gestalten vor sich, in deren Augen noch der Widerschein der Furcht zu lesen gewesen war.

Ihre Befürchtungen waren groß. Doch sie wurden überrascht. Als sie die öde Küstenebene hinter sich gelassen hatten, änderte sich der Charakter der Landschaft. Sie wurde bewegter, in rascher Folge wechselten Hügel und Täler, kleine Wäldchen, weite Felder und Weiden, die immer wieder unterbrochen wurden von ausgedehntem Buschgelände. Es war fast wie ein großer Park. Peter und Lisa stellten fest, dass dieses Land schön war.

Sie trafen auch kaum noch auf Verwüstungen. Die Dörfer, auf die sie in den ersten Tagen ihrer Wanderschaft stießen, waren alle unversehrt und machten äußerlich einen behäbigen und friedlichen Eindruck. Es war, als ob das abgebrannte Dorf in der Küstenebene ein einmaliges Warnzeichen bleiben sollte. Nichts wies hier noch auf den Krieg hin.

Aber dann kamen sie mit den Menschen in diesen Dörfern zusammen, und das schöne Bild zerbrach. Was dahinter zum Vorschein kam, war Furcht. Kaum verborgene Furcht.

Es traf zu, dass dieses Land bisher verschont geblieben war, aber der Krieg war nahe. Die ständige Bedrohung schwebte über den Häuptern der Menschen und beugte sie. Das, was dem Dorf in der Küstenebene geschehen war, konnte morgen jedem anderen Dorf zustoßen. Das wussten die Menschen hier. Mit diesem Wissen lebten sie seit Jahren.

Sie waren misstrauisch und abweisend gegen Fremde. Sie wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Alles, was von draußen kam, erinnerte sie an den Krieg. Peter und Lisa merkten bald, dass sie nicht die einzigen Flüchtlinge in diesem Land waren. Überall marschierten auf den Straßen Menschen gleich ihnen, die ihre Heimat verloren hatten, die nicht wussten wohin und die in diesem Landstrich niemand bei sich aufnehmen wollte.

Anfangs hatten Lisa und Peter geglaubt, sie könnten zusammen mit Bernd in einem der Dörfer unterkommen. Aber sie gaben diese Hoffnung bald auf. Im gleichen Maße, wie diese Möglichkeit sich verringerte, gewann in ihren Vorstellungen ihr ursprüngliches Ziel wieder an Kraft: Truland, das Reich der Freiheit. Sie hatten durch die zwei Seereisen einen erheblichen Teil des Weges dorthin zurück gelegt. Nun, da der Seeweg ihnen verschlossen war, machten sie sich mit dem Gedanken vertraut, die Reise auf dem Landweg fortzusetzen. Truland, so meinten sie, könne doch nicht mehr allzu weit entfernt sein.

Wenn sie allerdings in einem Dorf danach fragten, erhielten sie nur unbestimmte Antworten. Ja, Truland, das müsste irgendwo hinter den Bergen liegen. Sie sollten immer nur der großen Straße folgen, dann würden sie irgend wann schon dorthin kommen. Eine genauere Auskunft konnten die drei Flüchtlinge nicht bekommen, so oft sie auch fragten.

Und so zogen sie weiter.

Der Morgennebel lag über dem Feld, das vor ihnen lag.

„Pst“, flüsterte Lisa und neigte sich zu Bernie, „sieh mal dort, die Tiere.“ Sie zeigte hinaus auf das Feld, wo sich dunkle Schatten im Nebel bewegten. Sie krochen auf dem Boden herum und waren damit beschäftigt, Früchte auszugraben. Die Schemen war nur verschwommen im Dunst zu erkennen. Dann aber riss der Nebel einen Augenblick lang auf und enthüllte die Gestalten.

Es waren keine Tiere.

