Читать книгу Fälschung - Ole R. Börgdahl - Страница 6

3 Nuku Hiva

Оглавление

Am nächsten Morgen frühstückten sie alle gemeinsam. Florence war zusammen mit der Familie aufgestanden. Simon reichte ihr ein Brötchen. Marc spielte am Tisch. Florence hatte ihm aus Paris eine Actionfigur mitgebracht, die es anscheinend in Deutschland nicht zu kaufen gab. Er war begeistert und kündigte an, die Figur gleich morgen mit in die Schule nehmen zu wollen.

»Florence war das erste Mal in so einem Studio«, erklärte Colette.

»Es war herrlich«, bestätigte Florence. »Schwimmen und ausruhen kann ich natürlich auch zu Hause, aber es ist schon etwas anderes, wenn man sich ganz abschotten kann. Und dann war natürlich auch die Massage toll.«

»Wie hieß die noch gleich?«, fragte Simon.

»Hawaiianische-Lomi-Lomi-Nui«, sagte Colette.

»Das passt ja zu dir, Florence. Und was bedeuten die Worte?«

»Nui ist eigentlich der Begriff für groß und Lomi bedeutet wohl kneten oder so ähnlich, also die große Knet-Massage.«

Sie lachten.

»Genauso habe ich mich auch gefühlt«, stöhnte Colette. »Aber hinterher hat man schon gemerkt, wie angenehm und entspannend es war. Ich werde die Lomi-Lomi-Nui auf jeden Fall noch einmal wiederholen und ich werde auch alle anderen Massagen einmal durchprobieren.«

»Nicht, dass man dich noch zerfleischt, Liebling«, sagte Simon lachend.

Colette stieß ihn an und er wich lachend aus.

»Wann geht denn heute deine Maschine«, fragte Simon schließlich. Er sah auf die Uhr, als wenn er auch gleich ins Büro aufbrechen wollte.

»Die Maschine nach Paris hebt um zehn ab. Von dort geht es dann um eins Richtung New York und über Los Angeles nach Tahiti.«

»Oh, schöne Reise. Ich würde an jedem dieser Orte aussteigen und ein paar Tage bleiben.« Simon versuchte die Melodie von »New York, New York« zu pfeifen.

»Das habe ich schon alles hinter mir«, sagte Florence. »Diesmal möchte ich einfach nur nach Hause. Ich bin jetzt fast schon drei Wochen fort, da bekommt man langsam Heimweh.«

»Eigentlich müssten wir dich doch einmal besuchen«, schlug Simon vor.

»Oh, das ist eine gute Idee, Liebling«, sagte Colette fröhlich. »Lass uns im Sommer was anderes machen, als nach Italien zu fahren.«

Simon schaute sie an. »Meinen Italien-Urlaub lasse ich mir nicht nehmen, aber wir können doch im Herbst oder im Frühjahr mal daran denken. Wann ist denn die beste Reisezeit für die Marquesas und vor allem, wann wird es dir denn am besten passen?«

Florence sah ihn an und überlegte. »Es gibt zwar eine Art Regenzeit, etwa wenn Ihr hier Sommer habt, aber ab September wird es weniger.«

»Na siehst du, Schatz«, sagte Simon euphorisch, »wir fahren im Juli wieder nach Jesolo und dann in den Herbstferien oder vielleicht sogar über Weihnachten in die Südsee.«

»Das ist doch eine gute Idee, über Weihnachten«, bestätigte Florence.

