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Ende der Maskerade

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Oliver war verärgert. Ihm war sofort klar gewesen, dass Eric ihm absichtlich aus dem Weg ging. Sobald er in seine Nähe kam, verschwand er immer auf mysteriöse Weise. Bei Ester und Stephen war er nicht. Sie meinten, er wäre noch im Stall geblieben. Ohne zu zögern lief er dorthin.

Als Oliver den Stall betrat, hörte er eine verzweifelte Stimme. Er brauchte eine Weile, bis er den Sinn der Worte, die er erst fast nicht verstanden hatte, begriff. Mit wem hatte Eric geredet, fragte sich Oliver? Er schlich weiter und da sah er ihn schlafend auf einem Heuhaufen liegen. Er hatte den Arm ausgestreckt, als versuchte er jemanden zu berühren. Er träumt, schoss es Oliver durch den Kopf. Schweigend blieb er vor ihm stehen und betrachtete ihn einige Augenblicke. Dabei wanderte sein Blick vom Gesicht des Jungen über seinen Körper hinab zu den Füßen und wieder zurück. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Keulenhieb. Mit der linken Hand schlug er sich an die Stirn und murmelte:

„Was bin ich doch für ein Narr, dass ich mich so habe an der Nase herumführen lassen. Dieses Gesicht ist viel zu zart für einen Jüngling.“

Olivers Blick glitt nochmals ungläubig über die schlafende Gestalt und blieb an den nackten Füßen hängen.

„Was für schmale Fesseln... oh, dieses Weibstück!“

Er ballte die Fäuste vor Zorn. Am liebsten hätte er Eric, nein Deria, geschüttelt bis ihr Hören und Sehen verging. Bevor er seine Beherrschung verlor, stürzte er aus dem Stall. Rastlos lief er im Mondlicht auf und ab.

„In was für eine Situation hat mich dieses Frauenzimmer nur gebracht.“

Nun hatte Oliver zwei Eheversprechen, die es einzulösen galt. Wie kam er nur aus dieser vertrackten Lage heraus? Wie musste Deria ihn verabscheuen, wenn sie zu solch einer immensen Lüge fähig war. Wie konnte in den letzten zwei Jahren niemand bemerkt haben, dass dies nicht Eric war? Oliver war fassungslos. Er schalt sich wieder einen Narren, dass er selbst nicht schon beim ersten Anblick ihre Maskerade durchschaut hatte.

Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, ging er in den großen Burgsaal. Ein Teil seiner Ritter saß noch beim Abendessen. Am Haupttisch unterhielten sich sein Onkel und Roger angeregt miteinander. Oliver setzte sich zu ihnen und trank einen Becher Met in einem Zug leer. Guy schaute seinen Neffen fragend an, das war sonst nicht Olivers Art mit Alkohol umzugehen. Oliver schüttelte den Kopf und murmelte:

„Später.“

Dann trank er einen zweiten Becher. An der Unterhaltung nahm er nicht teil. Seine Gedanken verweilten bei Deria, der kleinen verlogenen, widerspenstigen und kratzbürstigen Deria. Aber gerade diese Eigenschaften faszinierten ihn. Mit ihr würde es wahrscheinlich nie langweilig werden. Sie war wie eine stolze Burg, die mit hoch erhobenem Haupte dastand und sich bis zum letzten Atemzug zur Wehr setzte, bevor sie endgültig erobert wurde. Und er würde sie erobern oder besiegen, schwor Oliver sich in Gedanken. Ihm kam das Gespräch in den Sinn, das er vor einigen Jahren mit seinem Vater an der gleichen Stelle geführt hatte. Hier im Burgsaal hatte ihm sein Vater mitgeteilt, dass er und Sir Robert beschlossen hatten, die Familien zu vereinen und dass deshalb er, Oliver, Deria heiraten sollte. Oliver war außer sich gewesen. Er wollte sich seine Braut selbst suchen, aber sein Vater hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, dass es sein ausdrücklicher Wunsch sei. Nun, dem konnte und wollte er sich nicht widersetzen. Als dann das Fieber kam und alle dahinraffte, war Oliver froh, dass ihm das Schicksal diese aufgezwungene Ehe erspart hatte. Doch nach einiger Zeit begriff er, dass er trotzdem heiraten sollte, denn die Linie der Familie Wallace musste aufrechterhalten werden. Sein Onkel Guy hatte nie geheiratet und so lag es nun in Olivers Verantwortung. Bei einem Ritterturnier zu Gunsten König Rufus’, hatte er die schöne Alicia gesehen. Da sie ihm gefallen hatte, begann er ihr den Hof zu machen und ihr Vater war überglücklich, als der junge Wallace um ihre Hand anhielt. Die Hochzeit sollte in einem Monat stattfinden und jetzt hatte er plötzlich zwei Bräute.

Guy setzte sich auf den anderen leeren Stuhl und beobachtete seinen Neffen. Er sah die tiefen Falten auf dessen Stirn sowie die verkrampften ineinander verschränkten Hände. Irgendetwas war geschehen, dass ihn tief bewegte. Oliver wurde sich der Nähe seines Onkels bewusst und sah ihn unvermittelt an:

„Ich habe eine Entscheidung zu treffen, die das Leben von vielen Menschen verändern wird, Onkel.“

„Willst du weiter in Rätseln sprechen, oder soll ich raten?“, fragte dieser neugierig.

„Es geht um Eric. Er ist kein Er sondern eine Sie. Verstehst du?“

Dabei fuhr sich Oliver fahrig durch die Haare.

Guy war für einen kurzen Augenblick sichtlich irritiert.

„Schau an! Ich hatte schon gedacht, ich hätte Halluzinationen. Sie hat sich also als Eric ausgegeben?“

„Ja.“

„Aber warum?“

„Das weiß ich nicht genau. Ich kann nur vermuten, dass sie mich auf keinen Fall heiraten will und deshalb beschlossen hat, sich als ihren Bruder auszugeben“, erklärte Oliver.

„Hat sie dir denn nichts dazu gesagt?“, wollte Guy wissen.

„Sie weiß nicht, dass ich ihre Maskerade durchschaut habe, Onkel. Ich war viel zu aufgebracht, um sie zur Rede zu stellen. Und das bin ich immer noch. Ich sitze in einer Zwickmühle. Wenn ich Alicia heirate, habe ich immer noch Deria als Mündel und trage die Verantwortung für sie.“

„Du kannst sie doch umgehend verheiraten. Dann wärst du diese Verantwortung los“, schlug Guy vor.

„Ich weiß, aber das wäre nicht im Sinne unserer Väter.“

„Aber warst du es nicht, der damals vor Wut geschäumt hat, als dir dein Vater von dieser Vereinbarung erzählte. Wolltest du nicht damals ausreißen?“, gab Guy mit leicht belustigter Stimme zu bedenken.

„Ich weiß, ich weiß. Aber dieser Teufelsbraten fasziniert mich mehr als jede andere Frau. Kannst du das verstehen?“

„Nun, Deria wurde sehr freizügig erzogen. Sie hat sich immer an ihrem Bruder orientiert und sein Verhalten nachgeahmt. Davon abgesehen, ist sie eine schöne junge Frau geworden. Wenn sie mal in ordentlichen Kleidern steckt, wird ihre Weiblichkeit sicher erst richtig zur Geltung kommen“, lachte Guy. „Was wirst du jetzt machen, mein Junge?“

„Ich reite morgen zu Howard und Alicia und werde ihnen mitteilen, dass ich die Verlobung lösen muss, da sie ungültig ist“, beschloss Oliver.

„Was meinst du, wie werden sie diese Nachricht aufnehmen?“

„Ich hoffe, so wie es tatsächlich ist. Es hat nichts mit ihnen zu tun, aber das erste Versprechen hat noch Bestand. Ich habe mich mit Alicia unter der Annahme falscher Tatsachen verlobt.“

„Soll ich dich begleiten?“, schlug Guy vor.

„Nein, ich nehme Roger mit. Behalte du bitte mein Mündel im Auge, dass es nicht wieder davon läuft.“

„Wirst du mit ihr darüber sprechen, bevor du abreist?“

„Nein, ich werde sie noch eine Weile im Glauben lassen, dass sie mich an der Nase herumführt“, erklärte er. Dabei schwang ein sardonisches Lächeln um seine Lippen.

Deria wurde am nächsten Morgen von lauten Rufen, Pferdegetrappel und anderen Geräuschen aus dem Schlaf geschreckt. Sie setzte sich auf und sah Stephen, der Olivers Streitross fertig gesattelt nach draußen führte.

„Was ist denn los?“, fragte Deria verschlafen.

Guy trat in den Stall und warf ihr einen spöttischen Blick zu.

„Guten Morgen, Eric, du scheinst jeden Platz zum Schlafen vorzuziehen, solange er nicht in deiner Kammer ist.“

Deria rappelte sich hoch, zupfte sich das Heu aus dem Haar und versuchte ihre Kleidung einigermaßen zu richten.

