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6. Kapitel

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Winfried Vogel, der Hausarzt von Eva Ritter, hatte seine Praxis in einem jener würmchenverputzten Häuser, deren antiseptischer uniformer Anstrich vermutlich ein jahrhundertealtes, wunderschönes Fachwerk verbarg. Doch wie bei so vielen Hausbesitzern in Hessen fehlte Vogel schlicht das Interesse oder das Geld, um sich die Mühe zu machen, es freizulegen. Vielleicht wollte er aber auch nur die Konformität dieser Straße nicht stören, in der sich selbst die Geranien langweilten.

Eva parkte am Straßenrand und zog den Schlüssel aus der Zündung. Einen Moment lang spielte sie zögernd mit dem Schlüsselbund. Sollte sie hineingehen?

Es war nicht so, dass Eva eine Abneigung gegen Ärzte hatte. Mit Winfried Vogel kam sie sogar sehr gut aus. Bis auf das eine Mal, als er ihrer Tochter, die damals noch im Vorschulalter war, für eine Grippe gleich einen Antibiotika-Hammer verpassen wollte. Wie eine der Hexen aus Macbeth war sie damals zischelnd um seinen Schreibtisch herum gehüpft und hatte ihn als pharmaabhängigen Quacksalber beschimpft. Er war etwas eingeschnappt, aber es hatte gewirkt. Vogel entschied sich für ein herkömmliches Präparat, Corinna war nach einer Woche wieder auf dem Damm und eigenartiger Weise entwickelten Eva Ritter und Winfried Vogel nach dem Vorfall ein fast schon freundschaftliches Verhältnis.

Trotzdem gehörten Ärzte für Ritter zu einer jener Berufsgruppen, bei denen der Umgang mit ihnen ihr beinahe körperliche Schmerzen bereitete. Ob es so etwas wie Praxisangst gab, dachte sie. Sie stellte es sich so ähnlich wie Flugangst vor. Aber das war es nicht allein. Je öfter sie mit Ärzten zu tun gehabt hatte – und sie zählte dazu all die Forensiker und Leichenbeschauer, die ihr in ihrer Berufslaufbahn begegnet waren – desto mehr war sie zu der Überzeugung gelangt, dass man auf Ärzte verzichten konnte, wenn es nicht gerade darum ging, den Blinddarm herauszuschneiden oder Umleitungen für verstopfte Arterien zu legen. Bei der Mehrheit aller Krankheiten waren Ärzte entweder machtlos oder genauso hilfreich wie alte Hausmittel. Nach sieben Tagen war der Infekt vorbei, ob mit oder ohne Besuch beim Doktor.

Sie stieg aus, ließ die Tür hinter sich zufallen, wie üblich ohne das Auto abzuschließen, zog sich, ohne sich darüber so recht bewusst zu werden, am ziselierten gusseisernen Geländer der fünfstufigen Treppe zum Eingang der Praxis hoch, schob die Haustür auf, worauf sie nach zwei weiteren Schritten bereits vor der Anmeldetheke des Empfangs stand. Wie jedes Mal, wenn sie die Praxis betrat, blieb sie für einen Augenblick stehen und versuchte die Gerüche zu vergessen, die sich in dieser Sekunde in ihrer Nase festklebten. Es war diese Mischung aus Verbandmaterial, Salben, Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln, mit denen sich die alten Möbel vollgesogen hatten. Es war ein Geruch von Krankheit, Leid und Schmerzen. Wenn der Tod ein Aftershave benutzte, dann müsste es so riechen.

Die Sprechstundenhilfe war eine hochgeschossene, leicht untergewichtige Brünette. Wahrscheinlich bekommt sie diesen Geruch selbst mit Duschen nicht mehr aus der Haut, dachte Eva. Vielleicht war sie deshalb etwas auffällig geschminkt. Noch auffälliger aber war das Tuch aus Tigerfellmuster, das sie locker um den Hals gelegt trug. In einem Anfall von Klischeebildern sah Eva vor ihrem geistigen Auge zunächst ein goldenes Fußkettchen an den Fesseln der Frau. Daraufhin zeigte das Bild in ihrem Kopf die Frau zusammen mit dem Hausarzt nackt und stöhnend auf einer Patienten-Liege. Eva war sich sicher, dass sie der Wahrheit damit ziemlich nahe kam.

Sie grüßte kurz, legte ihre Versichertenkarte auf den Tisch, und Frau Schubert – entzifferte Eva Ritter auf dem Namensschild – winkte sie zu einem der Behandlungszimmer durch.