»Und wie lange braucht man, bis man bei dir da auf der anderen Seite der Welt ist?«, fragte Simon. Er überlegte. »Eine Mitarbeiterin aus unserer Buchhaltung war letztes Jahr in Australien. Das ist ja ungefähr die Richtung. Auf jeden Fall ist sie mehr als zwanzig Stunden geflogen.«

»Mit den Zwischenstopps, also New York und Los Angeles, bin ich jetzt sogar gut zwei Tage unterwegs und dann bin ich auch erst auf Tahiti und muss dort übernachten, bevor ich auf die Marquesas weiterfliegen kann. Also so schnell seid ihr nicht bei mir, aber das ist doch egal, dann bleibt ihr eben drei oder vier Wochen, oder solange ihr wollt. Ihr könnt schon Anfang Dezember kommen. Ich lade euch ein, ich würde mich wirklich sehr freuen.«

»Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, dass es so lange gedauert hat«, sagte Colette. »Aber es ist ja schon mehr als zehn Jahre her, zehn oder sogar zwölf Jahre, dass ich Florence einmal auf ihrem Island besucht habe, das war noch vor unserer Zeit, mein Schatz.«

»Zwei Tage, vielleicht sogar drei.« Simon sah Colette an und verzog die Mundwinkel. »Glaubst du, das schaffen wir, Liebling.«

»Natürlich, ich schaffe das.« Colette legte ihre Hand auf Simons Schulter. »Damit die Reise nicht zu einseitig wird, machen wir tatsächlich noch Zwischenstation in New York, da wollte ich immer schon einmal shoppen gehen.«

»Abgemacht, Florence«, sagte Simon fröhlich. »Du bekommst bald Besuch. Jetzt muss ich aber los, ins Büro.«

Die Frühstücksrunde löste sich auf. Simon nahm heute Morgen wieder das Cabriolet und half noch die schweren Koffer in den Kombi zu wuchten. Marc wollte selbstverständlich mit zum Flughafen fahren. Alles, was sich um Flugzeuge drehte, war zurzeit sein Lieblingsthema. Er wollte unbedingt auf die Aussichtsterrasse, um die startenden Maschinen zu beobachten. Bis sie endlich vom Zuhause der Halters losfuhren, wurde es langsam sogar knapp. Florence durfte die Mittagsmaschine nach New York auf gar keinen Fall verpassen. Sie musste auch noch die Koffer aufgeben, die sie erst auf Tahiti wiedersehen sollte. Als sie am Schalter der Air France stand, machte Colette noch ein letztes Foto, ein Abschiedsfoto. Sie hatte die Kamera immer noch bei sich. Die Frauen umarmten sich, Marc bekam einen Kuss auf die Stirn und Florence entschwand durch das Gate. Sie ging mit ihrer Reisetasche durch die Gepäckkontrolle, winkte noch einmal und verschwand dann in einem Korridor, der sie zu ihrem Ausgang bringen sollte. Als Colette ihre Freundin das letzte Mal sah, war sie kaum fünfzig Meter von ihr entfernt. In wenigen Tagen würden es wieder fünfzehntausend Kilometer sein, erstaunlich dachte Colette. Marc drängte jetzt auf die Besucherterrasse.

Später sahen sie dem Start einer Air-France-Maschine zu, in der Florence sicherlich saß. Colette musste ihrem Sohn zuliebe noch fast zwanzig Minuten in der Kälte auf der Terrasse aushalten. Später wollte er auch noch in das kleine Luftfahrtmuseum, sodass sie den Flughafen erst gegen Mittag wieder verließen.

Zu Hause angekommen dachte Colette an etwas, das sie sofort erledigen musste, weil sie es sonst bestimmt vergessen würde. Sie hielt den Fotoapparat in der Hand und ging damit in das Arbeitszimmer ihres Mannes. Eigentlich war es ihr beider Arbeitszimmer. Sie nutzte es hauptsächlich tagsüber und Simon nur am Wochenende, dennoch war die gesamte Einrichtung von Blammer bezahlt worden. Selbst wenn das Telefon oder der Computer oder die anderen Bürogeräte eine Störung hatten, kam eine Firma, die auch bei Blammer die Hard- und Software betreute, und brachte alles wieder in Ordnung. Colette schaltete ihren Laptop ein. Sie besaßen zwei Geräte. Eines hatte Simon immer dabei, das andere stand im Arbeitszimmer und wurde nur von ihr benutzt. Hier hatte sie die Schulungsunterlagen gespeichert, die sie für ihren Unterricht an der Wirtschaftsakademie brauchte. Aus der Schreibtischschublade holte sie ein Kabel, mit dem sie die Digitalkamera an den Laptop anschloss. Das Programm, mit dem Colette die Bilder herunter auf den Computer speichern konnte, startete automatisch. Sie wollte die Fotos nur kopieren und nicht gleich von der Kamera löschen. Sie wählte die Option alle Bilder kopieren und ließ das Programm den Befehl abarbeiten. Die Aufnahmen begannen über den Bildschirm zu rattern. Das Herunterladen würde einige Minuten dauern. Colette verließ das Arbeitszimmer, um nach Marc zu sehen.