„Es war nicht meine Absicht, die ganze Nacht hier zu schlafen“, murmelte sie entschuldigend. „Was ist denn los?“, wollte sie wissen.

„Nun, Oliver muss für ein paar Tage fort. Er besucht seine Verlobte.“

Daraufhin vernahm Guy nur ein leichtes Schnauben als Antwort. Diese zwei waren wie Katz und Maus, doch er war überzeugt, dass sie früher oder später zu einander fanden.

„Ich zeige dir jetzt deine Räume und dann werde ich dir deine Aufgaben erläutern.“

Guy drehte sich um und setzte sich in Bewegung. Wortlos folgte ihm Deria. Konnte Oliver es gar nicht abwarten zu heiraten? Liebte er seine Braut? Nein, zu solchen Gefühlen war dieser Grobian sicher nicht fähig. Warum ärgerte es sie dann, dass er zu seiner Verlobten reiste? Sie verdrängte diese ganzen Gedanken, da sie noch keine befriedigende Antwort darauf fand. Als sie ins Freie trat, sah sie Oliver auf seinem Schimmel sitzen. Er war eine beeindruckende Erscheinung: Ganz in schwarz gekleidet, ritt er auf seinem schneeweißen Pferd, um seine Schultern lag ein schwarzer Umhang, auf dem das Wappen der Familie Wallace gestickt war: ein roter aufrechtstehender Bär.

Oliver warf Deria einen undefinierbaren Blick zu, nickte dann kurz und ritt durch das Tor davon. Mehrere Reiter folgten ihm.

In gemächlichen Trab ritten sie zur benachbarten Burg Shenderton. Oliver fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er würde Sir Howard gewaltig vor den Kopf stoßen und Alicia würde sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen. Doch nachdem er seine Wahl getroffen hatte, musste er so schnell wie möglich diese Angelegenheit klären, auch wenn es ihm noch so unangenehm war. Wie bei den meisten Grenzen zwischen den einzelnen Lehensgütern, war auch hier die Grenze zwischen den beiden Besitztümern ungefähr eine Tagesreise entfernt. Am frühen Nachmittag konnte Oliver in der Ferne bereits die Türme erkennen, am Abend waren die Zinnen zu sehen. Die Burg war in ihren Ausmaßen wesentlich kleiner als die Bärenburg.

Sie ritten über eine Zugbrücke durch das Burgtor.

Bedienstete kamen ihnen entgegen gelaufen und nahmen ihnen die Pferde ab. Als sie die Stufen zur Eingangshalle hinaufstiegen, kam Donald, der ältere Bruder Alicias herausgelaufen.

„Oliver, mein zukünftiger Schwager. Was führt dich zu uns?“

Er schlug Oliver kameradschaftlich auf die Schulter. Diese Begrüßung machte Olivers Vorhaben nicht leichter, im Gegenteil: Seine Schuldgefühle verstärkten sich. Und das habe ich alles diesem verlogenen Weibstück Deria zu verdanken, dachte er. Gemeinsam traten sie in die große Empfangshalle und Sir Howard kam auf sie zu.

„Oliver, welch angenehme Überraschung. Du kommst gerade recht zum Essen.“

Auch diese Begrüßung war sehr herzlich. Sie setzten sich an den höchsten Tisch, der nur für die Familienmitglieder und Ehrengäste vorbehalten war.

Wie ein Engel eilte Alicia herbei. Sie trug ihr hellblondes Haar in einem langen Zopf, in dem ein blaues Band eingeflochten war. Das Obergewand war in dem gleichen sanften Blau, das auch der Farbe ihrer Augen entsprach. Als sie Oliver die Hand zum Gruß reichte, schlug sie errötend die Augen nieder. Er war von ihrer Erscheinung wie bezaubert und mit Bedauern dachte er daran, dass es ihm nicht vergönnt sein würde, Alicia auch nur einen Kuss zu rauben.

Beim Essen erzählte er von den Ereignissen der letzten Tage, dem Tod Sir Roberts sowie seiner neuen Eigenschaft als Vormund für Eric. Dann wurde noch über die gegenwärtigen Vorkommnisse gesprochen.

König Rufus hatte wieder die Steuern erhöht und es wurde immer schwieriger für alle, diese zu entrichten.

„Es ist eine Schande. Selbst für uns, die wir reiche Güter haben, ist es fast unmöglich diese Beträge aufzuwenden“, schimpfte Sir Howard.

„Ja, da hast du Recht. Doch bleibt uns nichts anderes übrig, sonst würden wir wie einige andere der Rebellion bezichtigt“, pflichtete Oliver ihm bei.

„Vater, Oliver, wie könnt ihr das einfach so hinnehmen? Der König ist ein selbstgefälliger Herrscher, der unser Land ins Verderben zieht“, ereiferte sich Donald.

„Sprich nicht so!“, ermahnte ihn sein Vater.

„Euer Verhalten ist das eines feigen Waschweibs“, schoss Donald zurück. Er hatte schon ein paar Becher Wein getrunken.

Oliver erhob sich, die rechte Augenbraue vor Wut nach oben gezogen. Seinen Rittern war dies nicht verborgen geblieben und so taten sie es ihrem Lehnsherrn gleich. Bevor jedoch jemand reagieren konnte, zischte Alicia ihrem Bruder zu:

„Werde erst einmal ein richtiger Mann, bevor du wahre Männer beleidigst. Oliver, ich bitte um Entschuldigung für die Äußerungen meines Bruders.“

Sie hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt, dessen Finger bereits den Griff seines Schwertes umschlossen hatte. Oliver atmete mehrfach tief ein und aus, dann setzte er sich. Seine Gesichtszüge entspannten sich jedoch nur unmerklich.

„Alicia, ich habe mit dir und deinem Vater zu sprechen, allein!“

Er sprach es mit einer unmissverständlichen Härte aus, die beide leicht zusammen fahren ließ.

„Aber gerne doch“, erwiderte Sir Howard sich räuspernd und erhob sich. Er führte beide in einen großen Raum, in dem an den Wänden wunderschöne Teppiche mit Jagdmotiven hingen.

„Auch wenn es so aussehen mag, dass ich auf die Äußerungen deines unreifen Sohnes reagiere, versichere ich vorab, dass diese Angelegenheit damit absolut nichts zu tun hat.“

Sir Howard saß in einem breiten Stuhl mit hoher Rückenlehne und Alicia hatte auf einem kleinen Rundhocker Platz genommen.

Oliver holte tief Luft, bevor er sprach:

„Sir Howard, als ich im vergangenen Herbst um die Hand deiner bezaubernden Tochter angehalten habe, war ich im guten Glauben ein freier Mann zu sein.“ „Was soll das heißen?“, fragte Sir Howard misstrauisch.

Die Richtung des Gesprächs, die Oliver einschlug, gefiel ihm ganz und gar nicht.

„Wie du sicher weißt, habe ich vor vier Jahren Lady Deria Eddings ein Eheversprechen gegeben.“

„Ja, aber sie ist doch während der großen Seuche gestorben, hast du mir erzählt“, fuhr Sir Howard unwirsch dazwischen.

„Vater, ich bitte dich, lass ihn aussprechen.“

Alicia ahnte, worauf Oliver hinaus wollte. Doch darüber war sie gar nicht unglücklich. Sie liebte schon seit einiger Zeit einen anderen Ritter und hatte ihm auch beigelegen. Sie fürchtete sich davor, was Oliver tun würde, wenn er dies in der Hochzeitsnacht feststellen würde. Es war ihr ein Gräuel auch nur daran zu denken, dass ein anderer Mann als ihre heimliche Liebe sie berühren könnte.

Mit einem bösen Blick auf seine Tochter nickte Sir Howard jedoch zustimmend in Olivers Richtung.

„Ja, das haben wir alle gedacht. Doch Lady Deria hat ihren Vater und auch mich getäuscht. Es war Eric, der damals an dem Fieber gestorben ist. Sie hat seine Rolle angenommen, um der vorbestimmten Ehe mit mir zu entgehen. Durch einen Zufall habe ich erst gestern bemerkt, wer tatsächlich mein Mündel ist.“

„Bei Gott“, entfuhr es Alicia und erschrocken hob sie ihre Hand an den Mund.

„Aus diesem Grund sehe ich mich bedauerlicherweise gezwungen, die Verlobung mit Alicia zu lösen, da ich bereits an ein Versprechen gebunden bin, dass einen älteren Rechtsanspruch hat.“

Oliver fuhr sich nervös durch die Haare. Es war totenstill im Raum. Sir Howard blickte den jungen Wallace ernst an und rieb sich nachdenklich sein Kinn. Er überlegte, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Konnte er Oliver einen Vorwurf machen? Nein, denn er verhielt sich gewiss ehrenhaft. Er musste eine Wahl treffen und hatte sich zu Gunsten des länger bestehenden Versprechens entschieden. Sir Howard warf einen Blick auf seine Tochter und war erstaunt, als er das Leuchten in ihren Augen sah. Sie war ganz und gar nicht unglücklich, geschweige denn traurig. Was hatte das zu bedeuten? Seufzend antwortete er dem ungeduldig und unsicher dreinblickenden Oliver:

„Nun, Oliver. Ich bin natürlich sehr enttäuscht. Aber nicht von dir, sondern von deiner zukünftigen Frau. Sie war sehr unvernünftig und ich hoffe für dich, dass du diese Entscheidung nicht bereuen wirst.“

Oliver atmete erleichtert aus.

