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Christstollen-Jim

Lasst uns froh und munter sein, und uns recht von Herzen freu'n!

Kinderlied, gern zum Besten gegeben während der Vorweihnachtszeit

23. Dezember

Wikipedia.de sagt: Weihnachten, auch (heiliges) Christfest, Heilige(r) Christ oder Weihnacht genannt, ist das Fest der Geburt Jesu Christi.

Das Leben fragt: Was kann man schon erwarten von einem Fest, welches als zentrale Symbol­figur einen älteren, stark übergewichtigen, unrasierten Mann in einem knall­rot-tuntigen Outfit mit weißer Pelzbordüre verherrlicht, der permanent mit kleinen Kindern auf dem Schoss herumsitzt?

Auf jeden Fall nichts Gutes.

„Nora.“

„Hm.“

„Soll ich dir ein wenig Zeit geben? Brauchst du ein paar Stunden für dich?“

Jim schaute mich erwartungsvoll von der Seite an. Seit sechs Jahren teilten wir uns eine Wohnung, gemeinsame Vor­stel­lungen, Lachen, Tränen, Freunde. Fünfeinhalb Jahren davon trafen wir uns auch mehr oder weniger regelmäßig in der Mitte des Betts. Was genau zwischen uns passiert war, dass erst der Sex aufhörte und dann die Liebe ging, kann ich gar nicht sagen.

Jim schaute mich noch immer an. Sein Atmen wurde lauter und zerriss die Stille des Wintertages, der draußen vor der Windschutzscheibe tanzte. Wollte ich das? Brauchte ich Zeit für mich? Ich brauch­te. Und ich wollte. Aber ich wollte nicht nur ein paar Stunden.

Ich wollte mehr. Klassisches Kleine-Schwester-Syndrom. Kleine Schwestern geben sich nie mit dem zufrieden, was man ihnen anbietet, sondern wollen gleich mehr als das. Ich wollte auch mehr. Nur was? Nun, vielleicht sollte ich mit den kleinen Schritten beginnen und mal formulieren, was ich nicht wollte. Ich wollte diesen Mann nie wieder sehen, nie wieder mit ihm Tisch und Bett und Stuhl und Wohnung teilen.

„Jim, ich denke, ich brauche mehr als ein paar Stunden“, hörte ich mich sagen und Tränen rannen über mein Gesicht. Wir wussten beide, was das hieß.

Aus meinem Mund kamen Worte wie: ,,Aber es liegt nicht an dir, es liegt an mir" und ich musste Jim nicht anschauen, um zu wissen, dass er wusste, dass das gelogen war.

„Wenn du mir jetzt an den Kopf wirfst, dass wir auch Freunde bleiben können, dann schreie ich und schmeiße mich vors Auto.“ Jim starrte geradeaus, aber ich sah einen letzten Funken Humor bei ihm aufflammen. Galgenhumor?

Ich hatte Jim schon fluchen gehört, er drohte mir auch manchmal. Dass er mich verlässt zum Beispiel – oder meinen Anteil vom von mir über alles geliebten Rhabarberkuchen isst, wenn ich ihm nicht sofort die Fernbedienung gäbe. In diesem Moment jedoch wusste ich, dass er es ernst meinte. Ich schluckte also den Satz, den ich auf den Lippen trug, wieder die Kehle runter und starrte auf die Schneeflocken, die sich nach ihrem lustigen Tanz auf der Wind­schut­zscheibe niederließen und dort zerflossen.

„Schau nur, wie schön!“, flüsterte ich und ich hoffte fast, dass er mich nicht gehört hatte. Jim konnte allerdings zuhören, wenn es darauf ankam und so drehte in Zeitlupengeschwindigkeit seinen Kopf weg von mir und Richtung Wind­schutz­scheibe. Für einen kurzen Moment verband uns der Anblick dieses kleinen Glücks und wir waren wieder eins. Jedoch war dieser Moment so schnell vorbei, wie ein Wimpernschlag lang ist, und dau­erte doch so lange, wie ein Schmetterling braucht, ehe er sich auf einer Blüte niederlässt.