Das war eben ein Vorteil als Privatpatientin, die noch dazu eine Freundin des Hauses war. Es gab kurzfristige Termine außer der Reihe. Sogar wenn die Praxiszeit fast herum war.

Sie klopfte kurz am Rahmen der ledergenoppten Tür zum Sprechzimmer und trat dann einfach ein. Das Zimmer wirkte weniger wie ein Praxisraum, sondern eher wie das Zimmer eines asiatischen Wunderheilers. Die gläsernen Vitrinen hinter dem Schreibtisch aus Akazienholz waren gefüllt mit kleinen goldenen Figuren hinduistischer Tempeltänzerinnen und Buddha-Figürchen aus Kirschholz. Rechts an der Wand hing ein pastellfarbener tibetischer Wandbehang mit einem abstrakten Symbol. Ein weiterer Wandbehang gegenüber schien in einem wilden bunten Durcheinander aus Dämonen, Zauberern und Fantasiegestalten einen Arzt bei einer chirurgischen Handlung zu zeigen. Zumindest ein Hinweis, dass es sich hier um das Zimmer eines Arztes handelte. Auf dem kleinen mit Messing umrahmten Rauchglastisch neben dem Stuhl lag für den Besucher ein altes Anatomie-Buch in einem verwitterten ledernen Einband. Dem Zustand und der lateinischen Schrift nach zu urteilen aus dem gleichen Jahrzehnt wie die wurmzerfressene, mannshohe hölzerne Ganesha-Figur neben dem Fenster, die den Gott der Weisheit mit einem Elefantenkopf zeigte und jenen Patienten ein wenig Atmosphäre bieten sollte, die bei Vogel ihre kostspieligen fernöstlichen Heilbehandlungen privat abrechneten.

Das Buch mit seinen altertümlichen Vorschlägen nutzte Vogel immer wieder als Requisite, wenn ein Patient zu sehr an der Diagnostik und dem Heilungsverlauf herummäkelte, um auf die Begrenztheit des ärztlichen Wissens hinzuweisen. Eva konnte ihm zu seiner Bewertung nur beipflichten.

Vogel saß am Schreibtisch und starrte konzentriert in den Flachbildschirm, der in dieser Umgebung wirkte, wie Fassbier in der weinseligen Rüdesheimer Drosselgasse. Seine weißen Haare schimmerten leicht bläulich vom Bildschirmlicht, das die römische Nase noch profilierter wirken ließ. Die Nickelbrille war weit nach vorne auf die Nasenspitze gerutscht und gab ihm zusammen mit seinem spitzen Kinn beinahe das Aussehen eines Alchimisten, der in seinem Labor nach dem Stein der Weisen fahndet.

»Abrechnungen«, stöhnte er, lehnte sich kurz in seinem Stuhl zurück, schob die Nickelbrille zurück auf den Nasensattel und stand auf, um Eva Ritter zu begrüßen.

Beide umarmten sich freundschaftlich.

»Wie geht es dir?«, fragte Vogel und hielt sie mit beiden Armen einen Moment auf Abstand, als wolle er sie eingehend mustern. »Nun, für eine Großmutter wirkst du heute jedenfalls recht jugendlich.«

Eva löste sich aus seinem Griff, trat einen halben Schritt zurück und sah ihn überrascht an.

»Moment mal. Großmutter? Bist du heute auf eine erschreckende Art ungalant oder bin ich im falschen Film?«

Winfried Vogel blickte für einen Moment schweigend zu Boden, rückte dann seine Brille mit beiden Händen nochmals gerade und lächelte unsicher.

»Ich dachte, sie hätte es dir schon gesagt.«

»Ich bin also im falschen Film. Mir hat niemand etwas gesagt.«

»Wahrscheinlich hat sie es nur vergessen.«

»Ja, das hört man häufiger, dass Kinder vergessen, dass sie schwanger sind und dann natürlich ihre Mütter nicht informieren«, ätzte Eva.

»Wahrscheinlich hat sie nur noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden.«

»Als wenn es dafür einen richtigen Zeitpunkt gäbe.« Sie fuhr sich mit der Hand ärgerlich durch die Haare. »Wie lange weißt du es schon?«

»Seit Anfang letzter Woche«. Er überlegte kurz und bewegte sich dabei wieder hinter den Schreibtisch, um vor möglichen Wutausbrüchen sicherer zu sein.