„Ich danke für dein Verständnis, denn mir ist weiterhin an deiner Freundschaft viel gelegen.“

Dabei reichte Oliver dem Älteren die Hand. Howard ergriff diese ohne zu zögern. Dann wandten sich beide Alicia zu.

„Oh, ich … ich wünsche dir Glück, Oliver, und ich bin ehrlich gesagt auch dankbar. Ich … ich fühle mich noch nicht reif genug für die Ehe.“

Sie senkte ihren Blick und hoffte, dass man ihr diese Lüge abnahm.

„Dann lasst uns noch ein wenig feiern. Denn immerhin wirst du so oder so bald verheiratet sein“, meinte Sir Howard und schlug ihm aufmunternd auf den Rücken.

Am nächsten Morgen erzählte Howard seinem Sohn von dem Gespräch. Donald verlor die Beherrschung:

„Das ist eine Beleidigung uns gegenüber, Vater! Wie konntest du das so einfach hinnehmen?“

„Aber Donald, er hat sich ehrenhaft verhalten. Da die erste Verlobung noch gültig ist, muss er Deria heiraten.“

„Das hat unser Haus nicht verdient. Verflucht, er hätte sie ja mit jemand anderem verheiraten können.“

Donald war ein junger Hitzkopf und fühlte sich persönlich abgewiesen. Er schwor sich, diese Schmach zu rächen.

Derweil bekam Deria ihre Gemächer gezeigt. Es waren zwei Räume, die durch eine Tür miteinander verbunden waren. Die Fenster im Schlafgemach zeigten auf die Rückseite der Burg, sie konnte die Wiese überblicken und hinter dem Steinwall den Wald.

„Was für eine herrliche Aussicht“, sagte sie erfreut.

„Schön, dass es dir gefällt“, erwiderte Guy.

„Wessen Räume befinden sich noch auf diesem Gang?“, fragte sie neugierig. Ihr waren noch drei Türen aufgefallen, an denen Guy sie vorbei geführt hatte.

„Das sind Olivers Gemächer.“

Wie vom Donner gerührt fuhr Deria herum. „Und warum werde ich dann hier einquartiert? Es gibt doch sicher andere Räume?“

So nah wollte sie ihn nicht haben.

„Was spricht dagegen? Du bist sein Mündel und hast dadurch eine gewisse Stellung.“

Darauf konnte sie nichts erwidern.

„Was sind meine heutigen Aufgaben?“

„Du sollst sein Rüstzeug und seine Waffen reinigen. Sie liegen in seinem Zimmer.“

Guy führte sie in die privaten Räume von Oliver. Erstaunt blieb Deria in der Tür stehen. Ein riesiges Bett stand an der gegenüberliegenden Wand, rechts und links gab es jeweils ein kleines Fenster mit einer schönen bunten Glasscheibe. Über dem Bett war ein riesiger Wandbehang. Das Motiv ließ Deria erröten:

„Oh, das ist aber sündig!“

Guy lächelte: „Es ist ein Liebespaar.“

„Das sehe ich selbst.“

Der Wandteppich zeigte einen Mann und eine Frau, beide waren nackt und umarmten sich auf äußerst frivole Weise. Deria musste den Blick abwenden, sonst würde Sir Guy sie bestimmt auslachen.

„Die Waffen sind nebenan.“

Er verschwand durch einen kleinen Torbogen und Deria folgte ihm. Dieser Raum war Olivers Ankleidegemach. Aus den offenen Truhen lugten Kleidungsstücke aus verschiedenen Stoffen hervor, zwei Paar Schuhe aus Leder standen in einer Ecke. Auf einem Holzgestell hing Olivers Kettenhemd, dessen Metall matt glänzte. Deria betrachtete ehrfürchtig die auf dem Tisch liegenden Schwerter und Messer.

Nachdem Guy ihr alles erklärt hatte, überließ er sie ihrer Aufgabe. Den ganzen Tag war sie mit der Reinigung der Kettenglieder beschäftigt, und am Abend strahlten der Kettenpanzer und die Waffen in neuem Glanz. Dann betrachtete sie sich den Wandteppich genauer. Wer hätte gedacht, dass Oliver solch sündige Bilder gefielen? Sie stellte sich direkt vor das Bett und legte nachdenklich den Kopf schief. Wie viele Frauen hatte er schon in so einer Umarmung gehalten? Sie versuchte sich Oliver nackt vorzustellen. Irgendwie wurde ihr dabei ganz flau im Magen.

Wie im Flug vergingen die Tage und sie half abwechselnd Stephen oder Guy, der ständig mit neuen Aufgaben kam. Mal musste sie in der Küche aushelfen, mal wurde sie Wasserholen geschickt. Die Aufgaben waren an sich keine Arbeiten für Männer, sagte sich Deria. Ob sie Eric bestrafen wollten? Doch auf diese Frage bekam sie keine Antwort, da auch Ester keine Antwort darauf hatte. Da Derias Oberschenkel verheilt waren, und sie für diesen Tag ihre Arbeiten erledigt hatte, bat sie Stephen, ihr das Reiten beizubringen.

„Wirklich, Eric? Du möchtest, dass ich dir das Reiten beibringe? Es ist mir eine Ehre.“

Seine Stimme klang dabei stolz. Stephen führte Aragon aus der Burg heraus und sie gingen linker Hand an der Wiese vorbei.

„Wo gehen wir hin?“, fragte Deria neugierig.

„Hier ist ein Übungsplatz, wo die jungen Pferde eingeritten werden und hier üben auch die Ritter den Zweikampf“, erklärte Stephen.

Deria betrachtete den riesigen Platz, der von drei Seiten mit Wald umgeben war. Durch das Longieren der Pferde war auf der einen Seite ein großer Kreis ins Gras getreten worden. Am Ende des Platzes auf der anderen Seite stand eine kleine Hütte. Stephen band Aragon an das Longierseil und half Deria beim Aufsitzen.

„Ich soll ohne Sattel reiten?“

„Ja, damit du ein besseres Gefühl für das Pferd bekommst. Vertrau mir, Eric“, erklärte Stephen zuversichtlich. Aragon schritt im Kreis Runde um Runde dahin. Stephen mäkelte ständig an Deria herum.

„Nicht so steif, pass dich einfach dem Rhythmus des Tieres an. Mensch, Eric, du bist echt ein Angsthase!“

„Was meinst du wohl, warum ich nicht mehr reite, du Angeber“, fauchte Deria zurück.

Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie Stephens Ratschläge umzusetzen, doch je schneller Aragon lief, desto mehr wurde sie hin und her geschüttelt.

„Ich lerne das nie“, seufzte sie nach einer Weile.

„Ach Eric, irgendwann klappt es auch bei dir. Jetzt drück die Knie vorsichtig an die Seiten und schließ die Augen. Konzentrier dich auf Aragon! Spüre seine Bewegungen und vertrau dir selbst, du kannst das!“

Deria tat wie ihr geheißen. Sie konzentrierte sich auf Stephens Stimme und schloss die Augen. Sie hörte seine beruhigenden Worte und mit einem Mal empfand sie einen Gleichklang mit dem Pferd und hatte das Gefühl, sanft geschaukelt zu werden. Sie fühlte sich sicherer und automatisch löste sich ihre versteifte Haltung. Stephen lächelte, es war dem Elfjährigen nicht entgangen, wie sich die Haltung seines Schülers entspannt hatte. Er schnalzte mit der Zunge und Aragon fiel in einen leichten Trab. Deria merkte zwar, dass irgendetwas anders war, aber es machte ihr keine Angst mehr. Stephen sprach weiter:

„Strecke deine Arme seitlich in die Höhe und spüre die Kraft, die Aragon in dich überträgt.“

Sie tat wieder wie ihr geheißen und rief vor Entzücken:

„Ich hab das Gefühl, ich fliege. Oh, Stephen es ist so wunderbar!“ Freudentränen liefen ihr die Wangen hinunter.

„Jetzt öffne die Augen, gleich wirst du galoppieren!“

Und wieder schnalzte Stephen mit der Zunge, Aragon fiel in einen Galopp. Deria griff in die Mähne ihres Pferdes, aber sie passte sich sofort dem schnelleren Rhythmus an, ohne wieder zu verkrampfen. Sie lachte laut auf und schüttelte übermütig den Kopf.

„Ich kann wieder reiten!“

„Nun, morgen machen wir einen Ausritt und dann werden wir sehen, ob du reiten kannst“, hörte sie plötzlich eine tiefe Männerstimme.