„Mal wieder typisch du. Typisch SchmiDT. Wir trennen uns und du, du zeigst mir die Vergänglichkeit des Lebens, indem du mich auf eine Schneeflocke hinweist. Eine bescheuerte Schneeflocke.“ Er stieg aus dem Auto aus, knallte die Tür hinter sich zu und stapfte die Stufen zum Eingang unseres Hotels hoch. Dabei machte er diese bescheuerte Geste, die man bei Menschen sieht, die durch den Regen eilen. Er zog seinen Kopf zwischen die Schultern, als ob er dadurch durch den Regen (in diesem Fall Schnee) hindurch tauchen könnte. Leider konnte er nicht. Er war klitschnass, als er im Hotelzimmer ankam. Langsam und traurig schleppte ich mich hinter­her. Stumm tauschten wir Blicke und packten unsere Taschen. All die Wäsche, die ich am Tag zuvor in diesem kleinen Drecksloch, welches andere Men­schen Hotel nannten, irgendwo im Ruhrgebiet, auf dem Fuß­boden verteilt hatte. All die Geschenke, die für seine Familie gedacht waren. All die Hoffnung und die Träume, die auf jede Reise mit durf­ten, wurden wieder zusammengepackt und in den Tiefen des Koffers verstaut.

Heulend fuhr mich Jim zum Bahnhof. Dass er durch den Tränenschleier überhaupt was sah, war ein kleines Wunder und imponierte mir in diesem kurzen Augenblick. So sehr hatte er nicht mal auf der Beerdigung seines Vaters Jahre zuvor geweint.

Die Schneeflocken fingen mit ihrem weißkalten Spiel wieder an und ich klammerte mich am Türgriff des Autos fest. Ich hatte Angst.

Angst davor, dass Jim zerbrechen würde.

Angst davor, dass er den Wagen nicht mehr unter Kontrolle halten könne.

Angst vor dem, was kommen würde.

Ich meine, morgen war Weihnachten – was ist nur mit mir los?

Jim liefen die Tränen über das Gesicht, aber er brachte kein Wort heraus. Ich starrte stumm nach vorn. Schweigen war immerhin besser als Beschuldigungen oder Schimpftiraden, denn ich musste nichts erwidern. Trotzdem schmerzte es, und ich konnte mich nicht entscheiden, ob diese Stille mehr schmerzte, als jede An­klage es geschafft hätte. Sein Schweigen ging mir zwar tief unter die Haut, es trieb mir aber keinen Stachel ins Herz, so wie es einige seiner Vorwür­fe in vorhergehenden Aus­ein­an­der­set­zungen getan hatten.

Am Bahnhof gab er mir, weiterhin wortlos, meinen Koffer und drehte sich schnell um. Mit quiet­schenden Reifen drehte er den Wagen und fuhr davon. Aus meinem Blickfeld, aus meinem Leben.

Im Film setzt jetzt Musik ein, ein Streichorchester spielt auf, und die tragische Heldin sitzt auf ihrem Koffer und von irgendwo bekommt sie einen Kaffee gereicht, lächelnd versteht sich, und eine Taube gurrt zu ihren Füßen und sie weiß, alles wird gut.

Und ich? Keine Musik, kein Kaffee; kein Streichorchester, keine Tauben.

Ich setzte mich erst einmal auf meinen Koffer, starrte in das Schneetreiben und ließ die Flocken auf meiner Haut tanzen. Sie zerplatzen auf meinen Locken, auf meinen Wimpern, auf meiner Stirn. Sie drangen in meine Seele und ich atmete aus und ein, ein und aus, befreiend und beklem­mend zugleich. Eine gefühlte Ewigkeit saß ich dort in der Kälte auf dem Bahnhofsvorplatz – und atmete – und lebte.

Irgendwann schaffte ich es, mich aufzuraffen, um mir meinen Kaffee selber zu holen – das Leben ist offensichtlich kein Spielfilm – suchte meine Zugverbindung nach Berlin heraus und begab mich zum Bahnsteig. Stumm und starr haftete mein Blick auf der gegenüberliegenden Wand. Die Werbung für Stützstrümpfe kann ich nach der langen Wartezeit noch heute von meinem inneren Auge abrufen und die Te­le­fon­nummer hatte ich für den Ernstfall natürlich eben­falls gespeichert. Man weiß ja nie, wann man das noch mal braucht. Gibt es etwas Alberneres, als Werbung für Stützstrümpfe?