Als sie nach fünfzehn Minuten zurückkam, war das Übertragen der Bilder bereits erledigt. Colette wollte sich die Aufnahmen der letzten beiden Tage später in Ruhe ansehen, jetzt hatte sie nur noch vor, die Bilder an Florence zu mailen. Die E-Mail-Adresse hatte sie in einem Adressordner gespeichert. Die beiden Frauen schrieben sich regelmäßig. Ganz früher waren es noch Briefe, doch seit einigen Jahren hatte sich der Kontakt über das Internet als praktischer erwiesen. Es ging schneller und so würden die Fotografien auch lange vor Florence auf den Marquesas eintreffen. Die Datei mit den Bildern hatte eine Größe von fast zehn Megabytes und es dauerte einige Zeit, bis der Sendevorgang abgeschlossen war. Colette schaltete den Laptop wieder aus. Die Digitalkamera gehörte ihrem Mann. Er hatte sie aber bis heute Morgen noch nicht vermisst. Colette ließ die Kamera einfach auf dem Schreibtisch liegen. Simon würde sie spätestens am Abend dort finden.

*

Florence hatte die Mittagsmaschine nach New York genommen. Der Flug von Paris Charles-De-Gaulle zum John F. Kennedy International Airport dauerte genau acht Stunden, sie verlor aber wegen der Zeitverschiebung nur zwei Stunden. Am frühen Abend ging es weiter nach Los Angeles, sechs Stunden Flug, noch einmal drei Stunden Zeitverschiebung. Florence innere Uhr kam immer mehr durcheinander. In Los Angelos hatte sie in einem Radisson Hotel am Airport übernachtet. Der Anschlussflug nach Tahiti ging erst am nächsten Vormittag. Der Airbus der Tahiti Nui brauchte acht Stunden. Beim Landeanflug auf die Insel zog das Flugzeug in einer Rechtskurve an der kleineren der beiden Vulkaninseln vorbei. Die schmale Landverbindung zwischen Tahiti Nui und Tahiti Iti mit dem Dorf Afahiti war deutlich aus der Luft zu erkennen. An der Südküste vorbei ging es schließlich in Richtung Faaa. Als die Maschine auf dem Flugplatz landete, rechnete Florence zusammen. Sie war vor einundvierzig Stunden aus München abgeflogen und noch immer nicht ganz zu Hause. Sie fuhr mit dem Bus nach Papeete hinein. Es war noch früh. Sie brachte ihre Reisetasche ins Hotel und ging dann zu Fuß in den Hafen. Sie verbrachte den Abend in einem Café am Boulevard Pomare. Sie beobachtete die vor Anker liegenden Kreuzfahrtschiffe und bewunderte die schönen, luxuriösen Yachten. Obwohl Schiffe und Yachten nichts Besonderes in ihrer Inselwelt waren, gab es wohl nur auf Tahiti, im Hafen von Papeete eine derartige Vielzahl zu sehen. Interessant war es auch, die Menschen zu beobachten. Neben amerikanischen, europäischen und japanischen Kreuzfahrern, die in den Hafen strömten, fanden sich immer auch Weltenbummler und Aussteiger ein. Florence genoss das Treiben. Auf dem Rückweg zum Hotel kam sie an den Geschäften und kleinen Marktständen vorbei, die der Touristen wegen auch in den Abendstunden noch ihre Waren anboten. Gegen halb zehn war sie wieder auf ihrem Zimmer und legte sich sofort schlafen. Am Morgen konnte sie sich an einen Traum erinnern. Sie sah sich über Hügel und Bäume fliegen. Nicht in einem Flugzeug oder in einem Hubschrauber, nein, ganz leise, so als könne sie selbst fliegen. Es war eine Hügellandschaft mit zum Meer hin steilen Küsten. Sie glitt über kleine Buchten mit weißen Stränden und über Klippen, die zum Meer abfielen. Sie konnte sogar Fische im Wasser erkennen. Im Traum hob sie den Kopf und sah über das weite Meer. Sie spürte die Sonne auf ihren Rücken scheinen. Es war schön und sie fühlte sich entspannt. Als sie am Morgen erwachte, musste sie an ihren Strand auf Nuku Hiva denken. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber der Strand war, immer der Ort, an den sie die meisten Erinnerungen aus ihrer Kindheit hatte. Sie liebte es noch heute, im Sand zu sitzen, im Schatten einer Palme und hinaus auf das Meer zu blicken. Es gab Plätze, von denen aus sie Ua Pou sehen konnte, zwar nur ganz schwach, aber wenn man wusste, wo die Insel lag, dann war es auch einfach sie am Horizont auszumachen.