Peter und Lisa erkannten eine Gruppe von Kindern unterschiedlichen Alters, die auf allen Vieren kriechend in der feuchten Erde wühlten und Rüben hervor zogen. Wenn sie sie ausgegraben hatten, steckten sie sie in ihre Tragebeutel. Einige wenige gaben sie ihrem Anführer, einem langen, hageren Jugendlichen. Dieser wischte die Früchte eilig und ohne große Sorgfalt ab, zerteilte sie mit einem Messer und verteilte sie an die Kinder, die ihm die Stücke aus der Hand rissen und sofort hinunter schlangen. Sie bissen große Brocken heraus, kaum kauend, unablässig schluckend und immer neue Stücke in den Mund stopfend, als fürchteten sie, jedes könnte das letzte sein. Während sie aßen, hörten sie nicht auf, den Erdboden mit den Händen zu durchwühlen. Ihre Finger waren schwarz und dreckverklebt. Sie rutschten auf den Knien von einer Stelle zur anderen, ohne einmal aufzusehen, mit tief hinab gebeugten Köpfen. Ihre Bewegungen waren hastig, von Unruhe gezeichnet.

Dann brach ein scharfer Knall die morgendliche Stille, gefolgt von einem zweiten. Wie ein Schwarm aufgeschreckter Krähen stoben die Nebelgestalten auseinander. Kopflos rannten sie für Sekunden umher, dann stürzten sie in eine gemeinsame Fluchtrichtung.

Ihre Gestalten wurden deutlicher erkennbar, als sie über das Feld auf Peter, Lisa und Bernie zu gelaufen kamen. Der Knall, der sie aufgeschreckt hatte, war von der anderen Seite des Feldes her ertönt, die noch im Nebel verborgen lag. Von daher näherte sich jetzt lautes Rufen. Wieder schnitt ein scharfer Knall durch die Stille. Die Nebelgestalten rannten noch schneller.

Sie liefen nicht direkt auf die drei Beobachter zu, sondern auf einen Punkt etwa zehn Meter von diesen entfernt. Dort war der Wald am dichtesten, und das hatten die Fliehenden instinktsicher erkannt.

Lisa und Peter verhielten sich still. Sie sahen, wie die Kinder nicht weit von ihnen in den Waldrand eindrangen. Dort befand sich dichtes, undurchdringliches Unterholz, das jedoch nur auf eine kleine Fläche begrenzt war. Dahinter bot der Wald auf große Entfernung hin keinerlei Schutz. Im Licht des frühen Tages konnte man weit zwischen den Bäumen hindurch sehen.

Die fliehenden Kinder zögerten einen Moment, dann brachen sie in das Unterholz und verschwanden darin.

Die drei Flüchtlinge hatten sich am Fuß eines mächtigen Baumes nieder gehockt. Sie blickten auf das Feld hinaus, wo jetzt eine einzelne Gestalt aus dem Nebel auftauchte. Es war ein massiger Mann mit grobem Gesicht und schweren Bewegungen. In den Händen hielt er eine Flinte. Er blieb stehen und sah sich suchend um.

Peter tippte Lisa auf die Schulter und bedeutete ihr, zu bleiben, wo sie war. Dann erhob er sich und trat aus dem Schutz des Waldes hervor. Der Mann zuckte zusammen und hob das Gewehr. Dann erkannte er, dass Peter wohl nicht zu den Feldräubern gehörte, und ließ die Waffe wieder sinken. Er blickte auf Peters Uniform und musterte ihn misstrauisch.

„Was machen Sie hier?“ fragte er argwöhnisch.

„Unsere Gruppe hat dort hinten die Nacht über gerastet“, erwiderte Peter unbestimmt und deutete auf den Wald hinter sich.

Wieder schien der Mann unmerklich zusammenzuzucken. Der Hinweis auf die Gruppe verwirrte ihn. Unruhig versuchte er, den Waldrand mit den Augen zu durchdringen. Dann raffte er sich zu einer weiteren Frage auf:

„Haben Sie hier gerade eine Bande von verlausten Kindern gesehen?“

‘Verlaust’? dachte Peter, während er ohne Zögern nickte. „Doch“, antwortete er und zeigte am Waldrand entlang, „ich glaube schon, dass ich die gesehen habe, die Sie meinen. Sie sind wie vom Teufel gejagt in die Richtung dort gerannt. Können noch nicht sehr weit gekommen sein.“

„Aha. So“, brummte der Mann unschlüssig. Wieder musterte er Peter mit einem misstrauischen Blick, als überlegte er, ob er ihm glauben sollte. Doch angesichts der Uniform und des Hinweises auf andere Uniformierte im Wald wagte er nicht, seine Zweifel laut werden zu lassen. Er trat von einem Bein auf das andere, dann erklärte er:

„Na, dann will ich ihnen mal nach. Wenn Sie denen begegnen sollten, seien sie vorsichtig. Die haben es faustdick hinter den Ohren. Sind ganz gefährliche Herumtreiber.“

Peter nickte unbestimmt. Der Mann setzte sich wieder in Bewegung und ging auf den Wald zu in die Richtung, die Peter ihm gewiesen hatte. Dabei entfernte er sich mit jedem Schritt vom Versteck der Kinder. Nach kurzer Zeit war seine Gestalt zwischen den Bäumen in der Ferne verschwunden.

Peter kehrte zurück zu Lisa und Bernie. Gemeinsam gingen sie auf das Unterholzversteck zu. Sie hatten es noch nicht erreicht, als sich vor ihnen die Büsche teilten und die Feldräuber ihnen entgegen traten. Es waren sechs Jungen und Mädchen.

Die beiden Gruppen sahen sich zurückhaltend an. Der lange Anführer der Kinder, der vielleicht zwei Jahre jünger als Peter war, trat vor seine Bande und sagte langsam:

„Gut, dass du den Bauern in die falsche Richtung geschickt hast.“

Peter verzog das Gesicht:

„Ich bin kein Freund von Leuten wie ihm. Ich nehme an, ihr seid auch Flüchtlinge?“

Der Lange nickte. Dann meinte er:

„Es ist trotzdem besser, wir sehen zu, dass wir hier wegkommen. Wer weiß, wann der Kerl es sich anders überlegt und wieder umkehrt.“ Er zögerte einen Moment, dann fuhr er fort: „Wollen wir zusammen von hier verschwinden?“

„Natürlich“, erwiderte Peter und sah auf seine Begleiter. Lisa nickte ihm zu. „Wir sitzen schließlich in einem Boot. Hier, das ist Lisa, und das ist unser kleiner Freund Bernd. Er ist auch erst vor kurzem zu uns gestoßen. Ich heiße Peter.“

Der Lange nickte Lisa grüßend zu und trat zurück zwischen seine jüngeren Begleiter, neben ein halbwüchsiges Andermädchen mit einem wirren Haarschopf über einem energischen Gesicht.

„Das ist Iris“, erklärte der Anführer. Seine Hand beschrieb einen Bogen über die übrigen Mitglieder seiner Gruppe. Er zeigte auf einen vielleicht vierzehn- oder fünfzehnjährigen Jungen mit blassem Gesicht, der sich unauffällig im Hintergrund hielt: „Das ist unser Peter“.

Seine Hand ging weiter. „Der Dicke da heißt Frank.“ Der untersetzte, rundliche Anderjunge lächelte freundlich, als er vorgestellt wurde.

„Und das sind Britte und Tommie, ihr Bruder.“ Das waren die beiden Kleinsten der Gruppe, ein Mädchen in Bernies Alter und ein Junge von höchstens fünf Jahren, dem noch der Kleinkinderspeck auf den Knochen lag. Peter sah ihn erstaunt an und fragte sich, wie er und seine Schwester in diese Gruppe geraten sein mochten.

„Ich selber heiße Konstantin“, schloss der Lange die Vorstellung. Für einen Augenblick breitete sich Schweigen zwischen den beiden Gruppen aus.

„Das geht aber nicht“, sagte Bernie plötzlich. Alle starrten ihn an, was ihn aber nicht irritierte.

„Was geht nicht?“ fragte Lisa.

Bernie zeigte auf den blassen Jungen im Hintergrund:

„Dass der da auch Peter heißt. Wir haben doch schon einen Peter. Da weiß ja niemand mehr, wer gemeint ist.“

Konstantin sah ihn grinsend an. Es war das erste Mal, dass sein fast asketisch ernstes Gesicht einen freundlichen Ausdruck annahm:

„Was machen wir denn da?“ Er überlegte kurz, dann zog er den widerstrebenden Halbwüchsigen nach vorn und klopfte ihm auf die Schulter: „Dann wirst du wohl in Zukunft Peter der Zweite sein müssen. Damit der Kleine da nicht durcheinander kommt.“ Er wandte sich wieder zu Bernie:

„Na, bist du nun zufrieden?“

Bernie nickte. Er war sprachlos vor Begeisterung über den genialen Einfall.