Erst als ich im Zug saß, flennte ich drauflos. Ich versuchte mich abzulenken und in die Zimmer der vor­bei­rau­schenden Wohnungen zu schielen. Leider gewann der Zug an Fahrt und alles, was ich wahr­nahm, waren die beleuchteten Balkone. Hin und wieder gewann ein Detail meine Aufmerk­samkeit, ein Schlitten auf dem Gehweg, von behandschuhter Kinderhand geführt. Eine Frau, die das Geschenk ihres Liebsten auspackt. Ein studentischer Weih­nachts­mann, der sich auf den Weg zur Bescherung macht. Eigentlich war mir all das egal, denn ich fühlte mich leer und grausam. Dieses Weihnachtsgedusel kotzte mich an, all die fröhlichen Gesichter, die Erwartun­gen, die Wünsche, die eh nicht erfüllt werden würden. All meine Vorurteile über Weihnachten zogen Hand in Hand mit meiner Beziehung zu Jim an mir vorüber.

Ich dachte an all die schönen Momente: wie wir uns kennenlernten, tanzend auf einem Volksfest, wir tanzten den Schmuseblues und uns war der Takt egal, Hauptsache Wange an Wange. Ich dachte daran, wie attraktiv ich ihn fand, einige Jahre älter und im Leben stehend, ich war am Anfang meiner be­ruf­lichen Laufbahn und Jim schon mittendrin. Sein Humor steckte an und wir haben Abende lachend auf dem Boden verbracht. Ich mochte diese keckernden, manch­mal fast schadenfrohen Laute, die er von sich gab und mit denen er oft genug andere Menschen zum Mitlachen animierte. Im Laufe der Jahre merkte ich aber, dass sein Lachen oft leider nur über seine Unsicher­heit hinweg täuschte.

Mir kamen unsere gemeinsamen Urlaube und die Leichtigkeit, mit der wir die Tage verbrachten, in den Sinn. Ich dachte an die Selbstsicherheit, die von ihm ausging, wenn er keinen Druck verspürte und einfach nur in den Tag leben durfte. An seine Großzügigkeit, wenn er keinen Erwar­tungen aus­ge­setzt war außer der, dass er das Essen bezahlen würde.

Wenn all das so schön und leicht und herrlich war, warum brauchte ich dann Zeit für mich, auf ein­mal, nach sechs Jahren Beziehung?

All diese tollen, liebenswerten Eigenschaften versteckten sich im Alltagsgrau unterm Küchen­schrank. Ich bekam sie selten bis nie zu Gesicht und da ich mich (blöd, wie ich damals war und dabei noch dachte, das Richtige zu tun) an- und aus­schalten ließ wie die Sportschau und nie laut wurde, um Jim daran zu erinnern, dass es mich in seinem Leben gab, befasste er sich lieber mit der Fern­be­die­nung oder mit dem Joystick seiner PlayStation als mit mir.

Nach einem heftigen Start in die Beziehung waren Tage und Nächte gleich, es gab kein Hell und kein Dunkel, kein Kalt und kein Heiß. In der gemeinsam eingerichteten lauwarmen Blase fühlten wir uns gut. Aber eben nie mehr als das. Die Leidenschaft ist nie mit eingezogen und so litt ich da­run­ter, dass mir seine Liebe nicht unter die Haut ging. Trotz all der der Wärme und Sicherheit, be­rühr­ten seine Worte meine Seele nicht und ich hatte die Gewissheit, dass der Zeit­punkt gekommen war, jemand zu finden, der mich tief im Inneren berührte.

Ich fand mich zu jung für Heirat und Kinder. Vor allem aber fand ich mich zu jung für ein emotional unerfülltes Leben. Man munkelt, dass bei den meisten Ehepaaren, die länger als 10 Jahre verheiratet sind, der Weihnachtsmann öfter kommt als sie selber. So wollte und durfte ich nicht enden. Ich hatte das Gefühl, dass ich, Nora SchmiDT mit „DT“ mit meinen 28 Jahren zu etwas Höherem berufen war, als einer lauwarmen Beziehung. Dass es mehr geben musste, als vor mich hin zu leben und darauf zu warten, dass etwas Besseres geschieht. Ich hatte das Gefühl, ich musste dieses „Besser“ leben, erleben und in meinem Leben erlauben.

Mit jedem Kilometer, den dieser Zug also zwischen das Ruhrgebiet und mich brachte, fühlte ich mich leichter und sicherer und wusste, ich betrete unbekanntes, aber neues, aufregendes Land. Ein neues Leben tat sich vor mir auf und jede Träne, die ich trotz allem weinte, verabschiedete mein altes Leben und hieß das neue willkommen.

Ich war Nora Schmidt. Ich war 28. Ich hatte die beste Zeit meines Lebens vor mir. Hoffte ich...

Schmidt happens

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