Читать книгу Mission SOL 2020 / 6: Das Licht in der Tiefe - Olaf Brill - Страница 8
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In den Minen, Tage später
Cin
Kelx war nicht wiedergekommen. Von einem Tag auf den anderen blieb er verschwunden, als hätte der Stein ihn verschluckt.
Er kehrte nicht zurück in den Stollen 101.011, und als Cin am Ende ihrer Schicht in anderen Tunneln suchte, war auch dort keine Spur von Kelx zu finden.
Ein grober Kerl, dessen Montur so schwarz war, als habe er monatelang gekratzt, scheuchte sie davon: »Du hast hier nichts zu suchen. Geh dahin, wo du hergekommen bist!« Er flog halb in ihre Richtung und drohte mit dem Schlageisen.
Da stieß sie sich lieber ab und schwebte schnell davon, bis sie um die nächste Ecke war.
Grübelnd ging sie durch einen krummen Korridor, der nur von ein paar Laternen in weiten Abständen beleuchtet wurde. Ihr kleiner Körper warf lange Schatten auf den Boden. Sie fühlte sich einsam, dreckig und verbraucht.
Cin streifte die schmutzigen Handschuhe ab, verstaute sie im Gehen in einer Tasche des Skaphanders, griff mit ihren Krallen in den Sammelbeutel und betrachtete im Schein der Helmlampe die grauen Klumpen, die sie aus dem Stein geholt hatte. Keine schlechte Ausbeute für diesen Tag.
Ohne Kelx brauchte sie etwas Trost. Sie beschloss, einige der Steine sofort gegen Critts zu tauschen. Davon konnte sie sich in der Schlafstadt Salatblätter und vielleicht eine Beere kaufen. Sie hatte es wahrhaftig verdient, mal wieder etwas Leckeres zu essen, nicht immer nur diese trockenen Knabberstangen.
Das Höhlensystem verzweigte sich. Nach einer Weile kam sie in den Hehlerbezirk der Ebene 101, wo die Laternen noch weiter auseinander hingen, oft waren sie ganz ausgefallen oder flackerten bloß noch. In dunklen Nischen blitzten manchmal kleine Lichter auf. Dort wurden geheime Geschäfte abgeschlossen. Es konnte fast alles gegen alles getauscht werden. Selbstverständlich machten die Hehler stets das profitablere Geschäft. Cin wäre besser beraten gewesen, wenn sie die gesamte Tagesbeute behalten hätte, bis Händler in die Schlafstadt kamen, die höhere Preise boten. Aber sie wollte sofort ein wenig Geld.
Krächzend kam ihr ein Conductor entgegen, eines jener mechanischen Wesen, welche die Transportkörbe bedienten und deren Gefühle sie nicht erkennen konnte. Er trug nicht die Insignien eines Aufsehers, sondern war offenbar außer Dienst unterwegs. Was mochte ein Conductor von einem Hehler wollen? Seine toten Augen blickten nur kurz zu ihr auf, als er sich an ihr vorbeischlich. Soweit Cin es im Halbdunkel erkennen konnte, waren seine Körperplatten schmutzig und stumpf, seine Gelenke knarrten bei jeder Bewegung. Vielleicht war er irgendwann aussortiert worden und nie von Ebene 101 weggekommen.
Die Körper der Conductoren waren so massig, dass sie kaum vom Boden abhoben, wenn sie sich bewegten. Er verschwand in dem Stollen, aus dem Cin gekommen war. Das Knarzen hallte noch eine Weile von den Wänden wider und ebbte dann ab.
Sie bog um eine weitere Ecke – und war im Bezirk von Kirnog, bei dem sie schon einmal Erz gegen Critts getauscht hatte.
Kirnog war ein kräftiger Doliutoer, kaum größer, aber doppelt so breit wie Cin. Er trug einen speckigen, roten Mantel mit spitzem Kragen, der edel aussah im Vergleich zu den Skaphandern der Erzkratzer. Sein Gesichtsfell war makellos blau. »Du bist dreckig!«, höhnte er. »Wascht ihr Kratzer euch nie?«
Sie verkniff sich eine böswillige Entgegnung. Was dachte sich dieser Schwachkopf, wie Erzkratzer nach dem Tagewerk aussahen? Sollte er sich doch eine Arbeit in der Flirrenden Stadt suchen oder gleich an der Oberfläche, wenn er so bedacht auf saubere Kleidung und reinliche Gesichter war!
Doch nichts davon warf sie ihm entgegen. Sie war müde und wollte nur die Critts, um sich in ihrer Schlafhöhle eine kleine Belohnungsmahlzeit zu gönnen.
