Читать книгу Lachen, Weinen, Hoffnung schenken - Oberrabbiner Prof. Paul Chaim Eisenberg - Страница 7
ОглавлениеFÜR UNS JUDEN ist der wöchentliche Schabbat, im Volksmund Schabbes genannt, bekanntlich nicht nur ein Ruhetag, sondern ein heiliger Tag mit vielen Bräuchen. Im Schtetl haben Juden unter der Woche oft fast nur Brot und gekochte Kartoffeln gegessen, damit sie für den Schabbat, einmal die Woche, etwas Besseres einkaufen konnten.
In meinem Elternhaus gab es wochentags Butter aufs Brot und Eierspeis auf die Kartoffeln, aber das Schabbatmahl war auch bei uns etwas ganz Besonderes: Meist gab es Fisch, Suppe, Fleisch mit Beilagen und als Nachspeise einen guten Kuchen mit Kompott.
Besonders war auch, dass nur am Schabbat nicht in der Küche, sondern im Speisezimmer serviert und gegessen wurde, auf einem blütenweißen Tischtuch, von einem Schabbat-Geschirr und mit versilbertem Besteck neben den leuchtenden Kerzen, die meine Mutter vor Schabbat entzündet hat.
Im Schtetl war es trotz der bedrückenden Armut üblich gewesen, zum Schabbat-Tisch einen Gast einzuladen, mitunter einen, der sich auf der Durchreise befand. Meine Eltern haben diesen Brauch weitergeführt und am Freitagabend jemanden aus dem Stadttempel – unserer Synagoge – mit nach Hause genommen, auch wenn es ein Fremder war. Allerdings wussten wir meist schon vorher, wer eingeladen wurde: Oft waren es Gäste aus Israel, die sich freuten, beim Oberrabbiner zu Hause Schabbes feiern zu dürfen. Trotzdem bestand die Möglichkeit, dass mein Vater zusätzlich zu diesen schon eingeplanten Gästen noch einen weiteren Gast aus der Synagoge mitbrachte. Meine Mutter legte also zur Sicherheit ein Gedeck mehr auf, als wahrscheinlich benötigt werden würde, und goss ein bisschen mehr Wasser in die Suppe – auch das hat man schon in der alten Zeit im Schtetl genau so gemacht.
Schon in der Tora gibt es zu dieser Tradition eine schöne und lehrreiche Geschichte, die mich schon als Kind stark beeindruckte. Dort heißt es, dass unser Stammvater Abraham, der doch eine Zeit lang der einzige Jude auf der Welt war, mit seiner Gastfreundschaft auch „Mission“ betrieben habe. Denn wenn Wanderer an seinem Haus vorbeigingen, dessen Türen immer offen waren, hielt er sie an und bewirtete sie fürstlich. Danach fragte er die Gäste: „Nun, was ist jetzt mit der Bezahlung?“ In diesem peinlichen Moment zückten manche die Kreditkarte (ihr erlaubt mir die sanfte Modernisierung), wieder andere sagten, sie hätten leider kein Geld. Zu all ihnen aber sagte Abraham: „Ihr müsst nicht bei mir bezahlen, sondern euch beim lieben Gott bedanken, der die Welt erschaffen hat und auch das Essen, das ich euch serviert habe.“ Na, und schon war das „Missionsgespräch“ initiiert.
Diese Geschichte ist umso interessanter, wenn man weiß, dass wir Juden eigentlich gar keine Mission betreiben und grundsätzlich nicht versuchen, Anhänger anderer Religionen oder auch Atheisten von unserem Glauben zu überzeugen. Wir glauben vielmehr, dass jeder gute Mensch in den „Himmel“ kommen kann. Dennoch wollte sich Abraham die Gastfreundschaft offenbar nicht als Gelegenheit entgehen lassen, um Menschen ein wenig näher zu Gott zu bringen.
Anders verhält es sich natürlich, wenn ein religiöser Jude sieht, wie ein anderer Jude – zum Beispiel – den Schabbat nicht hält. Schon in der Tora, in der Bibel steht, dass man den anderen dann zurechtweisen sollte, aber freundlich. Die Details zu diesem Gebot füllen Bände, vielleicht schreibe ich mein nächstes Buch darüber.