Ihr Kopf flog herum und sie sah Guy dastehen, der ihr anerkennend zunickte, während er Stephen auf die Schultern klopfte.

„Das hast du sehr gut gemacht Stephen. Dein Vater und dein Bruder wären stolz auf dich.

„Danke, Sir Guy.“ Stephen bekam vor Verlegenheit rote Ohren.

Am nächsten Tag holte Guy Deria ab.

„Jetzt machen wir den versprochenen Ausritt. Ich werde dir ein wenig Olivers Ländereien zeigen.“

Ohne Angst bestieg Deria Aragon und folgte Sir Guy durch das Burgtor. Sie ritten gen Westen und nach mehr als zwei Stunden hielt er auf einem Hügel an.

„Von hier aus kannst du einen weiten Blick über Olivers Land werfen“, sprach er mit Stolz erfüllter Stimme.

„Es ist ein sehr fruchtbares Land. Und es ist wunderschön.“

Deria war das saftige Grün der Wiesen und das satte Braun der Erde nicht entgangen.

„Bei uns ist es auch schön, aber nicht so wie hier. Oliver kann sich glücklich schätzen“, meinte sie aufrichtig.

Fast den ganzen Tag ritten sie über Olivers Ländereien. Für Deria gab es viel zu sehen und sie konnte sich auch einen Eindruck verschaffen, was die Bevölkerung von ihrem Lehnsherrn hielt. Bewundernd musste sie anerkennen, dass Oliver bei seinen Untergebenen sehr beliebt war. Er fällte gerechte Urteile und schröpfte seine Bauern nicht. Und dies war selten in diesen Zeiten.

Als die Sonne langsam unterging, verkündete Guy:

„Es wird Zeit, umzukehren.“

„Ihr seid sein Onkel, nicht wahr?“

Deria wollte mehr über Oliver erfahren. Schon die ganze Zeit während des Ausrittes hatte sie darüber nachgedacht, wie sie das Gespräch auf Oliver bringen konnte, ohne dass ihre Neugierde allzu offensichtlich wurde. Guy war nicht dumm, er hatte die innere Unruhe an Deria bemerkt und nur darauf gewartet, dass sie endlich ihrer Neugierde freien Lauf ließ.

„Ja, mein Bruder war sein Vater.“

„Warum hast du nie geheiratet?“

Überrascht von der Frage, da er nicht damit gerechnet hatte, selbst im Mittelpunkt ihrer Neugierde zu stehen, zögerte er mit der Antwort.

„Nun, die Frau, die ich liebte, musste einen anderen heiraten. Und bis heute ist mir keine andere begegnet, die diese Frau aus meinem Herz verdrängen konnte.“

„Welch romantische Worte aus dem Mund eines Mannes“, entfuhr es Deria, die von dieser Antwort seltsam berührt war.

„Wieso sollte es das nicht? Hältst du Männer für weniger romantisch als Frauen?“, fragte Guy erstaunt.

„Ich möchte dich nicht beleidigen, Guy. Aber Männer sind in meinen Augen zu keinen tieferen Gefühlen fähig. Die einzige Ausnahme war mein Vater“, erwiderte Deria überzeugt.

„Und das denkst du auch von Oliver, oder?“, wollte Guy neugierig wissen.

„Oh, er ist ein Grobian und ein gefühlloser Mann. Die Frau, die ihn heiraten muss, tut mir jetzt schon leid“, sagte Deria naserümpfend.

„Eric, hüte deine Zunge. Du kennst Oliver nicht so gut wie ich. Dann würdest du anders von ihm denken.“

„Oh, ich kenne ihn gut“, bemerkte Deria trotzig und musste daran denken, als er ihr damals den Hintern versohlte.

„Lass dir gesagt sein, dass er sehr viele gute Eigenschaften hat, und dass er zu wahrer Liebe fähig ist. Nur wer ihn belügt oder betrügt, verdirbt es sich mit ihm.“

Bei diesen Worten warf er Olivers Mündel einen warnenden Blick zu. Deria wurde es heiß und kalt. Genau das tat sie die ganze Zeit: Sie log und betrog die Menschen um sie herum und vor allen Dingen Oliver. Irgendwann würde dieses Netz aus Lügen reißen. Und bevor das geschah, musste sie verschwinden. Schweigend ritten sie zur Burg zurück.

Mehr als zwei Wochen waren vergangen, als Oliver und sein Gefolge auf die Bärenburg zurückkehrten. Nach dem Besuch auf Burg Shenderton waren er und seine Männer noch auf die Jagd gegangen. Mägde und Knechte nahmen die Beute in Empfang, um die erlegten Tiere auszunehmen. Die vom Fleisch gesäuberten Felle übergab man dem Kürschner zur Weiterverarbeitung, Küchenmägde kochten das Fleisch ein oder hingen es zum Trockenen auf. Für die nächste Zeit waren die Vorratskammern der Burg reichlich gefüllt.

Oliver berichtete Guy von seinem Gespräch mit Howard und seiner Tochter.

„Dann ist ja alles gut gelaufen“, meinte Guy erleichtert.

„Und wie erging es meinem Mündel?“, fragte Oliver neugierig.

Guy erzählte seinem Neffen von dem Reitunterricht und dem gemeinsamen Ausritt. Das Gespräch jedoch verschwieg er ihm.

„Wo steckt sie jetzt?“

„Wahrscheinlich bei Stephen.“

„Gut, dann gehe ich mich erfrischen und mich dann mit einem Weib vergnügen“, sagte Oliver.

„Hältst du das für sinnvoll? Immerhin ist Deria deine Verlobte“, gab Guy zu bedenken.

Oliver runzelte die Stirn und sah seinen Onkel lange an, bevor er ihm antwortete:

„Meinst du nicht, nach allem, was dieses verlogene Biest mir angetan hat, muss ich mich auch noch benehmen? Offiziell habe ich keine Verlobte und wer weiß, wann ich Deria eheliche. Bis dahin führe ich mein Leben wie bisher und das heißt, ich nehme mir ein Weib, wenn mir danach der Sinn ist, und heute ist dies der Fall.“

Mit diesen Worten stand er auf und rief Jolanda. Guy sah ihm kopfschüttelnd nach. Jolanda arbeitete als Küchenmagd und war Olivers Mätresse. Bisher hatte es für beide kein böses Erwachen aus einer berauschender Liebesnacht gegeben, denn Oliver hatte aus den Fehltritten seines Vaters gelernt. Er hatte es sich angewöhnt, seinen Samen nicht im Schoße einer Frau zu verströmen, damit er keine Bastarde zeugte.

Oliver zog Jolanda mit sich fort und lief neckend mit ihr die Treppe hoch. Schon vor seiner Zimmertür riss er sie in seine Arme und küsste sie. Seine Lenden brannten. Leidenschaftlich zog er seine Mätresse mit sich ins Schlafgemach. Knallend fiel die Tür ins Schloss.

Deria hatte sich heimlich in Olivers Gemach geschlichen um in seinen Büchern zu lesen. Aufgeschreckt durch den Tumult vor der Tür, hob sie den Kopf und lauschte. Sie hörte zwei keuchende Stimmen. Panisch rannte sie in das Ankleidezimmer und versteckte sich hinter dem Holzgestell, welches das Kettenhemd trug. Just in diesem Moment kamen Oliver und Jolanda hereingestürmt. Er warf die Tür zu und riss das Mädchen erneut an sich.

„Oh, Ihr könnt es wohl gar nicht abwarten, Mylord“, kicherte sie kokett.

„In der Tat, ich war zu lange enthaltsam“, knurrte er.

Er schob ihre Röcke hoch und drückte die Frau an die Wand. Mit zwei Handgriffen löste er seine Beinkleider und drang hart in sie ein. Jolanda keuchte auf. Seine Stöße wurden fester und schneller und als sie laut aufschrie, zog er sich aus ihr zurück. Schnell nahm sie seinen Schaft in die Hand und rieb daran. Seine Erregung war so stark, dass er sofort zum Höhepunkt kam.

Deria hielt sich den Mund zu, um nicht laut zu schreien. Das ist ja widerlich, was die beiden da machen! Und während sie das dachte, spürte sie, wie ihre Brustwarzen sich plötzlich gegen ihr Hemd rieben. Ihr Körper reagierte auf diesen wilden Akt, ohne dass sie es wollte. Doch damit nicht genug, denn sie hörte Oliver sagen:

„Das war die Vorspeise, jetzt kommt der Hauptgang.“ Und mit diesen Worten zog er Jolanda aus und führte sie zum Bett.