Sie griff in ihren Sammelbeutel, holte ein paar Steine der Tagesbeute heraus und streckte sie Kirnog auf der flachen Hand entgegen. »Ich hab das hier!«, sagte sie mit fester Stimme.
»Das bringt nicht viel!«, beschied Kirnog schnell. »Fünf Critts! Was hast du sonst noch?«
»Fünf Critts? Das ist nicht dein Ernst!«
»Was ihr da um die Ecke aus dem Stein holt, ist eben nichts wert! Anderswo bekomme ich viel bessere Ware für fünf Critts. Zeig doch mal, wie viel du noch in deinem Beutel hast!«
Alles. In dem Beutel war alles, was sie erspart hatte. Sie ließ ihre Schätze nicht unbewacht in der Schlafstadt zurück.
Er streckte die Krallen nach ihr aus.
Cin schlug seine Hand weg. »Ich geb dir nur das hier ... Wie viel willst du für zwei Critts?« Dafür konnte sie sich wenigstens eine Beere kaufen.
Kirnog zupfte mit gespielter Empörung den Mantel zurecht und rief nach hinten: »Glaubt ihr das? Die Kleine hat mich geschlagen!«
Cin erschrak. Ein sofortiger Fluchtreflex setzte ein.
Doch als sie herumfuhr, schwebten mit großen Hüpfern schon zwei kräftige Kerle heran. Sie trugen lederne Skaphander, die edler und sauberer als ihr eigener waren.
Der eine stieß sie so heftig, dass sie zurücktaumelte und beinahe zu Boden stürzte.
Geistesgegenwärtig schloss sie die Faust um die grauen Steine in ihrer Hand – zuerst, um sie einfach nur festzuhalten. Zu spät kam ihr der Gedanke, sie einem der Burschen ins Auge zu schleudern.
Da waren die beiden schon heran. Einer krallte sich in ihre Schultern und drehte sie mit einem Ruck wieder zu Kirnog herum. Er hielt sie so fest, dass sie die Arme nicht mehr rühren konnte.
»Zeig her, hab ich gesagt!«, fuhr Kirnog sie an. Er riss ihr den Sammelbeutel vom Gürtel und schüttete den Inhalt in seine Hand. »Na sieh mal an, dafür gebe ich dir ...«
Cin presste die Finger fest auf die Steine in ihrer Faust.
»... genau null Critts!«
Der Kerl hinter ihr verstärkte seinen Griff und schüttelte Cin, bis sie nicht mehr konnte. Sie ließ die Steine in der Faust los.
Sie purzelten auf den Boden, sprangen von dort wieder ein kleines Stück empor, fielen erneut herab und kullerten ins Dunkle.
»Lass mich sofort los, du Steinfresser! Das könnt ihr nicht ...«
Der Kerl, der sie festgehalten hatte, schleuderte sie dem anderen in die Arme. Der versetzte ihr einen Schlag auf die Brust und einen in den Magen.
Cin ging keuchend und weinend zu Boden. »Das ist gemein, ihr seid gemein ...«
Einer der beiden Schläger hob die heruntergefallenen Steine auf und warf sie in einem eleganten Bogen Kirnog zu. Er besaß nun nicht nur, was sich Cin an diesem Tag erarbeitet hatte. Er hatte alles, was sie sich über Monate und Jahre vom Mund abgespart hatte.
»Hau ab, und komm wieder, wenn du mehr hast. Vielleicht bezahlen wir dich dann sogar!« Damit ließen sie Cin liegen und verzogen sich in die Dunkelheit. Sie lachten, als ob sie gerade viel Spaß miteinander hatten.
Cin schluchzte hemmungslos.
*
Cin wusste nicht, wie lange sie umhergetaumelt war. Jedenfalls war sie tief in einen Seitengang des Tunnellabyrinths geraten. Er war so niedrig, dass dort niemand mehr kratzte. Das war es, was sie suchte: Dunkelheit und Einsamkeit.
Sie stützte sich an den Wänden ab, tastete sich ziellos voran. Es war ihr egal, ob sie noch den Weg in ihre Schlafhöhle fand. Sie wollte bloß ins Dunkel und dort liegen bleiben.
Ihre Helmlampe war beim Sturz beschädigt worden und flackerte nur noch. Abgrundtief erschöpft, schaltete Cin sie aus. Mit etwas Glück würde sie die Lampe am nächsten Tag reparieren können. Sonst musste sie viele Critts für ein neues Gerät bezahlen – Critts, die sie nicht mehr hatte – oder im Schein der Lampen anderer Minenarbeiter nach Erz kratzen, was so gut wie keinen Ertrag versprach.
Leise wimmernd, ließ sie sich auf den Boden sinken. Ihre Wehlaute hallten aus der Tiefe des Stollens wider. Sie war völlig allein an diesem Ort. Es war so finster wie in der Schlafhöhle.