Der wesentliche Grundsatz dabei ist, dass wir füreinander verantwortlich sind und daher nicht tatenlos zuschauen sollen, wenn ein anderer einen Fehler macht. Manche sagen auch, dass ich zum Beispiel meinen jüdischen Nachbarn, der jeden Schabbat mit dem Tennisschläger ins Auto steigt, statt mit mir zu Fuß zur Synagoge zu gehen, freundlich darauf hinweisen soll, mit mir in den Tempel zu kommen. Aber nach einigen fruchtlosen Versuchen darf und werde ich es aufgeben.
Es gibt eine altbewährte Technik, wie man einen Juden oder eine Jüdin auf andere Weise dazu bringen kann, den Schabbat einzuhalten. Statt die Person zurechtzuweisen, lädt man sie mit ihrer Familie zum festlichen Schabbatmahl ein. Dort spricht der Hausherr den Segen über den Wein, teilt die wunderbare Challe, das Schabbatbrot, aus, lässt den Besuch vom gefillten Fisch und der Suppe der Hausfrau essen und spricht mit ihm über die Schönheit des Schabbats, ohne den Gast auch nur mit einem Wort zu kritisieren. Dann werden auch Schabbatlieder gesungen.
So ähnlich erziehen wir auch unsere Kinder, und so haben unsere Eltern mich und meine Schwester die Liebe zum Schabbat gelehrt. Wenn wir wollen, dass unsere Kinder den Schabbat einhalten, dann wird es vollkommen schiefgehen, wenn wir ihnen das nur sagen. Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Es ist keine exklusive jüdische Weisheit, dass Kinder vom Vorbild der Eltern und nicht durch Verbote lernen. Und so ist es vielen religiösen Juden und besonders Rabbinern gelungen, Juden, die schon sehr entfernt von der Observanz des Judentums waren, wieder zur Jüdischkeit zurückzubringen. Oder, wie man ebenfalls sagt, ihr Judentum zu stärken.
Ich wurde als Rabbiner, der regelmäßig Schiurim gibt – also Erwachsene unterrichtet –, oftmals von Juden und Jüdinnen angesprochen, die zu mir sagten: „Wir sind an jüdischem Wissen interessiert, wir waren in keiner jüdischen Schule. Wir würden gerne mehr über den Schabbat und die Koscher-Vorschriften, die Feiertage und die Bibel wissen. Aber wir sagen Ihnen gleich, wir werden diese Gebote nicht einhalten.“
Darf man solche Schüler überhaupt unterrichten? Wie so oft gibt es im Talmud zu dieser Frage zwei Lehrmeinungen. Ein Rabbi hat solche Schüler gar nicht unterrichtet. Ein anderer dagegen, und so halte ich es auch, nahm auch solche Schüler auf. Denn ich bin überzeugt, dass sie, wenn ich mit ihnen die Tora lerne, weisere Juden werden. Und das genügt mir.
Mein Vater verfuhr mit unseren Schabbat-Gästen aus Israel so ähnlich wie Abraham, auch wenn er dabei etwas ganz anderes im Sinn hatte: Nach dem gemeinsamen Essen am Freitagabend, zu dem er sie ja eingeladen hatte, sagte er oft ganz unvermittelt: „Jetzt müssen Sie aber etwas für Ihr Essen bezahlen.“
Ich glaube, unsere Gäste waren darüber noch mehr verdutzt als die Gäste des Abraham in der Tora, denn als Juden wussten sie nur zu gut, dass man am Schabbat kein Geld verdienen darf. Aber jedes Mal löste mein Vater ihre Verwirrung rasch auf: „Lehren Sie uns doch als Bezahlung ein neues hebräisches Lied aus Israel!“, bat er die Gäste. Alle in unserer Familie waren musikalisch, aber wir kannten damals nur die alten hebräischen und jiddischen Lieder. Youtube und Ähnliches gab es noch lange nicht, aber auch aktuelle jüdische Schallplatten erreichten Wien nicht immer oder zumindest nicht so schnell. Besonders meine Schwester und ich waren immer glücklich darüber, neue jüdische oder hebräische Lieder zu lernen, und durch diesen kleinen Trick meines Vaters hatten wir regelmäßig Gelegenheit dazu, denn die Gäste waren erleichtert, dass man von ihnen nicht wirklich Geld verlangte.