Oh nein, das kann ich nicht mit anhören, geschweige denn zusehen. Ich muss irgendwie hier raus, dachte Deria entsetzt. Doch wie konnte sie flüchten ohne auf sich aufmerksam zu machen? Sie würde warten, bis die beiden wieder zu Gange waren und dann flux hinausrennen. Sie kam leise hinter dem Kettenhemd hervor und spähte um die Ecke. Oliver lag auf Jolanda. Fasziniert beobachtete sie, wie er sich über die Brüste der Frau beugte und diese in den Mund nahm. Ihr wurde flau im Magen. Sie musste raus – sofort! Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür. Gerade schob sie den Türriegel nach hinten, als Jolanda den Eindringling entdeckte:

„Da ist ja ein Kerl.“

Deria riss die Tür auf und stürzte fluchtartig hinaus. Hinter sich hörte sie Oliver lautstark fluchen. Sie rannte so schnell sie ihre Füße trugen in ihr Zimmer und versuchte die Tür hinter sich zu schließen. Doch es war unmöglich, da Oliver bereits von der anderen Seite dagegen drückte. Deria stemmte sich mit ihrem ganzen Körper, der wie Espenlaub zitterte, dagegen. Doch vergebens. Oliver war stärker als sie und nach kurzem Hin und Her stand er im Zimmer. Krachend warf er die Tür ins Schloss. Deria schnappte nach Luft. Oliver war fast nackt, hatte nur seine Beinkleider angezogen und selbst die waren noch nicht einmal ordentlich hoch gezogen.

„Raus!“, schrie sie und wich ängstlich vor ihm zurück.

Er starrte sie nur an und bewegte sich geschmeidig auf sie zu. Wie ein Raubtier, das seine Beute umschleicht, schoss es Deria durch den Kopf. Sie konnte nicht anders als ihren Blick an ihm hinabgleiten zu lassen. Noch nie hatte sie so einen herrlichen Mann gesehen: Sein Oberkörper war muskulös, schwarze Haare zierten seine Brust und seinen Bauch, seine Brust hob und senkte sich in kurzen Abständen.

„Verschwindet, Ihr seid widerlich“, brüllte sie dennoch. Um ihn auf Abstand zu halten, trat sie hinter ihren kleinen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand. Oliver sah ihre geröteten Wangen, ihre Lippen glänzten feucht. Sie sieht zum Anbeißen aus, dachte er plötzlich. Aber jetzt war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort um sich darüber Gedanken zu machen.

„Was hattest du in meiner Kammer zu suchen?“, herrschte er sie an.

„Ich…es war…ich habe gelesen und ich wollte nicht stören…“, stotterte sie herum.

„Hast du noch kein Weib bestiegen?“

Oliver hatte sich wieder unter Kontrolle und wollte sie nun ein wenig ärgern.

„Was? Bestiegen?“ Sie schnappte nach Luft.

„Nein, hast du also nicht, wie mir deine Reaktion zeigt. Na, dann werde ich dir das demnächst zeigen, wie es geht.“

Als er ihr bestürztes Gesicht sah, drehte er sich um und ging grinsend davon. Deria starrte ihm nach. Ihre Knie zitterten und ihre Brust hob und senkte sich heftig vor Aufregung. Langsam kletterte sie aufs Bett, schlang die Arme um ihre Beine und legte ihr Kinn auf die Knie. Sie musste den festen Verband um ihre Brüste lösen, da diese schmerzhaft an ihm rieben und Derias Atem einengte. Zwischen den Schenkeln spürte sie eine Wärme und Feuchtigkeit, die sie erröten ließen. Was passiert mit mir? Warum löst Olivers Anblick diesen Wirrwarr an Gefühlen in mir aus, fragte sie sich. Deria hatte Angst. Mit wem, außer ihrer Mutter oder Milly, hätte sie darüber sprechen können? Aber beide waren nicht hier. Deria musste an Olivers Worte denken. Ihre Situation wurde immer heikler. Wie sollte sie ihm klar machen, dass Eric kein Interesse an Frauen hatte? Mit dieser Frage fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Als Oliver am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich ausgeruht und ausgeglichen wie schon seit langem nicht mehr. Jolanda war längst gegangen, denn er duldete sie nicht die ganze Nacht in seinem Bett. Dieses Privileg würde nur seiner Frau vorbehalten bleiben. Seiner Frau - dieser Gedanke ließ ihn wieder an seine Unterhaltung mit Deria denken. Was mochte sie von der Situation gehalten haben, als ich Jolanda so wild genommen habe? Sie war bestimmt verschreckt gewesen. Selbst Schuld, was hat sie auch in meinen Räumen zu suchen, sagte er zu sich selbst. Aber eine seltsame Erregung ergriff ihn. Wieder musste er an die feuchten Lippen denken: Wie herrlich wäre es, diese zu küssen. Erstaunt bemerkte er, wie seine Leidenschaft sich zu regen begann.

Oliver wusch sich und beschloss, das Katz- und Mausspiel endlich zu beenden. Er würde „Eric“ keine andere Wahl lassen als selbst zuzugeben, was für ein falsches Spiel er spielte.

Mit diesen Gedanken klopfte er energisch an Derias Zimmertür. Stille. Er klopfte noch einmal, dieses Mal lauter und heftiger. Wieder keine Antwort. Ohne etwas zu sagen, riss er die Tür auf. Sofort sah er, dass der Raum verlassen war. Verdammt, wo ist dieses Weibsbild denn schon so früh am morgen, grollte er in Gedanken. Als er wutschnaubend in die große Halle kam, saß sein Oheim bereits am Tisch und grinste ihm entgegen.

„Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“, fragte er süffisant.

„Keine, aber gerade das ist es ja.“

„Wenn du Eric meinst, der bzw. sie ist vor über einer halben Stunde hinaus geschlichen.“

„So früh schon?“, fragte Oliver verwundert.

„Oh, sie nimmt ihre Pflichten sehr ernst. Wahrscheinlich hilft sie Stephen und dann frühstücken die beiden bei Ester.“

„Aha. Na, dann werde ich ihren Tagesablauf ein wenig durcheinander bringen. Heute zeige ich meinem Mündel, wie gekämpft wird.“

„Aber Oliver, jetzt übertreibst du es aber“, versuchte Guy Deria zu beschützen.

„Nein, sie soll endlich zugeben, wer sie wirklich ist. Ich habe diese Spielchen langsam satt“, grollte Oliver. „Jolanda, pack mir ein wenig Proviant ein!“

Oliver ging in den Stall, aber dort war niemand. So wie Guy es richtig vermutet hatte, fand er Deria in Esters Haus.

„Oh Oliver, möchtest du auch etwas essen?“, fragte Ester überrascht.

„Nein, danke, Ester. Ich möchte mein Mündel abholen. Wir haben heute eine schweren Tag vor uns.“

Ohne einen Widerspruch zu dulden, warf er Deria einen ungeduldigen Blick zu. Sie verschluckte sich fast an ihrer Milch, stand dann unsicher auf.

„Bist du endlich fertig?“, herrschte er sie an.

„Ja, dank Euch habe ich keinen Hunger mehr“, zischte sie zurück.

Nachdem sie sich bei Ester bedankt hatte, folgte sie Oliver.

„Was, um alles in der Welt, soll das jetzt? Wieso behandelt Ihr mich so herabwürdigend?“, brauste sie auf.

Er fuhr so schnell zu ihr herum, dass sie ängstlich zurückwich. Er packte ihren Arm und zog sie zu sich heran.

„Nicht anders, als du mich behandelst“, knurrte er in ihr Ohr.

Dann zog er sie wortlos mit sich. Deria hatte nun wirklich Angst. Irgendetwas war anders als sonst. Oliver wirkte so entschlossen. Nur weswegen? Sie überlegte, ob sie versuchen sollte sich loszureißen. Nein, das würde zu nichts führen. Sie musste erst einmal abwarten, was er wirklich von ihr wollte.

„Sattle dein Pferd, wir werden ausreiten!“

Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Deria tat wie ihr geheißen und folgte dann schweigend ihrem Vormund. Die Provianttasche hatte er sich umgehängt. Ohne ein Wort zu sprechen, trieb er sein Pferd zum Galopp an. Deria folgte ihm in den anbrechenden Tag. Wenngleich sich ihr ein wunderbarer Sonnenaufgang bot, konnte sie sich nicht daran erfreuen. Furcht umschloss ihr Herz und drückte ihre Brust zusammen.

Mehr als zwei Stunden waren sie im schnellen Galopp geritten, als eine Burgruine in Sicht kam. Eigentlich waren es eher ein paar Steinquader, als eine Ruine. Dort zügelte Oliver sein Pferd und wartete bis Deria ebenfalls abgestiegen war.

„Ich werde dir heute den ersten Unterricht im Schwertkampf geben.“

Deria schluckte. Noch tat ihr der Hintern von dem schnellen Ritt weh. Aber Oliver ließ ihr keine Sekunde Zeit, sich auszuruhen. Er holte zwei Holzschwerter aus der Tasche und gab eines davon Deria. Dann erklärte er ihr geduldig, wie sie den Griff am besten halten sollte. Es überraschte ihn, wie geschickt sie sich dabei anstellte. Nachdem sie seine Übungen wiederholt hatte, stellte er sich ihr gegenüber und sagte:

„So, und jetzt kämpfen wir gegeneinander. Versuche die Übungen, die ich dir eben gezeigt habe, anzuwenden. Fertig?“

„Ja.“

„Dann greif mich an“, forderte Oliver sie auf.