Peter mischte sich ein:

„Ich glaube, wir sollten sehen, dass wir verschwinden.“

Der Anführer der Kinderbande wurde wieder ernst. Er stimmte Peter zu, und die beiden Gruppen marschierten gemeinsam am Waldrand entlang, entgegengesetzt zu der Richtung, in die der bewaffnete Bauer geschickt worden war.

Sie marschierten mehrere Stunden, ehe sie eine erste Rast einlegten. Während dieser Zeit machten sie sich miteinander bekannt, und die anfängliche Zurückhaltung war bald verflogen. Insbesondere Peter und Konstantin fanden schnell Kontakt zueinander. Einig in ihrem Misstrauen allen Älteren gegenüber fanden sie hier einen ebenbürtigen Partner, der sich in der gleichen Situation befand. Der lange Anführer der Kinderbande war 16 Jahre alt, also zwei Jahre jünger als Peter, doch fiel dieser Altersunterschied bei ihnen nicht so sehr ins Gewicht, da sie beide in gleicher Weise die Verantwortung für ihre Begleiter übernommen hatten.

Ein Jahr jünger als Konstantin, doch erheblich schmächtiger gebaut war der zweite Peter. Sein verschüchtertes Gesicht blieb vorerst verschlossen und zeigte keine Regung. Konstantin erklärte Peter, dass das bei seinem Namensvetter der Normalzustand wäre.

Dagegen war das 15jährige Andermädchen Iris ein Energiebündel. Sie trug die gleiche Kleidung wie ein Junge und führte sich auch wie ein solcher auf. Ihre Bewegungen waren energisch, ihre Stimme laut. Sie kannte keine Hemmungen den Neuankömmlingen gegenüber.

Der rundliche, gutmütige Frank, 13 Jahre alt, ließ sich bereitwillig von Lisa bemuttern, die als Andere vor allem zu Iris und ihm schnell Zugang fand. Ins Fettnäpfchen trat sie am Anfang dagegen bei der siebenjährigen Britte, als sie scherzhaft zu Peter sagte, dass sie nun wieder ein kleines Mädchen bei sich hätten. Sie dachte dabei an das kleine Mädchen, das sie noch vor Wiechenstadt in der Obhut eines Arztes hatten zurück lassen müssen.Britte jedoch protestierte und erklärte beleidigt, dass sie die Große wäre und immerhin schon lesen und schreiben könnte. Der Kleine wäre jemand anders. Dabei zeigte sie auf ihren Bruder, der sich hinter ihr verkrochen hatte.

Keiner aus der Gruppe wusste genau zu sagen, wie alt Thomas war, doch konnte er kaum über fünf Jahre sein. Er hatte sein Misstrauen gegen die Fremden noch nicht verloren und starrte sie mürrisch aus seinem runden, noch ungeformten Gesicht an.

Bernie schließlich fühlte sich unter den anderen Kindern sofort wohl. Vor allem, weil hier auch Kleinere als er waren. Als erstes stellte er Britte gegenüber fest, dass er schon acht war, also ein Jahr älter als sie. „Ich bin fast acht“, protestierte sie und stellte klar, dass sie sich von ihm nicht herum kommandieren lassen wollte.

Als die Kinder erfuhren, dass Lisa und Peter verheiratet waren, änderte sich ihr Verhältnis zu den Beiden. Hatten sie sie bisher trotz des Altersunterschiedes als ihresgleichen angenommen, so sahen sie von da an in ihnen Erwachsene. Aber Erwachsene, denen sie kein Misstrauen entgegen brachten. Auch Konstantin erkannte stillschweigend Peter als oberste Autorität an. Es schien, als wäre er erleichtert, einen Teil der Bürde der Verantwortung von seinen Schultern genommen zu wissen.

Es wurde nicht lange darüber gesprochen, aber beide Gruppen waren sich darin einig, dass sie auch in Zukunft gemeinsam weiter ziehen wollten. Ein einziges Mal hatte Peter daran gedacht, dass die Kinder und Lisa eigentlich einen Hemmschuh darstellten, aber er hatte diesen Gedanken schnell von sich gewiesen. Lisa lebte in der Begegnung mit den kleinen Flüchtlingen auf, halfen sie ihr doch, die immer noch quälenden Gedanken an Ralf und seine kleine Schwester zu unterdrücken. Noch immer fühlte sie sich schuldig, weil sie beide - Ralf bei der Überquerung der Grenze und seine Schwester bei dem Arzt - zurückgelassen hatten.

