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CALAMAR
Roi Danton
Nach stundenlanger Fahrt durch die ewigen Sphären des Labyrinths haben wir endlich das Ziel erreicht, das ich ausgewählt habe. Wie wir schon aus der Ferne gesehen haben, sind auf den kartierten Pfaden viele Kolonnen-Einheiten unterwegs. Die CALAMAR mischt sich unerkannt in den Strom der Chaosschiffe.
Allen ist mulmig zumute, weil wir uns inmitten feindlicher Einheiten durch einen unbekannten Raum bewegen. Aber der algorrianische Ortungsschutz hält.
Direkt über uns schwebt ein Konvoi schwerer, bauchiger TRAITOR-Transportschiffe, jedes um ein Vielfaches größer als die CALAMAR. Was transportieren sie? Wohin sind sie unterwegs, und woher kommen sie? Gehören sie zu einem Kolonnen-Fort? Die Frachter werden flankiert von elf Traitanks, waffenstarrenden Kampfschiffen der Terminalen Kolonne TRAITOR.
Für einen Moment durchzuckt mich der irrwitzige Gedanke, dass diese Eskortschiffe versuchen könnten, ihre Potenzialwerfer gegen die unendlich dünnen, gläsern wirkenden Elemente der Kugelschale einzusetzen, auf die wir uns zubewegen.
Je näher wir dem Gewirr kommen, desto weniger Substanz scheinen die Fäden zu haben. Sie werden so dünn, dass sie für unsere Ortung am Ende nur noch den Durchmesser eines Moleküls haben. Tess Qumisha als Hyperphysikerin versteht mehr davon als ich. Sie hat erläutert, dass sogar dieser Eindruck täuscht und dass die eisartigen Fasern masselos sein müssen. Wir befinden uns außerhalb aller Universen. Dort gibt es keine Materie. Und doch bildet dieses Nichts eine unzerstörbare Struktur. Ich glaube, nicht einmal die Traitanks wären in der Lage, die Fäden auch nur anzukratzen oder das Sphärenlabyrinth zu beschädigen.
Wir nähern uns der Lichtschleuse, einem von Hunderttausenden Durchgängen zwischen dem Fasergespinst. Einem Portal, das uns in eine weitere Sphäre bringt oder in ein anderes Universum wirft. So viel wissen wir schon vom Sphärenlabyrinth: Es existiert in mehreren Universen, stellt eine Verbindung zwischen ihnen her.
Mit einem Lichtblitz verschwinden vor uns die ersten Schiffe des Konvois.
Ich halte den Atem an, als wir gemeinsam mit einem der Frachter in die Schleuse einfliegen, mitten hinein in den weißen Lichterkranz. Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Ohne dass ich etwas spüre, ändert sich die Umgebung radikal. Ich atme auf. Wir sind wieder im Weltall. Einem Weltall.
»Eine fremde Galaxis!«, schreit Cinzo Tendoron vom Funk- und Ortungspult. »Das ist jedenfalls nicht Yahouna! Oh wow ...« Die Schiffspositronik wertet blitzschnell die physikalischen und hyperphysikalischen Daten aus, die ihr die aktiven und passiven Ortungssysteme der CALAMAR zuliefern. »Die Werte des Planckschen Wirkungsquantums, der Lichtgeschwindigkeit und der Gravitationskonstante weichen von den bekannten Größen ab.«
Wir sind also tatsächlich in einem anderen Universum gelandet. Die Frage ist: Wie nah ist es dran an unserem eigenen Universum, physikalisch und hyperphysikalisch betrachtet? Bietet es Bedingungen für Leben, wie wir es kennen?
Hinter uns tauchen die anderen Frachter und Traitanks aus dem Sphärenlabyrinth auf. Der geheimnisvolle Nebel leuchtet in diesem Universum nicht weiß, sondern rötlich-orange. Als sei nichts geschehen, gleiten die Kolonnenschiffe über uns hinweg.
Weitere Daten kommen rein. »Vor uns liegt ein kleiner Stern, ein Unterzwerg der Leuchtklasse sechs. Das Geschwader ist dahin unterwegs.«
Wenigstens können wir dieses Universum noch mit unseren astrophysikalischen Begriffen erfassen. Die Abweichung der grundlegenden Naturkonstanten scheint nicht stark genug zu sein, um dies zu einem lebensfeindlichen Ort für uns zu machen.
Es fühlt sich falsch an, dass wir diesen Ort erreicht haben, ohne den geringsten Strangeness-Schock zu erleiden. Durch dieses Phänomen werden Raumfahrer, die in ein fremdes Universum geraten, normalerweise eine ganze Weile völlig aus der Bahn geworfen. Erst nach und nach passt sich die mitgenommene Physik den neuen Verhältnissen an.