Wie er ihr erklärt hatte, stellte sie erst ihre Beine fest auf den Boden, um genug Halt zu haben. Dann holte sie aus, ließ ihr Holzschwert über dem Kopf kreisen und schlug dann auf Oliver ein. Als ob er eine Fliege abwehrte, hob er lässig sein Holzschwert und parierte ihren Schlag. Deria fuhr ein beißender Schmerz in die Arme, als ihre Schwerter aufeinander schlugen.

„Noch einmal, aber gib dir mehr Mühe“, reizte Oliver sie.

Und wieder machte sie die gleichen Bewegungen, doch dieses Mal duckte sich Oliver geschwind unter ihrem Schwert hindurch, so dass er plötzlich hinter ihr stand. Mit seinem Schwert schlug er ihr auf ihren Hosenboden. Deria machte einen Satz nach vorne:

„Aua, das tat weh!“

Jetzt war ihr Zorn geweckt und sie versuchte Oliver einen Stich zu versetzen, aber er wich auch diesem geschickt aus und verpasste ihr den nächsten Hieb.

„Das tut weh, Oliver!“, rief sie zornig.

„Das soll es auch. Ungezogenen Kindern versohlt man nun einmal den Po.“

„Ich bin kein Kind mehr“, rief Deria mit verletztem Stolz.

So ging es eine Weile und wieder und wieder bekam Deria einen Schlag auf ihren Allerwertesten.

„Oh, was seid Ihr nur für ein ungehobelter Mensch!“, schrie Deria völlig außer sich.

„Lieber ein Grobian als eine ausgekochte Lügnerin!“, brüllte Oliver zurück.

Erst jetzt realisierte Deria, was er gerade gesagt hatte. Er weiß es, oh mein Gott, er weiß es! Deswegen ist er so wütend und schlägt mich. Vor lauter Panik ließ sie das Schwert fallen, drehte sich um und rannte los. Doch gegen Oliver hatte sie keine Chance. Schon nach wenigen Metern hatte er sie eingeholt, bekam ihr Hemd zu packen und riss sie zurück. Deria verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.

„Lasst mich los!“ Sie versuchte ihn abzuschütteln, doch vergeblich. Wie eiserne Zangen umschlossen seine Hände ihre Handgelenke und drückten sie über ihren Kopf auf den Boden. Er setzte sich auf ihre Beine, sodass sie nicht mehr nach ihm treten konnte. Ihr Widerstand hielt an, bis sie endgültig erkannte, dass sie ihm nicht entkommen konnte.

Oliver hatte einfach gewartet, bis sie müde wurde. Jetzt lag sie unter ihm. Ihr Hemd war hoch gerutscht und gab einen kleinen Blick auf ihren schmalen Bauch frei. Ihre grünen Augen sprühten vor Zorn, doch sie hielt jetzt still. Nur ihre Zunge konnte sie nicht im Zaum halten:

„Geht Ihr immer so mit euren Schutzbefohlenen um?“

Seine Augen wurden zu einem eisigen Silber.

„Nur wenn man mein Vertrauen missbraucht.“

Er kam mit seinem Kopf ganz dicht an ihren heran und schaute ihr tief in die Augen. In diesen blauen Augen sah Deria einen Funken glimmen. Sein Mund berührte fast ihr Gesicht, sein warmer Atem streifte ihre Wange.

„Bin ich dir so zuwider, dass du beschlossen hast, mir immer wieder davonzulaufen?“

Seine Stimme war verdächtig leise. Deria wollte etwas erwidern, als seine Lippen ihren Mund versiegelten. Im ersten Moment, völlig gelähmt vor Entsetzen, erstarrte ihr Körper zu Stein. Doch mit einem Mal fühlten sich seine Lippen herrlich an. Warm, weich und zart. Oliver glitt mit seiner Zunge an den Innenseiten ihrer Lippen entlang. Er hatte ihre kurzzeitige Starrheit gespürt, aber auch wie sie sich langsam entspannte. Sieh an, dieses kleine Biest reagiert auf mich, stellte Oliver fest. Sie schmeckte so himmlisch süß und unschuldig. Ganz sanft bat seine Zunge um vollständigen Einlass. Deria wollte nicht, doch ihre Lippen öffneten sich wie von selbst. Oliver erkundete ihren Mund, nahm die Süße auf, neckte ihre Zunge und sie begannen zaghaft miteinander zu spielen. Deria wusste nicht wie ihr geschah, aber dieser Kuss war das schönste, was ihr bisher passiert war. Er liebkoste ihren Mund, dann glitten seine Lippen zu ihrem Hals und küssten dort eine unsichtbare Linie entlang. Derias Körper wurde von einer Gänsehaut überzogen. Doch sie konnte kein Wort über ihre Lippen bringen, nur ein tiefer Seufzer entwich ihnen.

Langsam richtete Oliver sich auf. Was für eine Leidenschaft hatte er gespürt. Er musste aufhören, sonst würde er sie hier und jetzt nehmen. Ihre Augen hatten sich dunkelgrün verfärbt, ihre Wangen leuchteten in einem sanften rosa.

„Wieso habt Ihr mich geküsst? Ich bin nicht eure Hu…“, doch Oliver hatte schon seine Finger auf ihren Mund gelegt.

„Du gehörst mir! Ich kann mit dir tun und lassen was ich will und wann ich will“, stieß er mit rauer Stimme hervor.

Oliver konnte nicht sagen, warum er ihr verheimlichte, dass sie jetzt seine rechtmäßige Verlobte war. Vielleicht weil sie ihn so lange belogen hatte? Sofort erwachte in Deria der Widerstand aufs Neue. Sie wurde so wütend, dass sie es schaffte, ihn von sich herunterzuwerfen. Oliver war zu überrascht, doch mit einem Satz war er auf den Füßen und griff nach ihr, bevor sie fliehen konnte.

„Hör endlich auf immer davonzurennen!“

Wie ein stählerner Ring hielt er ihre Taille umfangen. Mit dem anderen Arm presste er ihren Oberkörper an sich, so dass Deria sich nicht mehr bewegen konnte. Hilflos baumelte sie in der Luft. Deria spürte die Hitze seines Körpers, roch seinen Duft nach Schweiß, Stahl und Leder, der erregend auf sie wirkte. Langsam ließ ihre Gegenwehr nach und sie erschlaffte in Olivers Armen. Ihr Kopf sank müde an seine Brust.

„Ihr seid der größte Schuft, den ich je gesehen habe! Das Wort Ehre in Eurem Mund kommt einem Verrat gleich. Noch nicht einmal verheiratet und schon betrügt Ihr Eure zukünftige Frau und jetzt fallt Ihr über ein unschuldiges Mädchen her. Ich verabscheue Euch und Ihr habt meinen Vater entehrt!“

Oliver war von ihren Worten tief in seinem Stolz getroffen.

„Was bildest du dir ein, über mich zu richten?“ Er drehte sie herum und schüttelte sie wild durch. „Steht nicht in der Bibel, wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein? Bist du ohne Sünde? Du, die alle Menschen, die dich liebten und lieben, belogen und betrogen hast. Und noch schlimmer: Du hast deinem Vater Schande gemacht und deinen Bruder entehrt, indem er namenlos begraben wurde.“

Seine Stimme überschlug sich vor Wut. Seine Augen funkelten wild und gefährlich, dass Deria sein Blick durch Mark und Bein ging. Sein fester Griff schmerzte an ihren Oberarmen und presste ihr die Tränen in die Augen. Olivers Worte bohrten sich wie glühende Klingen in Derias Herz und die Erkenntnis, dass er die Wahrheit sagte, schmerzte noch mehr und raubte ihr fast die Sinne. Unerwartet ließ er sie los, so dass Deria beinahe gestürzt wäre. Sie starrte mit leerem Blick zu Boden. Ihre Schultern zuckten unter dem Weinkrampf, der sie mit einem Mal erfasste.

Oliver indes hatte sich abgewandt und war hinter den Steinen der Ruine verschwunden. Verzweifelt raufte er sich das Haar. Fast hätte er die Beherrschung verloren und zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau, nein, ein Mädchen geschlagen. Sein Zorn war erst gegen sich selbst gerichtet und dann wieder auf Deria. Es war nicht zum Aushalten mit ihr. Sie brachte ihn ständig zur Weißglut. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen, als er seine Verlobung mit Alicia gelöst hatte? Würde er jemals mit Deria auch nur einen Weg des Miteinanders finden, ohne dass sie sich ständig gegenseitig verletzten? So viele Gefühle, wie ihn die letzten Tage durchströmt hatten, waren für ihn schwer zu akzeptieren. Er war immer nur der kühle beherrschte Oliver, der höchstens im Bett Leidenschaft kannte, die jedoch von ihm bestimmt wurde. Alle anderen Gefühle waren ihm fremd gewesen, bis Deria in sein Leben getreten war. Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, ging er wieder zu Deria.