Die anderen Kinder schienen, trotz aller Feindseligkeit den Erwachsenen im Allgemeinen gegenüber, nur darauf gewartet zu haben, dass jemand kam, der ihnen sagte, was sie tun und was sie nicht tun sollten. Jemand, von dem sie das auch annehmen konnten. Lisa wurde bald die Vertraute eines jeden von ihnen, während Peter der mit Respekt betrachtete Anführer war, der sogar noch über ihrem alten Bandenchef Konstantin stand. Die Kampf-gruppenuniform, die Peter trug, flößte ihnen Respekt ein und wurde mit Unbehagen betrachtet, obwohl er ihnen mehrfach erklärte, was es damit auf sich hatte.

Die Kinder waren bisher ziel- und planlos durch das Land gezogen. Sie kamen alle aus verschiedenen Teilen des Landes und waren durch die Wirren des Krieges hierher verschlagen worden. Als sie hörten, dass Peter und Lisa die Absicht hatten, nach Truland zu ziehen, schlossen sie sich ihnen begeistert an.

Eines Tages erfuhren die Flüchtlinge in einem Dorf, dass sie sich der alten Heerstraße näherten, die quer durch den Kontinent verlief und nach Truland führen sollte. Begeisterung ergriff sie, und sie beschleunigten ihren Marsch. Sie kamen auf einen steinigen Feldweg, der sie den Angaben der Dorfbewohner nach direkt zur Heerstraße bringen sollte.

Vorher hatten sie jedoch ein kleines Wäldchen zu durchqueren, das ihnen die Sicht auf das dahinter liegende Land versperrte.

Die immer aufmerksame Iris war die erste, die das Geräusch wahr nahm. Noch war es kaum zu hören, ganz schwach nur kam es aus der Ferne irgendwo hinter dem Wäldchen. Doch je weiter sie vordrangen, desto deutlicher wurde es. Ein dumpfes, gleichmäßiges Dröhnen, das die Luft vibrieren ließ, und daneben ein eintöniges Stampfen, unter dem der Boden zu erzittern schien.

Sie durchquerten das Wäldchen. Als sie zwischen den letzten Bäumen hervor traten, sahen sie die Staubwolke. Sie erstreckte sich vor ihnen über die ganze Breite des Blickfeldes, von Horizont zu Horizont. Dem gewundenen Lauf der Straße folgend stand sie unbeweglich in der Luft.

Die Straße selber war noch nicht zu sehen. Sie verlief vor ihren Blicken verborgen in einer langgezogenen Senke. Neugierig gingen die Kinder näher heran. Ihr ständiger Begleiter, die Vorsicht, verließ sie auch jetzt nicht. Sie blieben in einer Buschgruppe am Rande des Feldweges stehen. Lediglich Peter und Konstantin gingen weiter.

Nach wenigen Minuten waren sie soweit vorgedrungen, dass sie die Senke einsehen konnten. Am Fuße eines flachen Abhanges lag vor ihnen die alte Heerstraße.

Sie sahen die Straße und sie sahen die Soldaten auf ihr.

Unwillkürlich warfen sich die beiden Jungen auf den Boden. Die Furcht vor Uniformen war fest in ihnen verwurzelt. Aber dann erblickten sie zwischen den Kolonnen der Soldaten vereinzelt Gruppen von zivilen Reisenden, die keine Furcht vor den Soldaten zeigten und von diesen auch nicht bedroht wurden.

Peter und Konstantin standen wieder auf und winkten die übrigen Mitglieder ihrer kleinen Reisegruppe heran. Gemeinsam stiegen sie in die Senke hinab und lagerten sich am Straßenrand nieder.

Und so sahen sie den Zug der Soldaten an sich vorbei ziehen. Von fern kamen die Kolonnen heran marschiert, eine folgte auf die andere, die Reihen geschlossen zogen sie an den Kindern vorbei und verschwanden wieder in der Ferne. Daneben fuhren aneinander gereiht wie auf einer Kette Lastwagen an den Marschierenden vorbei. In schneller Fahrt donnernd passierten sie Beobachter am Straßenrand.