*

Florence saß wieder in der Abflughalle und sah sich ihre Notizen aus Paris an. Sie dachte über ihre Reise nach, über die vergangenen drei Wochen. Die erste Woche war noch sehr anstrengend gewesen. Die Tage waren lang. Der Messebesuch, das lange Laufen durch die Messestände, die unzähligen Gespräche mit den Firmenvertretern. Auch abends war das obligatorische Treffen mit den Delegationsteilnehmern nur die ersten Tage eine Abwechslung. Die zweite Woche war schon angenehmer. Sie hatte sich an alles gewöhnt. Vor allem störte sie die Zeitverschiebung nicht mehr so sehr. In der zweiten Woche war sogar ein ganzer Tag für einen Ausflug nach Versailles reserviert. Obwohl viele Teilnehmer den Ausflug mitmachten, bot sich hier die Gelegenheit, auch einmal allein in den weitläufigen Gärten spazieren zu gehen und etwas zu entspannen. An diesem Tag war das Wetter für Mitte März sogar überraschend gut.

Florence steckte die Schreibmappe in ihre Tasche zurück. Auf dem Tisch vor ihr lagen einige tahitianische und polynesische Magazine. Die Zeitungen hatten fast alle einen Lokalteil, der neben Bora Bora, Moorea und weiteren Archipelen auch über die Marquesas berichtete. Sie musste schmunzeln. Ein Artikel handelte über die missglückte Anlandung eines Geländewagens. Das Fahrzeug sollte von einem Lastenponton auf den Quai gefahren werden und war dabei abgerutscht. Die Hinterachse war bei dem Aufprall gebrochen. Der Eigentümer des Neuwagens hatte daraufhin die Annahme verweigert. Florence las auch über die archäologischen Ausgrabungen, die seit einiger Zeit auf den Marquesas durchgeführt wurden. Es handelte sich dabei um die Freilegung alter Kultstätten und Steinskulpturen. Es wurde regelrecht ein Programm ins Leben gerufen, das auch dazu diente, die Inseljugend mit den Ausgrabungs- und Freilegungsarbeiten zu beschäftigen.