Als wäre er nur eben zu einem Orientierungsstopp aus dem Linearraum gefallen, steuert der Chaoskonvoi unverdrossen den nahen Stern an, eine nicht besonders bemerkenswerte, weiße Sonne, ein paar Dutzend Lichtjahre entfernt. Aus dieser Distanz ist sie normaloptisch nur ein etwas stärkerer Lichtpunkt vor einem ungewohnten Sternenmeer. Der physikalische Abdruck des Sphärenlabyrinths liegt also draußen im Leerraum, nicht innerhalb des Einflussbereichs einer Sonne wie im Mauritiussystem.
»In diesem Universum scheinen sich keine Galaxien zu bilden«, informiert Tendoron über die weiteren Ergebnisse der Raumortung. »Die einzelnen Sterne driften einfach auseinander.«
»Ich werde mich mit diesen faszinierenden astrophysikalischen Fakten zu geeigneter Zeit befassen«, sage ich. »Zunächst aber: Was ist bei der Sonne los?«
»Ein Kleinplanet umkreist sie. Sogar in der habitablen Zone. Ich meine ...« Tendoron dreht sich im Sessel zu mir herum und macht ein zerknirschtes Gesicht. »... was wir in unserem Universum für die habitablen Zone halten würden!« Er widmet sich wieder seinen Instrumenten. »Außerdem Hyperraumaustritte. Wahrscheinlich TRAITOR-Einheiten.«
Ich nicke. Im Unterschied zum Linearantrieb der SOL-Korvetten verwenden TRAITOR-Schiffe einen auf Supratrontechnik basierenden Hyperantrieb. Er scheint auch in diesem Universum zu funktionieren, der Sturz aus dem Hyperraum kann von unseren Geräten leicht angemessen werden.
Tendoron schnalzt mit der Zunge. »Da drüben rumst es ordentlich! Gravitationsspitzen von der Stärke eines Neutronensterns.«
Ich beuge mich vor und lese selbst die Daten auf meinen Holoanzeigen. »Da sind Potenzialwerfer im Einsatz. Kolonnen-Einheiten kämpfen gegen irgendwen oder irgendwas. Was macht der Konvoi?«
Ich sehe es auf den Anzeigen: Die TRAITOR-Raumschiffe, die mit uns durch die Lichtschleuse gekommen sind, durchfliegen das Eintrittsgebiet in einer Suchformation.
»Die haben uns bemerkt«, befürchtet Tendoron.
»Möglich«, bleibe ich zurückhaltend. »Vielleicht hat unser heimlicher Durchgang den Energiestatus der Lichtschleuse ungewöhnlich verändert. Aber trotzdem ist das seltsam. Wenn TRAITOR in ein Gefecht verwickelt ist, müssten sie eigentlich dorthin vorrücken und die TRAITOR-Einheiten unterstützen.«
Ich drehe mich zur Pilotin Fiya Zuhla um. »Das werden wir uns mal aus der Nähe ansehen. Wir fliegen hin!«
*
Mit nach wie vor voll aktiviertem Ortungsschutz gleitet die CALAMAR aus dem Linearraum, und um sie herum bricht die Hölle los.
Über uns jagen zwei Kolonnen-Einheiten hinweg, ein kegelstumpfförmiges Transportschiff gefolgt von einem Feuer speienden Traitank. Impulsstrahlen schießen aus dem Traitank und rasen in den Frachter. – Das kann nicht sein! Beide Raumschiffe sind TRAITOR-Einheiten. Aber eins feuert auf das andere.
Der Transporter verfügt entweder über keinen Schutzschirm oder alle Abwehraggregate sind außer Gefecht gesetzt. Denn die Energielanzen des Kampfschiffs finden problemlos ihre Beute. Die Glutlohe frisst sich genau in eine Furche, die den oberen und unteren Teil des Kegelstumpfs voneinander trennt und richtet dort ungeheure Schäden an. Das Frachtschiff trudelt um mehrere Achsen taumelnd anscheinend unkontrolliert seitwärts.
Der siegreiche Traitank geht auf Parallelkurs, womöglich um seine Heldentat zu betrachten. Dann überholt er den wrack geschossenen Transporter und jagt davon.
Die Männer und Frauen in der Zentrale der CALAMAR haben das Geschehen mit entsetzten Gesichtern verfolgt. So etwas hat keiner von uns erwartet.