Das berühmte Schalom-Alechem-Lied haben wir sowieso an jedem Schabbat a cappella gesungen. In diesem Lied heißt es, dass wir Juden nicht nur Gäste an unserem Schabbat-Tisch empfangen, sondern auch Engel. Mit Schalom Alechem, auf Arabisch Salam aleikum, begrüßen wir diese Engel: „Friede sei mit euch.“
Wenn ich dieses Lied heute singe, erinnere ich mich wehmütig an die schönen Schabbat-Abende bei meinen Eltern. Später, mit meiner Frau Annette, der Rebbezen, und mit unseren Kindern, war es bei Tisch aber genauso schön, und mein jüngster Sohn singt sogar besser jüdische Lieder als ich – was nicht leicht ist, wie ich in meiner typischen Bescheidenheit hinzufügen möchte.
Den vielleicht ungewöhnlichsten Kindheits-Schabbes habe ich allerdings in Venedig erlebt: Wir waren dort mit der ganzen Familie auf Urlaub, und mir und meiner Schwester gefielen vor allem der Campanile, der hohe Turm am Markusplatz, wo der Doge früher wohnte und herrschte, ganz besonders gut. Unser Abreisetag fiel auf einen Samstag, aber natürlich verließen wir Venedig nicht während des Schabbats, sondern warteten auf den Einbruch der Dunkelheit, bevor wir uns im Zug auf den Heimweg machten.
Als wir am Stadtteil Mestre vorbeifuhren, sahen wir in der Finsternis plötzlich ein Feuer, das an der Spitze des Turmes einer Ölraffinerie brannte. „Papa, was ist das?“, fragte ich, und mein Vater antwortete in rabbinischer Genialität: „Der Doge macht Hawdole!“ So nennt man den Segen zu Ende des Schabbats, bei dem eine hohe Kerze angezündet wird.
ES WAREN NICHT NUR israelische Reisende, die damals, vor vielen Jahren, am Schabbat die Wiener Synagoge aufsuchten. Schon als mein Vater Oberrabbiner war, kamen oft auch amerikanische jüdische Touristen nach Wien, gingen nicht nur in die Staatsoper, zum Demel und zum Heurigen, sondern statteten auch dem Stadttempel am Schabbat ihren Besuch ab. Oft kam es vor, dass nach dem Gottesdienst, als wir schon bereit waren, nach Hause zu gehen, ein amerikanischer Jude zu meinem Vater ging und sagte: „Rabbi, I’m Mr. Grunwald (früher Grünwald) from Chicago, you know my Rabbi Friedlander?“
Mein Vater gab manchmal zu, dass er den Betreffenden nicht kannte, weil es in Amerika doch Tausende Rabbiner gibt. Manchmal aber sagte er auch höflich: „I think I met him once.“ Dann ging es oft so weiter: „Can I ask you a few questions?“ Mein Vater war zwar schon hungrig, weil er vor dem Gottesdienst nichts gegessen hatte, wollte aber nicht unhöflich sein und erklärte sich einverstanden. Dann fragte der Amerikaner in der Regel als Erstes: „How is the situation with antisemitism in Vienna?“
Und mein Vater antwortete diplomatisch ungefähr so: „Die SS marschiert nicht mehr in Wien, und die Regierungen sind uns meistens recht freundlich gesinnt. Aber es gibt natürlich auch ein paar Antisemiten – meistens die, die behaupten, keine zu sein.“
Das zumindest war es, was mein Vater eigentlich sagen wollte, aber weil er die Sache auch nicht unnötig in die Länge zu ziehen gedachte, sagte er stattdessen einfach: „Well, soso.“
Die nächsten Fragen waren einfacher zu beantworten:
„How many Jews live in Vienna?“
„About 7.000.“
„How many synagogues do you have?“
„About twelve.“
„Do you have a Jewish school?“
„Yes.“
„How many of the Jewish kids go there?“
„There are about 1.000 Jewish children in Vienna, and about half of them go to the Jewish school, the other half to public schools.“
Mein Vater sprach zwar nur wenig Englisch und machte das auch gerne zu einer Ausrede, um die Gespräche nicht zu lang werden zu lassen. Aber da die Fragen wirklich immer die gleichen waren, konnte er sie bald ebenso auswendig wie die korrekten englischen Antworten.