Eine halbe Stunde später saß Florence bereits im Flugzeug. Die Turboprop-Maschine nahm schnell Fahrt auf. Nach vielleicht dreihundert Metern hob sie ab. Die Maschinen, mit denen die Tahiti Nui flog, waren vielseitig einsetzbar. Nicht immer wurden ausschließlich Passagiere mitgenommen. Oft bestand die Ladung sogar größtenteils aus Fracht, mit denen die Marquesas versorgt wurden. Heute war kein Touristentag, an dem die Maschine in der Regel voll besetzt war. Neben Florence waren nur neun weitere Passagiere an Bord. Die hinteren Sitzreihen waren herausgenommen und der entstandene Stauraum mit Kisten und Kartons ausgefüllt worden. Spanngurte sicherten die Ladung und ein kleiner Vorhang trennte die Fluggäste von der Fracht. Die Tragflächen, an denen die beiden Propellermotoren befestigt waren, lagen über der Kabine, sodass der Blick aus dem Fenster frei war. Aus der Luft wurde noch einmal die endlose Weite des Pazifiks deutlich, in der sich die Inseln Polynesiens verloren. Der Flug auf die Marquesas dauerte viereinhalb Stunden. Florence hing gerade ihren Gedanken nach, als ein Mitreisender auf dem Platz vor ihr die Inseln entdeckte. Schräg voraus war die Ausdehnung der gut zehn Hauptinseln zu sehen, vom Süden her, beginnend mit Fatu Hiva. Etwas weiter südöstlich folgte das berühmte Hiva Oa mit dem Ort Atuona. Hier lagen die Gräber des Malers Paul Gauguin und des belgischen Chansoniers Jacques Brel. Atuona war auch das erste Ziel, das die Maschine der Tahiti Nui anflog. Der Aufenthalt sollte keine zehn Minuten dauern. Passagiere stiegen weder ein noch aus, lediglich die Fracht wurde um zwei Kisten erleichtert. Florence war sitzen geblieben und beobachtete die Leute auf dem Flugfeld. Sie atmete die warme, feuchte Luft ein, die durch die offene Kabinentür in das Innere des Flugzeugs strömte. Es war ihre Luft, ihr Zuhause. Wenig später verschloss der Pilot die Kabinentür wieder. Das Flugzeug holperte über die Piste und hob schließlich ab. Mit einer Linkskurve ging es wieder hinaus auf das Meer.

Die südliche Marquesas-Gruppe, zu der auch Hiva Oa gehörte, umfasste insgesamt sechs Inseln. Noch weiter südöstlich lagen Ua Pou, Ua Huka und schließlich Nuku Hiva, die bereits zur nördlichen Marquesas-Gruppe zählten. Neben Hiva Oa und Nuku Hiva besaßen auch Ua Pou und Ua Huka einen Flugplatz für reguläre Flugzeuge. Hubschrauber konnten dagegen überall auf den Marquesas eingesetzt werden. Am nördlichsten lagen die sehr kleinen Inseln Hatu Iti, Hatutaa, Motu One und Eiao, die am Horizont kaum auszumachen waren, obwohl die Maschine schon dicht an Nuku Hiva herangekommen war. Von diesen Vieren wurde nur noch Eiao von wenigen Hundert Menschen bewohnt. Das Flugzeug befand sich bereits im Landeanflug und brauchte noch etwa zehn Minuten, bis es nach einer leichten Rechtskurve auf die Landebahn zusteuerte. Die gesamte Flugzeit hindurch war es sehr laut, da die Laufgeräusche der Propeller deutlich in die Kabine schallten. Florence war daher sehr froh, als endlich die beiden Triebwerke ausliefen und es stiller wurde. Ein kleiner Flughafenbus fuhr auf das Rollfeld und kam neben der Maschine zum Stehen. Ihm folgte ein LKW, der sich um die Fracht kümmern sollte. Die Passagiere stiegen von der Kabine in den Bus um. Die Fahrt ging zu einem Flachbau, der als An- und Abflughalle des Flugplatzes bei Hinahaa Papa diente. Neben dem Eingang stand ein Jeep. Florence erkannte Maurice Gall, der an der Motorhaube lehnte und zu der Maschine hinübersah. Sie hatte ihn gestern Abend vom Hafen in Papeete aus angerufen. Maurice war der Pilot des Krankenhaushubschraubers. Der Hubschrauber beförderte fast jeden Tag auch Fracht, die für das Krankenhaus bestimmt war, und wurde nicht allein für Krankentransporte eingesetzt. Maurice war ein ehemaliger Militärpilot, wie sicherlich fast alle Hubschrauberpiloten, die auf den Inseln arbeiteten. Er war bereits fast fünfzig, klein, dafür aber drahtig und muskulös. Florence mochte ihn. Sie hatten so manche gemeinsame Tour im Hubschrauber über die Inseln gemacht. Maurice lebte schon seit zwanzig Jahren auf Nuku Hiva. Durch ihn hatte Florence ihre Marquesas aus der Luft kennengelernt. Maurice hatte sich einen Jeep ausgeliehen, wahrscheinlich von jemandem, den er auf dem Flugplatz kannte. Der Hubschrauberlandeplatz war etwa fünfhundert Meter vom Flughafengebäude entfernt. Florence hatte ihm gestern schon ihre beiden schweren Koffer angekündigt. Der Bus hielt einige Meter von dem Jeep entfernt. Bevor die Türen aufgingen, stand Maurice schon bereit, sie zu begrüßen.