Cinzo Tendoron ist damit beschäftigt, die neuesten Orterdaten auszuwerten. »Weitere Gefechte tiefer im System. Traitanks gegen Traitanks. Eine Seite greift weitere Transportschiffe an, die andere schützt sie.«
Voller Unglauben sehe ich brennende TRAITOR-Raumfahrzeuge, zu Trümmern zerschossen von anderen Kolonnenschiffen. Meine Gedanken überschlagen sich. Eine Kopie von mir war als Dualer Kapitän Dantyren einst Teil der Terminalen Kolonne TRAITOR. Dantyrens Erinnerungen sind auf mich übergegangen. Ich weiß aus der Sicht von innen, dass diese gigantische Kriegsmaschine der Chaosmächte als große Einheit fungiert, als Gemeinschaft. TRAITOR ist ein Moloch, der gnadenlos einem einzigen Ziel folgt, dem sich alle Einzelinteressen unterordnen: die Verwandlung des Universums – aller Universen – in eine Zone des Chaos, der Sieg über die Mächte der Ordnung.
Was ich soeben mit meinen eigenen Augen sehe, kann ich nicht glauben.
»Du hast nicht erwartet, Kolonnenkräfte gegen Kolonnenkräfte kämpfen zu sehen, nicht wahr?« Peet Matabiaus Frage klingt nüchtern, ohne erkennbare Emotion. »Es scheint sich in der Kolonne einiges getan zu haben seit der Schlacht um Athaniyyon.«
Ich bin überrascht, dass er offenbar mehr über die Geschichte der Terminalen Kolonne weiß, als ich gedacht habe. Vielleicht hat er sie seit unserem Abenteuer im Mauritiussystem studiert.
Die Schlacht zwischen den Ordnungs- und Chaosmächten, von der er spricht, liegt über zweihundert Kalenderjahre zurück, für uns immerhin noch etwa fünfzig Jahre, wenn wir die Zeit abziehen, die wir in der Proto-Chaotischen Zelle im Innern von Evolux verbracht haben. Aber was bedeutet schon Zeit für jemanden, der in ein anderes Universum geworfen wird? Genauso gut könnten die Kolonnenschiffe, die wir beobachten, versprengte Kräfte sein, die frisch aus der Schlacht um das Kosmonukleotid TRYCLAU-3 kommen, oder aus einer Zeit, die in einem anderen Universum eine Million Jahre in der Zukunft liegt.
Noch immer wehre ich mich zu akzeptieren, was ich sehe.
Matabiau scheint das zu spüren. »Kann es sein, dass TRAITOR in konkurrierende Gruppen zerfallen ist?«
Ich kann es mir nicht vorstellen. Etwas lahm entgegne ich: »TRAITOR ist eine große Einheit. Ganz TRAITOR ist unser Feind.«
Skeptisch blickt er mich an.
Tendoron meldet sich. »Wir haben den Funkverkehr der Kolonnenraumer ausgewertet.«
Natürlich hat er das. Ich selbst bin es gewesen, der dem positronischen Hirn der CALAMAR die Codes eingegeben hat, die dazu notwendig waren.
»Demnach ergibt sich folgendes Bild«, fährt Tendoron fort. »Die Angreifer sind Piraten, Abtrünnige. Es gibt von denen sogar mehrere Fraktionen, die einander bekämpfen. Ihnen geht es um die Fracht in den Transportschiffen.«
Matabiau blickt mich von der Seite an. »Dein Vater hat vor gut zweihundert Jahren TRAITORS Anführer getötet.«
Mein Verstand sträubt sich gegen das Unvorstellbare.
Mein Erster Offizier analysiert deshalb weiter. »TRAITOR ist seither womöglich ein zwar mächtiger, aber kopfloser Heerwurm. Die zanken sich um irgendwelche Ware wie kleine Kinder. Was wird aus einer Streitmacht des Chaos, wenn sie nichts mit sich anzufangen weiß?«
Das kann nicht sein. Die Kolonne erleidet zwar manchmal Niederlagen. Die Völker der Milchstraße beispielsweise konnten TRAITOR einst zurückschlagen. Besiegt ist TRAITOR indes niemals. Die Terminale Kolonne folgt ihrem Ziel, unbeirrbar, in allen Zeiten, in allen Universen.
Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf den wrack geschossenen Transporter. Er ist nicht die KOLBORRO, die Skapalm-Bark, nach der ich suche. Aber vielleicht kann er mich zu ihr führen. Mit den Fingern ziehe ich das Bild im Holo groß: ein rauchender, durchs Weltall taumelnder Kegelstumpf.
»Wir nehmen uns die zerstörte Einheit vor«, sage ich bedächtig. »Ich brauche Informationen darüber, was bei allen Geistern des Universums da wirklich vor sich geht.«
Matabiau drängt sich vor mich. »Hast du nicht gehört? Die prügeln sich um die Ware in den Frachtern. Es wird hier bald von Piratenschiffen wimmeln.«
Ich klopfe meinem Ersten Offizier freundschaftlich auf die Schulter. »Und wir sind dank unseres genialen Potenzial-Architekten Curcaryen Varantir immer noch unsichtbar. Wir müssen eben schneller sein als die.«