Irgendwann, nach dem zigsten Amerikaner, rief mich mein Vater, als ich schon ein junger Mann war, einmal zu einem dieser „Verhöre“ und sagte: „This is my son, Chaim. He is my interpreter and he will answer your questions.“ Damit hatte er die Amerikaner dauerhaft auf mich abgeladen, und ich habe fortan die gleichen Fragen mit dem gleichen Know-how beantwortet – und tue es im Prinzip noch heute.
Als ich meinen Vater fragte, warum sich die jüdischen amerikanischen Touristen eigentlich alle so sehr für unsere Gemeinde interessierten, erklärte er mir, wie es bei den Amerikanern daheim abläuft, wenn so ein Mr. Grunwald von seiner Reise in seine Gemeinde zurückkehrt. Dann geht er als Erstes zum Tempelvorstand und bietet dort an, einen tollen Vortrag in der Synagoge zu halten, in dem er über die jüdischen Gemeinden der Städte, die er besucht hat, berichtet. Der Gemeindesaal ist dabei voll – nicht, weil die Gemeindemitglieder den Vortrag von Herrn Grunwald hören wollen, sondern weil er den Zeitpunkt des Vortrages bewusst so gewählt hat, dass er nach dem wöchentlichen Bingospiel stattfindet.
„Und weißt du, was er dann ganz stolz während dieses Vortrages im Festsaal der Synagoge von Chicago verkündet? ‚Ich hatte ein sehr langes Interview mit dem Chief Rabbi von Vienna!‘“
Obwohl ich meinem Vater gerne Arbeit abnahm, gingen mir diese immer gleichen Informationsgespräche am Schabbat irgendwann auch schon ein wenig auf die Nerven. Da hatte mein Vater die nächste geniale Idee. Auf die Rückseite seiner Visitenkarte ließ er den folgenden Text drucken: Antisemitism: soso. Jews in Vienna: 8.000. Synagogues: 12. Jewish school: yes. Kids: 50 percent. Und wenn sich ihm in der Synagoge fortan ein amerikanischer Jude auch nur näherte, zückte er die Visitenkarte, drückte sie ihm in die Hand, wünschte einen guten Schabbes und machte sich mit mir auf den Weg zum Schabbat-Essen …
Ich habe trotzdem immer wieder mit amerikanischen Juden gesprochen, insbesondere mit solchen, die vor 1938 in Wien gelebt hatten. Viele von ihnen hatten Wien eigentlich nicht mehr sehen wollen, sich dann aber nach Jahrzehnten doch zu einem Besuch entschlossen.
Mehr geflohene jüdische Wiener, zumindest für ein paar Tage, nach Wien zurückzuholen gelang insbesondere, als ab den Achtzigerjahren unter Bürgermeister Helmut Zilk ein sehr rühriger Chef des sogenannten Jewish Welcome Service, Leon Zelman, aktiv war. Ein Jude, der aus Wien geflohen war und durch das Welcome Service nun wieder in der Heimat seiner Kindheit stand, sagte später einmal im Stadttempel zu mir: „Wissen Sie, ich habe meine Bar Mizwa in dieser Synagoge gehabt – aber sie war damals noch viel größer.“
Als kluger Rabbiner, der ich inzwischen war, antwortete ich dem Mann: „Nein! Sie war nicht größer – aber Sie waren kleiner.“
Er hat unter Tränen gelächelt. Weinen und lachen zugleich gehört nämlich zu dem, was wir Juden gut können.