»Na mein Mädchen, wieder sicher gelandet?«, sagte er strahlend.

Sie umarmten sich und Florence küsste ihn auf die Wangen.

»Endlich«, sagte sie. »Es ist zwar toll, etwas von der Welt zu sehen, aber der Weg dorthin und wieder zurück ist einfach zu weit.«

»Ich habe jedes Mal Angst, wenn du nach Paris fährst, dass du nicht wiederkommst«, meinte Maurice spöttisch. Er wusste genau, dass dies wahrscheinlich nie geschehen würde.

»Ich glaube das passiert nicht mehr, nicht mehr in diesem Leben«, bestätigte Florence. Sie lachte. »Außerdem habe ich dort ja keinen Privatjet.«

»Oh, Madame, das Lufttaxi steht bereit. Wir brauchen nur noch eure Koffer zu verladen«, scherzte Maurice. »Deine Tasche kannst du mir schon geben.«

Maurice brachte zuerst die Tasche zum Jeep und stellte sie auf den Beifahrersitz. Florence drehte sich um. Der LKW war mittlerweile ebenfalls am Flughafengebäude angekommen. Er hatte nur einen Teil der Fracht aus der Maschine geladen, um zunächst das Gepäck der Passagiere zu bringen. Die Gepäckausgabe erfolgte nicht über ein Transportband, sondern direkt vor dem Flughafengebäude. Die Passagiere stellten sich in eine Schlange und zeigten ihre Flugtickets. Das Gepäck wurde dann direkt aus dem LKW heraus übergeben. Sie gingen gemeinsam hinüber und stellten sich in die Schlange. Bei nur neun Reisenden war Florence schnell an der Reihe. Sie zeigte dem Flughafenmitarbeiter ihr Ticket. Sie hatte gar nicht die Gelegenheit, ihre Koffer selbst zu nehmen. Maurice griff sofort danach und trug sie ebenfalls zum Jeep. Sie fuhren die wenigen Hundert Meter und erreichten die Maschine, die schon für den Start vorbereitet war. Maurice fuhr direkt hinter den Hubschrauber, stieg aus und öffnete die hintere Ladetür. Er klappte die beiden Türflügel weit auseinander. Es standen bereits einige Kartons auf der Ladefläche, direkt neben der Trage. Er schaffte Platz, indem er die vordere Reihe der Kartons vorsichtig nach hinten schob und mit Gurten sicherte. Er lud die Koffer aus dem Jeep und wuchtete sie hoch. Er stellte sie vor die Ladung und sicherte sie ebenfalls mit Gurten. Florence gab ihm noch ihre Reisetasche. Maurice stellte die Tasche zu den Koffern und sicherte sie mit einem extra Gurt. Mit Schwung schlug er die Heckklappen zu und überprüfte noch einmal, ob alles fest verschlossen war.