So saß sie eine Weile da, bis sie langsam zur Ruhe kam. Sie atmete ein und wieder aus, ein und wieder aus ...
Wenn Kelx doch bei ihr gewesen wäre! Kelx ...
Sie schloss die Lider, wollte nur noch, dass gnädiger Schlaf sie umfing.
Öffnete sie wieder. Sah einen blauen Schimmer.
War es eine Illusion – ein Streich, den die gereizten Nerven ihr spielten? Schlief und träumte sie?
Sie riss alle drei Augen weit auf.
Da war es, ganz klar: ein blaues Leuchten ringsum, das langsam waberte, fast wie ein unheimliches Lebewesen. Und dann, ganz plötzlich, strahlte die gesamte Höhle in blauem Schein. Überall glitzerte es wie von Tausenden Edelsteinen.
Cin hielt den Atem an, richtete sich verblüfft auf. Was auch immer da gerade geschah, es war wunderschön.
Das blaue Leuchten, das Licht in der Tiefe, war warm und wie ein Freund. Es umgab sie, strahlte aus den Wänden, durchdrang sie wie ein Atemzug ...
Und auf einmal wusste sie – wusste genau –, was da geschah: Kelx! Das ist Kelx!
Er schickte ihr eine Nachricht, wollte bei ihr sein. Nahm irgendwie Kontakt zu ihr auf.
Sie hatte sich Kelx schon immer besonders nah gefühlt. Wenngleich sie auch die Stimmungen der anderen Erzkratzer spüren konnte – seine waren stets am deutlichsten gewesen.
Deshalb hatte sie keinen Zweifel, dass es tatsächlich Kelx war, der die Höhle leuchten ließ. Er wollte ihr mitteilen, dass es ihm gut ging. Oder war es etwas anderes, was er ihr sagen wollte?
Nach einer Weile verlor das helle Leuchten an Intensität, der Höhepunkt war überschritten. Dennoch glomm die Höhle weiterhin in sanftem Schein. Sie konnte auch ohne Helmlicht ihre Hände und den Felsen sehen.
Und da bemerkte sie einen einzelnen Felsbrocken, der immer noch ein auffällig starkes Leuchten verströmte.
Vor ihr glühte nichts weniger als das größte Stück Erz, das sie je gefunden hatte. Das musste ein Zeichen sein! Kelx hatte von ihrer Not erfahren, hatte sie irgendwie hierhergeführt!
Verwirrt tastete sie nach dem Schlageisen an ihrem Gürtel. Mit rasanten Hieben schlug sie das Erz aus dem Stein. Splitter flogen zur Seite, standen eine Weile in der Luft und sanken dann langsam zu Boden. Selbst ohne das taube Gestein blieb ein kopfgroßer Brocken übrig. Als drohe noch einmal jemand, ihn ihr wegnehmen, versteckte sie ihn blitzschnell im Sammelbeutel.
Kelx hatte sie aus dem Elend geholt. Sie besaß nun mehr als zuvor. Endlich konnte sie die Stahlhacke kaufen, die sie schon seit Jahren haben wollte ...
Sie hielt inne. War das wirklich, weshalb Kelx ihr half? Dann griff sie bedächtig nach der Außentasche des Skaphanders. Dort, wo sie den Schatz aufbewahrte, der nicht in Kirnogs Hände gefallen war.
Sie holte den Zettel hervor, den Kelx ihr überlassen hatte. Immer noch konnte sie jedes Detail erkennen, auch wenn der blaue Schein in der Höhle zunehmend fahler geworden war.
Sie sah den Schmutz, der sich an den Falzstellen gesammelt und ein schwarzes Gittermuster aufs Papier gepresst hatte.
Unter dem Muster war das Bild, das Kelx gezeichnet hatte: ein gebogener Untergrund, über dem ein rundes Objekt stand. Strahlen gingen von ihm aus. Wie Licht. Wie Wärme. Das, wonach Kelx sich immer gesehnt hatte. Die Wärme, nach der auch Cin gesucht hatte, als sie in die Höhle gestolpert war.
Sie wusste aus Erzählungen, was das runde Objekt auf dem Zettel darstellen sollte. Ein seltsames Objekt namens Sonne. Das große Licht an der Oberfläche des Steins. Wenn die Erzählungen stimmten, war sie warm und wunderschön.
Cin wusste nun genau, dass Kelx die Sonne gefunden hatte. Er lebte unter freiem Himmel, und es ging ihm gut.
Langsam erlosch der blaue Schein, die Höhle fiel wieder in Dunkelheit, und nur noch ein ferner Reiz flimmerte über Cins Netzhaut.
Sie traf eine Entscheidung.