„Wir reiten zurück. Ab sofort wirst du die Rolle annehmen, die dir von Geburt her bestimmt ist. Ich will dich nie mehr in Männerkleidung rumlaufen sehen. Heute Abend wirst du an meiner Seite sitzen, und zwar als Lady Deria Eddings. Hast du mich verstanden?“, herrschte er sie an. So sehr er gewillt war, anders zu klingen, bei ihrem Anblick geriet er wieder in Rage.

Deria hörte den warnenden Ton in seiner kühlen Ausdrucksweise und nickte. Ihr Blick jedoch triefte vor Verachtung, die ihn wie ein Schwertstoß ins Herz traf. Warum macht mir das nur soviel aus, fragte er sich. Ohne sich anmerken zu lassen, wie sehr sie ihn erneut verletzt hatte, drehte er sich herum, packte die Sachen zusammen und stieg auf sein Pferd. Er wartete nicht auf sie, sondern trieb das Tier zu schnellem Galopp an und überließ Deria sich selbst.

Sie sank zu Boden und dachte nach. Es war alles anders gekommen, als sie es sich vorgestellt hatte. Nun saß sie hier und dachte über Olivers Worte und seine Reaktion nach. Er hatte sie hier zurückgelassen. Entweder war er sich so sicher, dass sie nicht floh oder so dumm, dass er diese Möglichkeit nicht bedacht hatte, oder er war einfach nur überheblich. Überheblichkeit passte in ihren Augen am besten zu ihm. Doch sofort machten sich auch Zweifel in ihr breit und es begannen zwei Seiten in ihr miteinander zu ringen. Sie führte laute Selbstgespräche; das half ihr, einen klaren Kopf zu bekommen.

„Warum hat er mich geküsst, wenn er doch so wütend auf mich ist? Ob es ihm so gefallen hat, wie mir selbst?“

Mit zitternden Fingern fuhr sie über ihre Lippen und schloss die Augen. Sie stellte sich wieder den Moment vor, als sein Mund den ihren berührte. Erst war sie geschockt, doch dann hatte sie ein Kribbeln erfasst, dass durch ihren ganzen Körper lief. Die Worte ihres Bruders aus ihrem Traum kamen ihr wieder in den Sinn: Er ist deine Bestimmung!

„Was genau bedeutet das, Eric? Dass Oliver mich heiraten würde? Nun, das allein sicher nicht, denn es war schon vor langer Zeit beschlossen worden.

Oder, vielleicht, dass er der Mann sein würde, in den ich mich verliebe, oder der vielleicht mich liebt?“ Ein Schauer überkam sie. Wenn es so wäre, warum waren sie dann wie Katz und Maus? Je mehr sie darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es ihr vor. Aber er hatte sie hier allein zurückgelassen. An seiner Stelle hätte sie ihm nicht bis zur Nasenspitze getraut. Was hatte ihn dazu veranlasst, sofort zu gehen?

„Er lässt dir eine Wahl“, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Ihm zu folgen bedeutet, ihn zu akzeptieren.

Wenn ich jetzt davonreiten würde, wäre ich frei… Deria war sich nun ziemlich sicher, dass Oliver sie auf die Probe stellte. Sie sollte selbst entscheiden welchen Weg sie gehen wollte - nur verstand sie es nicht. Denn immerhin war er mit Lady Alicia verlobt. So viele Fragen, auf die sie keine eindeutige Antwort fand. Sie konnte immer nur Vermutungen anstellen. Doch eines hatte sie in den vergangenen Jahren gelernt: Mit Flucht wurden die Dinge nicht besser. Auch das Lügennetz war immer löchriger geworden. Zudem hatte Oliver Recht, sie hatte Schande über ihre gesamte Familie gebracht. Sie musste es wieder gut machen. Aber erst musste sie herausfinden, was Oliver von ihr wollte. Sie atmete tief durch und stieg auf Aragon.

Während sie zurück zur Burg ritt, spielte der Wind in ihrem Haar und die Sonne trocknete ihre Tränen. Mit einem Mal kamen ihr wieder Olivers Worte in den Sinn: Alle Menschen, die dich liebten und lieben, hast du belogen und betrogen. Sie zügelte Aragon und hielt verwundert inne: Wen meinte er mit lieben? Doch nicht sich selbst, oder? Außer Milly und ihren neuen Freunden Stephen und Ester war niemand da, der sie liebte. Bei Gott, ob er wusste, was er da zu ihr gesagt hatte? Sie würde es herausfinden müssen.

Beflügelt von dieser Erkenntnis gab sie ihrem Pferd die Sporen und flog mit dem Wind zurück zur Burg. Als sie Aragon in den Stall führte, war Stephen schon fleißig damit beschäftigt, Ghost zu striegeln.

„Wie geht es dir, Stephen?“

Stephen schaute sie trotzig an. Deria blieb verwundert stehen und sprach ihn erneut an:

„Was hast du denn? Bist du sauer auf mich?“

„Du hast mich belogen und ich dachte, du wärst mein Freund!“, brüllte Stephen.

Deria wusste gar nicht warum Stephen so aufgebracht war: „Aber Stephen, ich hab dich doch nicht belogen.“

„Ach nein, wie kannst du das sagen? Du bist doch gar nicht Eric, sondern Deria!“

Im ersten Moment war Deria sprachlos. Mit trauriger Gewissheit wurde ihr klar, dass wohl alle so reagieren würden, die von ihrer Maskerade erfuhren. Sie trat zu Stephen und kniete sich vor ihm hin. Der Junge ignorierte sie und striegelte weiter den Schimmel.

„Stephen, bitte schau mich an! Ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Weißt du, es gab einmal Zwillinge, die sich von Herzen gern hatten. Sie gingen zusammen durch dick und dünn. Alles wollten sie gemeinsam machen, aber es gab einen Unterschied zwischen den beiden. Eric war ein Junge und damit frei in seinen Entscheidungen und seinem Tun. Seine Schwester hingegen, ich, stieß immer wieder an Schranken, die mir mein Geschlecht vorschrieb. Und als ich 13 Jahre alt war, sah ich zum ersten Mal meinen künftigen Ehemann. Er sah so finster aus, mit seinen schwarzen langen Haaren, der schwarzroten Kleidung und den eisblauen Augen. Ich bekam Angst und wollte davonlaufen, doch er fing mich ein, und zum Dank versohlte er mir den Hintern.“

Mittlerweile hatte Stephen aufgehört zu striegeln und lauschte interessiert.

„Dann verschwand er wieder, aber die Angst blieb und nur zu denken, dass ich an meinem achtzehnten Geburtstag diesen Mann heiraten musste, verleitete mich dazu, während des großen Fiebers in die Rolle meines Bruders zu schlüpfen. Meine Mutter war bereits von uns gegangen und mein Vater lag im Sterben. Ich war 15 Jahre alt und sah es als einzige Möglichkeit frei zu bleiben. Als Mann konnte ich weiter auf der Burg bleiben. Ich brauchte auch nicht zu heiraten. In meinen Gedanken war alles so einfach. Ich fand den Plan genial und so wurde ich zu Eric. Nicht einmal mein Vater merkte es.“

Deria holte tief Luft, schaute Stephen prüfend an. Keine Reaktion war in seinem kleinen Gesicht zu erkennen, also sprach sie weiter.

„Nun, alles lief so, wie ich es geplant hatte - bis mein Vater beschloss, dass ich noch zum Ritter erzogen werden musste. Er bestimmte Sir Oliver zu meinem Vormund. Alles umsonst, denn nun war ich ihm wieder ausgeliefert. Gerade dem Mann, vor dem ich mich am meisten fürchtete. Daher beschloss ich meine Rolle weiterzuspielen, aber es hat nicht lange gedauert, bis er mich durchschaut hatte. Deine Mutter hat mich sogar im ersten Augenblick durchschaut. Stephen, ich wollte…“, hielt Deria verzweifelt inne.

Stephen legte ihr seine Hand auf die Schulter und sprach mit der Weisheit eines Erwachsenen:

„Du hast niemanden verletzen wollen, du wolltest dich nur schützen. Ich bin dir nicht mehr böse, aber Eric wird mir sehr fehlen.“

„Oh, Stephen!“ Deria war überrascht was für kluge und tröstliche Worte aus dem Mund dieses elfjährigen Jungen kamen. Sie umarmten sich.

„Bleiben wir dennoch Freunde?“, wollte Deria wissen.

„Na klar, auch wenn du jetzt ein Mädchen bist, bist du trotzdem ganz in Ordnung.“

Dankend tätschelte Deria ihm den Kopf.

„Ach, Oliver hat gesagt, du sollst zu Mutter gehen, wenn du kommst. Und er hat mir gesagt, dass du nicht mehr im Stall arbeiten darfst.“

„Weißt du es von ihm?“

„Ja, er war ziemlich wütend auf dich als er zurückkam und ich hab ihn gefragt, wo Eric ist. Da hat er mich angebrüllt, es gäbe keinen Eric, sondern nur seine Schwester Deria, die alle belogen und betrogen hat.“

Wie konnte Oliver sich nur so unbeherrscht benehmen, dachte Deria entrüstet. Stephen war doch noch ein halbes Kind. Scheinbar war er wütender als sie vermutet hatte.