»Sie war am Montag bei mir in der Sprechstunde, weil sie erkältet war und wissen wollte, was sie in der Schwangerschaft noch einnehmen darf.«

»Und es hat dich nicht gewundert, dass eine lesbische Patientin plötzlich schwanger ist?«

Er versuchte ein Lächeln. »Natürlich hat mich das gewundert. Ich habe auch beiläufig nach dem Vater gefragt. Aber sie hat nur herumgedruckst. Sie tat so, als müsse sie erst einmal mit dir reden.«

»Von wegen. Welcher Monat?«

Eva schnaubte verächtlich und ließ sich kraftlos auf den Stuhl fallen.

»Sie ist im vierten Monat. Ich war selbst völlig überrascht. Sie würde auch jetzt noch problemlos in Größe 36 passen. Kaum eine Spur von Bauch.«

»Vierter Monat«, wiederholte Eva tonlos. »Da hatte sie ja noch nicht allzu viel Gelegenheit ihre Mutter aufzuklären.«

»Du weißt wie Kinder sind.«

»Eben. Ich hatte immer die leise Hoffnung, mein Kind wäre anders. Natürlich war dieser Glaube unbegründet.« Sie lehnte sich im Stuhl zurück. »Was gibt es sonst noch für überraschende Nachrichten? Bist du in der Diagnose meiner Muskelschwäche weitergekommen? Was macht die Biopsie?« Dabei machte sie ein möglichst sachliches Gesicht, als ginge es hier um das Alibi eines Verdächtigen in einem Handtaschenraub. Sie hatte sich geschworen ruhig zu bleiben. Wenn die Krankheit schon ihren Körper tyrannisierte, sollte sie wenigstens keine Macht über ihren Kopf bekommen.

Vogel holte sich die Akte auf den Bildschirm. Er drückte sich Daumen und Zeigefinger gegen die Stirn, als wollte er dort eine Schublade aufdrücken.

»Es ist wirklich sehr eigentümlich. Deine Blutwerte sind wie bei einem Patienten nach einem Herzinfarkt. Aber nach allem was wir wissen, hattest du keinen Infarkt. Ein bisschen zu wenig Eisen. Deine Leberwerte sind auch etwas außer der Reihe. Zu viel Rotwein?«

Er sah sie mit prüfendem Blick an. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich denke, man kann das tolerieren. Ganz sicher ist es keine Multiple Sklerose. Der neurologische Befund hat nichts ergeben. Was das angeht, musst du also keine Befürchtungen haben. Du endest jedenfalls nicht wie Stephen Hawking oder Jörg Immendorf. Es spricht einiges für eine Stoffwechselstörung. Ich sage das mit aller Vorsicht.«

»Ich kann dir kaum folgen. Wie kommst du gerade auf diesen Maler und diesen Starphysiker Hawking?«

»Einige deiner Anfangssymptome sind sehr ähnlich wie bei ALS, Amyotrophe Lateralsklerose. Ursache unbekannt und Verlauf höchst unterschiedlich. ALS zerstört die Nervenbahnen der Muskulatur, bis zur völligen Lähmung. Heilung gibt es bislang nicht. Jörg Immendorf hatte sich im Endstadium in China Embryonalzellen spritzen lassen. Das ging groß durch die Presse. Einige Experten hatten diese Zellen als Wundermittel angepriesen. Der Erfolg war gleich Null. Aber wie gesagt, nach den neurologischen Ergebnissen können wir das ausschließen.«

»Das beruhigt mich jetzt sehr, dass ich mir kein verquirltes Affenhirn oder anderes ekelerregendes Zeug spritzen lassen muss und ich am Ende eben aus anderen Gründen eine Krücke brauche«.

Eva sah ihren Arzt abwartend an.

Als dieser nicht sofort antwortete, rückte sie mit ihrem Stuhl näher an den Tisch heran. »Ein bisschen dürftig als Ergebnis, nachdem du mich wochenlang von einem Labor ins nächste geschickt hast.«

»Dummerweise ist das Ergebnis der Biopsie noch nicht eingetroffen. Dann hätten wir Gewissheit.« Vogel klickte mit der Maus unwirsch durch die Krankenakte, tippte zweifelnd auf die Tastatur, und blätterte dann nochmals durch den Korb mit der Briefpost auf dem Schreibtisch. Er nahm jedes Blatt in die Hand, als würde er das Ergebnis der Suche nicht schon kennen.

