Читать книгу Mission SOL 2020 / 6: Das Licht in der Tiefe - Olaf Brill - Страница 7
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CALAMAR, im Sphärenlabyrinth
Roi Danton
Ich würde nicht sagen, dass ich ein notorischer Lügner bin.
Aber ich habe in meinem Leben zweifellos schon unzählige Male geflunkert, getäuscht, die Wahrheit zurechtgebogen, Maske gemacht, sogar die eine oder andere neue Identität angenommen.
Wir steuern im Blindflug durch das Gespinst der regenbogenfarbenen Leuchtbänder, die bei jeder Bewegung neue Form annehmen. Während die Kompantin uns durch die Schleier des Sphärenlabyrinths leitet, stelle ich mir die Frage, ob ich meinen Vater und meine Mannschaft angelogen habe. Ich habe behauptet, dass ich mit der CALAMAR aus der SOL ausschleusen will, um mich an eine Spur TRAITORS zu heften, und das war nicht falsch.
Ich setze all mein Wissen und all meine Erfahrungen dafür ein, sie zu infiltrieren und auszuspionieren – diese Streitmacht des Chaos, die ich besser kenne, als mir lieb ist. Wir brauchen Informationen, um zu verstehen, was die Chaotarchen in Yahouna planen.
Ich habe also keineswegs rundheraus gelogen. Niemals würde ich Perry direkt ins Gesicht lügen. Sofern man mal von der Kleinigkeit absieht, wie ich ihm vor zweitausendsiebenhundert Jahren entgegengetreten bin: in der Kleidung eines Edelmanns und mit dem Gebaren eines affektierten Stutzers aus der Zeit eines archaischen französischen Königs. Damals habe ich mich Roi Danton genannt, der König der Freihändler. Was tut man nicht alles, um einem überlebensgroßen Vater wie Perry Rhodan zu entkommen und ein eigenes Leben zu beginnen?
Nur so war es möglich, dass mein Vater und ich schließlich ... nun ja, Freunde geworden sind. Partner seit Jahrtausenden. Die Lüge von damals hat also eine gute Sache hervorgebracht. Und nein, es war überhaupt keine Lüge – keine, die zählt. Sondern eine Handlung, die mich zu dem gemacht hat, der ich bin. Ich bin Roi Danton. Der Abenteurer und Kämpfer auf der Seite des Guten, nicht das verwöhnte Kind eines Großadministrators. Roi Danton ist das Leben, das ich für mich selbst erfunden habe, zu dem ich stets zurückgekehrt bin. Gewiss, ich war auch Torric. Und Dantyren. Ein kleines Stück dieser anderen Leben wird immer ein Teil von mir bleiben.
Andererseits habe ich meinem Vater und der Mannschaft auch nicht die ganze Wahrheit gesagt. TRAITOR hinterherzuspüren, um lebenswichtige Informationen für unsere Mission zu erlangen – das ist mein Plan mit der CALAMAR, ja. Aber darüber hinaus treibt mich noch etwas anderes an. Eine Schuld, die ich in einem anderen Leben auf mich geladen habe.
Der hagere, doch sportliche Mann mit dem ewigen Dreitagebart und dem grau melierten Haar tritt an meine Seite. Mein Erster Offizier Peet Matabiau. Wir kennen uns seit einer Zeit, die nach heutigem Datum mehr als anderthalb Jahrhunderte zurückliegt. Den Großteil davon haben wir allerdings im Abgrund einer Proto-Chaotischen Zelle verbracht. Während für uns dort lediglich wenige Wochen verstrichen sind, ist die Zeit im Universum weiter vorangeschritten. Jedenfalls in dem Universum, dem wir uns zugehörig fühlen.
»Verrätst du uns endlich mal, wonach wir genau suchen?« Matabiau hat schon genug erlebt, um gelassen zu bleiben, wenn die Außensensoren statt des bekannten Weltalls seit Tagen nur eine bizarre Phantasiewelt mit völlig unbekannten Eigenschaften zeigen.
Das Netz aus Lichtbändern, durch das wir treiben, bildet eine Struktur, die sich unendlich zu verzweigen scheint. Sie verbinden die konzentrischen Kugelschalen des Sphärenlabyrinths. Keiner von uns vermag zu erkennen, was hinter der nächsten fädenüberzogenen Kristallkugel liegt, welcher Weg zurück ins bekannte Weltall führt und welche Route in völlig andere Universen.
Wäre da nicht Kalfa, die Kompantin, würden wir uns hoffnungslos verirren. Nur sie, im Verbund mit der Schiffspositronik, leitet uns zielsicher durch das Sphärenlabyrinth. Ihr allein verdanken wir es, dass wir statt trübem Dunst überhaupt die feine Innenstruktur dieser extrauniversalen Portalzone erkennen können.
Ich sehe hinüber zum Pneumosessel, in dem der weiße, aufgedunsene Körper der Kompantin liegt. Sie ist durch eine Maschine mit den Bordsystemen verbunden, die den SERT-Geräten ähnelt, mit denen Emotionauten Raumschiffe wie die CALAMAR oder sogar die SOL steuern.