Die Kinder starrten mit weit aufgerissenen Augen auf das Bild vor sich. Sie sahen graue Gesichter, junge Gesichter, erschöpfte und faltige Gesichter, bärtige Gesichter, helle Gesichter und dunkle Gesichter, Gesichter voller Narben und glatte Gesichter - und über jedem Antlitz der gleiche graue Helm, und unter jedem Gesicht die gleiche erdbraune Uniform.

Stundenlang zogen die Marschformationen an den rastenden Kindern vorbei. Die Soldaten marschierten in geordneten Gruppen, zackig und schneidig im Gleichklang der Bewegungen. Manche Gruppen sangen Kampflieder, mit erwartungsvollem Ausdruck auf den Gesichtern, die Waffen unternehmungslustig geschultert. Scherzworte flogen hin und her, auch zu den Menschen am Straßenrand. Die Stimmen der Soldaten waren heiser und erregt. Es war eine Armee auf dem Vormarsch.

Die Kinder waren nicht die einzigen, die hier saßen. Aus dem nahen Dorf waren die Bewohner gekommen, um das Bild zu sehen, und viele Reisende auf der alten Heerstraße hatten sich ebenfalls am Rand nieder gelagert, um den Zug der Soldaten passieren zu lassen.

Erst allmählich wurden die Reihen der Marschierenden lichter, lockerten sich die Formationen. Dann rissen Lücken in dem Zug auf und kündigten das Ende des Heereszuges an. Am Schluss fanden sich auch abweichende Uniformen, einzeln dahin trottende Soldaten und eine ganze Reihe von Zivilisten, die die Armee im Tross begleiteten. Die Soldaten am Ende des Zuges hatten es offenbar nicht so eilig. Sie gingen in ungeordneten Haufen, jeder für sich mit ruhigem Schritt. Manche von diesen ließen sich auch am Straßenrand nieder, um eine Pause einzulegen.

Später kam inmitten dieser Nachzügler ein kleiner Trupp von fremdländisch Uniformierten heran, der unweit der Kinder Halt machte und sich im Gras nieder hockte. Einige holten ihre Kochgeschirre und Feldflaschen heraus, andere entzündeten Zigaretten, und einer von ihnen begann auf einer Mundharmonika zu spielen. Sie trugen olivgrüne Uniformen, wie Lisa und Peter sie aus dem Reich kannten.

Einer der Soldaten, ein bärtiger Riese, stand auf und begann, nach den Tönen der Mundharmonika herum zu hoppsen. Die kleineren Kinder aus der Gruppe gingen näher heran, um ihm zuzusehen. Der Bärtige tanzte auf einem Bein vor ihnen hin und her. Britte kicherte verstohlen und sah den Mann bewundernd an. Auch Frank lachte, sein rundes Gesicht zeigte arglose Freude.

Der Soldat sah seine kleinen Zuschauer Beifall heischend an. Sein Blick fiel auf Frank.

„He, du Anderlauser“, schrie er grinsend, ohne mit dem Tanzen aufzuhören, „komm her, ich hab was für dich.“ Er griff in die Tasche und hielt Frank die verschlossene Faust entgegen.

Hatten schon die Uniformen Peter und Lisa in Unruhe versetzt, so wurde diese durch die Worte des Soldaten noch gesteigert. Lisa wollte Frank noch zurück rufen, doch der Junge war schon auf den Soldaten zu gegangen und sah neugierig auf die geballte Faust. Der Bärtige öffnete sie langsam, Finger für Finger. Sie war leer. Der Junge sah den Mann fragend an. Der lachte schallend über sein enttäuschtes Gesicht. Dann, ohne jede Vorwarnung, packte er Frank am Arm und riss ihn zu sich heran.

„So, du kommst jetzt mit uns“, schnaufte der Bärtige, „als unser Maskottchen.“

Der Junge stand steif. Das Lachen war auf seinem Gesicht eingefroren, als glaubte er noch, der Mann machte nur einen Spaß mit ihm.

„Bitte lassen Sie mich los“, sagte er schließlich schüchtern.