„Dann werden wir beide heute zum letzten Mal zusammen arbeiten. Mir fehlt es jetzt schon und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich es mir von Oliver verbieten lasse“, meinte Deria und eine Spur Trotz schwang in ihrer Stimme mit. Stephen schaute sie schräg von der Seite an, erwiderte jedoch nichts darauf.

Nach ein paar Stunden waren sie fertig und schlenderten gemeinsam zu Esters Haus. Als sie eintraten, begrüßte Ester sie. Während sie Stephen umarmte und ihm einen Kuss auf die Stirn, drückte sah sie Deria eindringlich an.

„Stephen weiß es bereits, Ester. Oliver hat es ihm gesagt“, sagte Deria entmutigend.

„Ja, das habe ich mir gedacht, denn als er hier war…“

„Er war hier?“, unterbrach Deria sie aufgebracht.

„Ja, Oliver hat mir gesagt, dass du heute Abend als Lady Deria zum Essen erscheinen sollst und ich dir dabei behilflich sein soll“, meinte Ester gelassen.

„War er wütend?“, fragte Deria neugierig.

„Nun, da ich Oliver ganz gut kenne, würde ich sagen, er war nicht nur wütend, sondern auch ziemlich enttäuscht.“ Ester schaute Deria forschend an.

„Enttäuscht? Warum?“, wollte Deria zögerlich wissen.

„Das musst du dir schon selbst beantworten. Soweit reichen unsere freundschaftlichen Bande nun auch nicht, dass er mir den Grund für seine Verstimmung genannt hat.“

Damit würde sich Deria später auseinandersetzen. „Stephen, du gehst dich heute Abend so waschen. Ich benötige Zeit mit Deria. Und du kannst schon einmal baden gehen, mein Fräulein“, delegierte Ester die beiden.

Deria verschwand hinter dem Vorhang und fand bereits einen Zuber mit heißem Wasser vor. Sie zog sich aus und wickelte sich die enge Brustbandage ab, wohl wissend, dass es wahrscheinlich das letzte Mal war. Jetzt spürte sie eine große Erleichterung beim Atmen - eine regelrechte Befreiung.

Mit einem Seufzer versank Deria in dem heißen Wasser. Es wirkte entspannend und für einen Moment schloss sie die Augen. Ohne dass sie es wollte, musste sie an Oliver denken: Seine große stattliche Statur, die schwarzen langen Haare, die gerade den Nacken bedeckten, und seine blauen Augen, die jetzt so warm wie der schönste Sommerhimmel leuchteten. Ein sanftes Lächeln umschmeichelte seine Lippen und auf seinen Wangen erschienen Grübchen. Was für ein schöner Mann; er gefällt mir sehr, dachte Deria. Es war ihr, als flatterten tausende kleiner Schmetterlinge in ihrem Bauch herum.

Sie legte ihre Hand darauf, als ob sie das Gefühl damit ausschalten könnte, aber dem war nicht so. Sie spürte, dass sich ihre Gefühle gegenüber Oliver veränderten. Obwohl sie immer noch Furcht vor ihm verspürte, sehnte sie sich nach ihm. Sie dachte an den Kuss zurück. An Olivers Körper, der ihrem so nah gewesen war und die Hitze die er ausgestrahlt hatte. Sie sehnte sich nach seinem Mund und seinen Händen. Plötzlich hörte sie eine Stimme:

„Was für ein entzückender Anblick!“

„Oh, verflucht, was macht Ihr hier? Hinaus mit Euch!“, entrüstete sich Deria und versank mit hochrotem Kopf im Wasser. Oliver verließ lachend das Zimmer, aber was er gesehen hatte, ließ ihn frohlocken.

„Aber Oliver, was machst du denn hier?“, fragte Ester, die aus ihrem Schlafgemach kam.

„Ich wollte mich nur vergewissern, dass Deria dieses Mal meinen Anweisungen gefolgt ist.“

„Nun, es sieht ganz so aus. Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?“, fragte Ester.

„Ich würde mich freuen, wenn du und dein Sohn ebenfalls an meiner Tafel Platz nehmt“, sagte Oliver.

Ester war sichtlich überrascht, denn seit dem Tod von Sir Otto hatte sie nicht mehr im Festsaal gespeist. Sie knickste und bedankte sich:

„Ich danke dir für die Einladung. Nun lasst mich nach Deria schauen.“

Oliver nickte ihr zu und verließ das Haus.

Ester ging zu Deria, die noch immer im Wasser eingetaucht war. Nur ab der Nasenspitze lugte ihr Kopf aus dem Wasser.

„Ist er weg?“, fragte sie aufgebracht, als sie Ester erblickte.

„Ja, er ist weg. Komm heraus. Ich helfe dir beim Ankleiden.“

Deria warf noch einmal einen Blick zum Vorhang, bevor sie sich erhob. Ester hatte bereits ein großes Handtuch ausgebreitet und wartete bis Deria aus dem Zuber stieg. Dann wickelte sie damit die junge Frau ein.

„Warum bist du so nett zu mir?“

Deria war von dieser Geste peinlich berührt.

„Ich habe dich gern, Deria, und du brauchst ein wenig weibliche Intui-tion“, meinte Ester und rubbelte Derias Rücken trocken. Ester hatte sich immer eine Tochter gewünscht und deshalb verwöhnte sie Deria. Sie rieb sie mit Rosenöl ein und half ihr beim Ankleiden. Sie hatte ihr schönstes Gewand geholt und hoffte, dass es Deria passen würde, denn deren Oberweite war ansehnlich. Das Unterkleid war fein gewebt aus weißer Wolle. Das grüne Übergewandt, mit goldenen Fäden durchzogen, passte sich Derias Körperformen an. Ester war überwältigt:

„Deria, es passt wie angegossen. Du bist so eine wunderschöne Frau. Schau dich mal an.“

Deria trat zu dem Spiegel und blickte hinein. Sie konnte es fast gar nicht glauben, dass sie sich selbst sah. Wie lange hatte sie kein Kleid mehr getragen? Und dieses saß wirklich, als wäre es nur für sie gemacht. Sie drehte sich nach rechts und dann wieder nach links. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Dein Körper hat an den richtigen Stellen die richtigen Rundungen. Du wirst die Herren heute Abend allesamt verzaubern“, bemerkte Ester.

Derias Gesicht wurde von einer sanften Röte überzogen. Obwohl sie sich selbst überzeugen konnte, wie schön sie aussah, fühlte sie sich doch unsicher. Ester frisierte ihr das kurze Haar aus der Stirn und schmückte es mit einigen Kämmen. Zuletzt befestigte sie einen durchsichtigen Schleier auf Derias Scheitel und legte ihn rechts und links in Derias Armbeugen. Dann zog auch Ester sich für das Abendmahl um.

„So, nun können wir gehen“, erklärte Ester stolz.

Stephen blieb wie erstarrt stehen, als er Deria erblickte.

„Oh, du siehst aber bezaubernd aus.“ Deria lächelte und umarmte ihn.

„Wenn du es sagst, dann glaub ich das. Begleitest du mich als Tischherr?“

„Aber gerne.“

Mit stolzgeschwellter Brust bot Stephen Deria den Arm an. Leichtfüßig verließen sie das Haus und gingen zur Burg. Je näher sie kamen, desto nervöser wurde Deria. Was würde Oliver sagen, wenn er sie so sah? Würde sie ihm gefallen? Ester drückte ihr zuversichtlich die Hand und gemeinsam schritten sie die Treppen hinauf.

Oliver war ungehalten. Es war schon sehr spät und langsam fragte er sich, ob Deria sich ihm erneut widersetzte. Er nahm gerade seinen Becher und setzte zum Trinken an, als ihm Guy auf den Rücken klopfte und ihm mit einem Kopfnicken zu verstehen gab, zur Tür zu schauen. Oliver folgte seinem Blick und vor Erstaunen verschluckte er sich heftig. Er war auf alles vorbereitet, aber nicht auf diese zauberhafte Erscheinung. Wie sie in der Tür stand und scheu um sich blickte, erkannte er mit einem Mal, dass er das Bedürfnis hatte, sie in seine Arme zu nehmen und zu beschützen. Doch dies währte nur kurz, denn sofort sah er ihr Stirnrunzeln, als sie ihn erblickte. Immer noch hustend, ließ er seinen Blick über ihren Körper wandern und musste anerkennend feststellen, dass sie sehr weiblich aussah. Er verspürte einen Stich der Eifersucht in der Brust, als er sah, wie seine Gefolgsleute Deria mit ihren Blicken verschlangen. Sie war eine Augenweide und es missfiel ihm, dass dies auch die anderen bemerkten.

Kriegerherz und Königsehre

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