Kalfa ist ein bedauernswertes Geschöpf, das Ergebnis grauenhafter Experimente der Kolonnen-Anatomen. Sie haben den Tod von Tausenden fühlender Wesen in Kauf genommen, nur um einen dieser sogenannten Kompanten zu schaffen.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist, bis ich meinem Ersten Offizier endlich antworte. »Als ich in der Kommandozentrale der GRAGRYLO war, standen mir sämtliche technischen Möglichkeiten der Skapalm-Bark zur Verfügung. Mit den Vollmachten eines Dualen Kapitäns der Terminalen Kolonne habe ich mir Einblick ins Datennetz der Bordsupratronik verschafft. Dadurch konnte ich zumindest einige der Kolonnen-Einheiten identifizieren, die im Sphärenlabyrinth operieren, und weiß, wo es für uns besonders interessant werden könnte. Ah, voilà!«
Wie aus dem Nichts taucht über uns ein riesenhafter, schwarzer Diskus durch die Sphäre und kreuzt gemächlich unseren Kurs, einem Blauwal gleich, der einer Kaulquappe begegnet. Ein Traitank, ein Kampfschiff der Terminalen Kolonne.
»Kann es uns sehen?«, ruft Matabiau alarmiert. »Funktioniert Varantirs Ortungsschutz auch im Sphärenlabyrinth?«
»Wenn auf eins Verlass ist, dann auf algorrianische Technik.« In Wahrheit bin ich nicht ganz so überzeugt, wie ich mich gebe. Falls ich mich irre, werden wir es gleich erfahren. Denn wer weiß schon, ob auch im Sphärenlabyrinth jene Naturgesetze gelten, auf die Varantirs Tarnschirm ausgerichtet ist?
Erleichtert atme ich aus, als der Traitank über uns hinweggleitet und im endlosen Nebel verschwindet wie ein geisterhafter Schatten.
Stattdessen erkenne ich in der Ferne unwirklich scharf eine Vielzahl winziger Objekte im Formationszug. Sie wirken wie Hunderte mikroskopisch kleiner Krebstiere, die in Zeitlupe in einer Linie hintereinanderschwimmen. Wenn es sich dabei ebenfalls um Traitanks handelt, sind sie sehr weit weg.
Von einem Moment zum anderen legt sich ein Knäuel aus roten Linien über das gesamte Sphärenlabyrinth. Nicht draußen in der Sphäre, sondern über dem Holobild, in das wir blicken. »Kalfa hat die kartierten Pfade gefunden und visualisiert«, stelle ich fest.
Tatsächlich schieben sich die Krebse in der Ferne auffällig genau auf den roten Linien voran. Bei dem Traitank, der unsere Bahn gekreuzt hat, muss es sich um einen Ausreißer gehandelt haben. Vielleicht ein Schiff, das es aus einem anderen Universum ins Sphärenlabyrinth verschlagen hat und sich erst mal bis zu den sicheren Pfaden vorarbeiten muss.
Ich trete mit Matabiau ins Holo, werde umkreist von Hunderten roter Linien. Einige entstehen erst in diesem Moment. Ich deute auf einen der größeren Punkte, die Schleusen aus dem Labyrinth hinaus und in andere Universen hinein markieren. »Dahin wollen wir!«
Matabiau zieht die Augenbrauen zusammen. »Warum nicht diese hier?« Er zeigt auf eine andere Stelle. »Da scheinen wesentlich weniger TRAITOR-Einheiten unterwegs zu sein. Das Risiko für eine erste Erkundung wäre dort geringer.«
Matabiau ist ein schlauer Fuchs, wie die Terraner sagen. Er selbst könnte mit dieser Bezeichnung nichts anfangen, denn er ist auf einem Raumschiff geboren worden – der SOL. Doch ich muss ihm widersprechen. »Das spielt keine Rolle. Varantirs Tarnaggregate schützen uns so oder so. Und wir wollen doch was zu erzählen haben, wenn wir wieder nach Hause kommen, oder? Ich wähle die Schleuse, die näher an unserem aktuellen Kurs liegt. Ich will so schnell wie möglich aus diesem Labyrinth raus.«
Abermals zieht Matabiau die Brauen zusammen. Zweifellos hat er erkannt, dass zahlreiche andere Schleusen noch näher an unserem Kurs liegen. Er ist misstrauisch. Aber er will sich der Entscheidung des Kommandanten nicht widersetzen.
Ein Satz geht mir durch den Kopf, den ich vor langer Zeit gehört habe. Die letzten Worte eines Begleiters, der bereit war, sein Leben zu geben. Vergiss nicht Aroff und Zerbone!
Und wieder: Ich habe niemanden angelogen. Das Ziel, das ich gewählt habe, ist tatsächlich ein guter Startpunkt für unsere Aufgabe, mehr über TRAITORS Machenschaften im Sphärenlabyrinth herauszufinden. Diese Aufgabe hat nach wie vor die höchste Priorität, und ich werde mit dem Einsatz meines Lebens dafür sorgen, dass Perry Rhodan die Informationen bekommt, die er braucht. Es gibt keinen größeren Feind TRAITORS als mich. Ich will diese perverse Streitmacht des Chaos sogar noch mehr zurückschlagen, als mein Vater es will.
Doch ich habe das Ziel, das wir nun anfliegen, nicht rein willkürlich gewählt. Mit etwas Glück kann ich dort zugleich eine Aufgabe erfüllen, die seit langer Zeit wie ein Stein auf meinem Herzen liegt.