»Frankfurt hat mir das Ergebnis seit Tagen zugesichert. Aber es ist nichts da. Auch kein Eingangsvermerk.«

»Willst du mir schonend beibringen, dass ich mir im Krankenhaus ein Stück Fleisch zur Diagnose aus dem Oberschenkel schneiden lasse und sie schaffen es nach drei Wochen immer noch nicht, das Ergebnis zu liefern?«

»Sieht ganz danach aus. Ich werde gleich morgen einmal dort anrufen.«

»Ich habe eine bessere Idee. Ich rufe dort selbst an, und dann mache ich erst das Labor und dann die Buchhaltung rund. Wozu bin ich schließlich Privatpatientin? Wenn ich beim Labor selbst nichts erreiche, packe ich sie zumindest mit dem Geldargument, wenn ich mein Geld zurückfordere.«

Sie lehnte sich wieder zurück.

»Und was sagt deine Erfahrung? Wie könnte die Diagnose aussehen?«

Sie merkte wie Vogel für einen Moment auf das Buch auf dem Beistelltisch starrte, dann schien er es sich anders zu überlegen und sah ihr direkt in die Augen.

»Um ehrlich zu sein – ich weiß es nicht. Es gibt gerade im Bereich der Muskulatur hunderte von Möglichkeiten. Es kann vergleichsweise harmlos sein oder sehr ernst. Wir brauchen das Ergebnis der Biopsie. Alles andere wäre Kaffeesatzleserei.«

Eva Ritter schien sich mit der Antwort zufrieden zu geben. Sie waren an einem toten Punkt. Wie in Ermittlungen, bei denen etliche Hinweise auf dem Tisch lagen, die aber alle nicht in eine konkrete Richtung deuteten, einen mutlos im Nebel tappen ließen und man wusste, dass es genau einen kleinen Hinweis brauchen würde, um ein klareres Bild zu bieten.

Scheinbar ohne Zusammenhang fragte sie deshalb, »Hast du schon von dem Mord an Jens Lücker gehört?«

»Nein, wann denn? Ich hatte den ganzen Tag Patienten hier.« Er breitete die Arme aus, als wollte er die Länge der Warteschlange beschreiben. Sie erzählte ihm, was passiert war.

»Und jetzt ziehst du in deiner Freizeit wieder als Ermittlerin los?«

Sie achtete nicht auf den Einwurf.

»Kanntest du ihn? Gehörte er zu deinen Patienten?«

Die Frage war nicht grundlos. Vogel genoss einen hervorragenden Ruf. Und er akzeptierte nur Privatpatienten. Wer es sich leisten konnte, der ging zu ihm. Lücker konnte es sich leisten. Es war also einen Versuch wert.

»Ich kann ja mal nachsehen.« Vogel gab den Namen im Computer ein.

»Ja. Er ist kürzlich hier gewesen.«

»Und?«

»Eva, ich bitte dich«. Vogel sah sie mit gespielter Entrüstung an. »Ärztliche Schweigepflicht«.

»Er ist tot. Was soll das also noch.«

»Du weißt selbst, dass die Schweigepflicht auch über den Tod hinaus andauert«.

Sie sah ihn schmollend an und schob dabei leicht die Unterlippe nach vorne.

Er schüttelte nochmals den Kopf und machte ein Zeichen, dass er nun weiter arbeiten müsse. »Melde dich, wenn du etwas in Sachen Biopsie hörst. Und zieh beim Rausgehen bitte die Tür richtig zu. Frau Schubert ist schon weg. Ich habe sie gerade gehen gehört. Sonst schlüpft noch jemand hier herein und wühlt in den Krankenakten, während ich hier hinten noch arbeite.«

Hatte Eva richtig gesehen, war da ein spitzbübisches Blinzeln hinter der Nickelbrille? Sie bedankte sich, winkte kurz mit der Hand und meinte verschwörerisch: »Ich werde Corinna von dir grüßen.«

Dann huschte sie durch die Tür. Am Empfang trat sie kurz hinter die Anmeldetheke, orientierte sich rasch am Ordnungssystem des cremefarbenen Registerschranks und fand schnell die Buchstaben K bis M. Die Akte von Lücker hatte sie nach einem flinken Blättern gefunden.

Sie war nicht dick. Eva klappte die Papphülle auf und suchte nach der letzten Eintragung. Gott sei Dank wurden die inzwischen nicht mehr per Hand hingekritzelt, sondern stets in den Computer eingegeben und dann auf das Formular ausgedruckt. Sonst hätte sie den Eintrag nie lesen können: Malaria Prophylaxe. Darunter noch weitere aktuelle Impfeinträge. Es las sich wie ein Lateinlexikon.

»Na, Herr Lücker, wo wollten wir denn hin? Ihr Chef denkt, Sie seien viel zu geschäftig, um an Urlaub zu denken und Sie präparieren sich für exotische Ausflüge«, murmelte Eva und stopfte die Akte zurück an den Platz.

Keine feine Gesellschaft

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