„Ich denke nicht daran“, knurrte sein Peiniger grimmig.

Als Frank merkte, dass der Mann nicht scherzte, fing er an, sich zu wehren. Mit angstvollem Gesicht versuchte er sich dem eisernen Griff zu entziehen.

„He, bist du wohl ruhig!“ fauchte der Soldat ihn an. Dann hob er die Hand und schlug unvermittelt und unbarmherzig zu. Der Junge fiel stolpernd zu Boden, die freie Hand abwehrend vor das Gesicht haltend.

Mit entsetzten Schreien liefen die anderen Kinder von den Soldaten weg. Auch die Älteren, die an ihrem Lagerplatz neben der Straße geblieben waren, standen auf. Sie waren unschlüssig, was sie tun sollten. Die Reisenden, die vorbei kamen, und die Leute aus dem Dorf, die in Sichtweite lagerten, taten, als hätten sie von dem Vorfall nichts bemerkt. Die Soldaten sahen zu den Kindern herüber.

„Ihr Mädchen, kommt mal her!“ brüllten die Uniformierten und starrten auf Lisa und Iris. Die Beiden rührten sich nicht. Da standen drei der Soldaten auf und kamen auf die Kinder zu.

Peter packte Lisa am Arm und zog sie hinter sich her. Die anderen folgten. Die Soldaten riefen ihnen drohend nach. In wilder Flucht rannten die Kinder von der Straße weg, den flachen Anstieg hinauf und auf das nahe Wäldchen zu, durch das sie einige Stunden zuvor gekommen waren. Die Soldaten machten keine Anstalten, die Senke zu verlassen und sie zu verfolgen.

Am Waldrand warfen sich die Kinder zu Boden und starrten zurück. Entsetzt sahen sie einander an, denn Frank befand sich noch bei den Soldaten.

Diese hatten ihren Rastplatz vor einem vom Wäldchen her nicht einzusehenden steilen Stück der Böschung, die an dieser Stelle die Senke begrenzte. Der Rand dieses kleinen Abhanges war von oben her abgebrochen und der lose Sandboden lag frei.

Frank kniete noch immer inmitten der Soldaten auf dem Boden, gefangen im Griff des Bärtigen. Die Drei, die zum Lagerplatz der Kinder hinüber gegangen waren, kamen zurück und hockten sich wieder nieder. Der Soldat mit der Mundharmonika setzte sein unterbrochenes Spiel fort.

Der Bärtige sah unwirsch auf Frank herab; dann gab er ihn mit einer schnellen Bewegung frei.

„Na los. Lauf schon, ehe ich es mir anders überlege. Sieh zu, dass du weg kommst.“

Überstürzt sprang Frank auf die Füße. Der Kreis der grinsenden Soldaten um ihn herum war dicht geschlossen, nur zum Abhang hin war eine Lücke frei gelassen. Schnell rannte er hindurch und begann, in fieberhafter Eile den Hang hinauf zu klettern.

„Wie lange brauchst du noch?“ schrie ihm der Bärtige nach.

Der weiche Sandboden gab unter den Füßen des Jungen nach. Er rutschte aus und fiel bis zum Fuß des Abhanges zurück. Ein wieherndes Gelächter erhob sich unter den Soldaten. Der Junge schluchzte verzweifelt auf und begann erneut, die Sandwand empor zu klettern.

„Meine Geduld ist bald zu Ende“, rief der bärtige Soldat ihm nach und nahm das Gewehr von der Schulter. Er legte an und zielte spielerisch auf den Jungen, der sich mit einem letzten Aufbäumen über den Rand der Böschung warf. Ohne inne zu halten sprang er auf und rannte auf das nahe Wäldchen zu. Hinter ihm verklang das Lachen der Soldaten.

Nach diesem Erlebnis verließen die Kinder wieder die Heerstraße. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie von Frank erfuhren, was mit ihm geschehen war, denn der verstörte Junge war zuerst nicht fähig zu sprechen. Es verging die Nacht, ehe er wieder das erste Wort über die Lippen brachte. Und noch viel länger dauerte es, bis die sorglose Zufriedenheit wieder zurückkehrte, die die anderen von ihm gewohnt waren.

In den Zeiten des Krieges

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