»Ich fahre den Jeep nur schnell zurück«, sagte er.

Florence nickte. Sie blieb bei der Maschine stehen und sah sich um. Sie sah aufs Meer hinaus. In dieser Richtung lag Hatu Iti, aber sie konnte die Insel natürlich nicht erkennen. Sie war zu weit weg und auch zu winzig. Florence hatte sie bisher nur aus der Luft gesehen. Sie war mehrere Male darüber hinweg geflogen, als sie Maurice nach Eiao begleitete. Es kam eine leichte Brise vom Meer. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Vom Flugplatz her hörte sie ein Hupen. Sie schaute hinüber. Der LKW rangierte immer noch um das Flugzeug herum, mit dem Florence vor zwanzig Minuten angekommen war. Maurice kehrte zu Fuß wieder zum Hubschrauber zurück. Er öffnete die Tür der Kanzel und schwang sich auf den Pilotensitz. Florence stieg von der anderen Seite ein und setzte sich neben ihn. Er gab ihr den Helm mit dem integrierten Mikrophon und setzte seinen ebenfalls auf. Dann klappte er zwei Schalter an der Instrumententafel um.

»Hallo, Florence, kannst du mich über die Kopfhörer verstehen?«, fragte er. »Test, Test, Test.«

»Ja, alles in Ordnung, Test, Test, Test«, bestätigte Florence und hob lächelnd den Daumen.

Florence kannte dieses Prozedere bereits. Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie schon hier auf dem Copilotenplatz gesessen hatte. Maurice hatte ihr auch schon mehr als einmal die Instrumente und Knöpfe erklärt. Sie war sogar schon selbst geflogen, zumindest hatte sie den Steuerknüppel gehalten und hatte unter seiner Anleitung den Hubschrauber geradeaus gelenkt. Bei der Kurve hatte sie das Steuer gehalten und Maurice bediente die Fußpedale.

»Sonst alles in Ordnung bei dir? Bist du angeschnallt?«, fragte Maurice. »Dann starte ich jetzt den Motor.«

Maurice betätigte wieder einige Schalter und drückte dann auf den großen roten Knopf mit der Aufschrift »Engine«. Er musste ihn einige Sekunden gedrückt halten, bis die Turbine ansprang. Das Laufgeräusch wurde immer lauter. Dann kuppelte Maurice den Rotor ein. Die Rotorblätter liefen an und gewannen schnell an Drehzahl, um dann kraftvoll und laut über ihren Köpfen durch die Luft zu schneiden. Spätestens jetzt konnten sich die beiden nur noch über den Sprechfunk verstehen. Maurice trat noch einmal in beide Fußpedale und überprüfte die Funktion des Heckrotors. Über Funk verständigte er sich mit dem Tower. In der Nähe des Flugplatzes brauchte er eine Startgenehmigung. Florence konnte alles mit anhören, auch dieses Prozedere kannte sie so gut, dass sie es hätte selbst ausführen können.

»Ready?«, sagte Maurice schließlich zu ihr.

Er hob jetzt auch den Daumen. Florence nickte und erwiderte das Zeichen. Der Hubschrauber gewann schnell an Höhe. Maurice kreiste über dem Platz. Florence sah unter sich die Turboprop-Maschine der Tahiti Nui. Dann drehte der Hubschrauber ab und sie flogen über die Insel. Ab einer bestimmten Flughöhe konnte sie die gesamte Insel gut überblicken. Sie sah den Mount Tekao, die größte Erhebung und den etwas kleineren Mount Muake. Ihr wurde wieder bewusst, wie klein ihre Welt eigentlich war. Sie überflogen nur wenige Häuser. Zur Küste hin waren mehrere kleinere Dörfer und Orte zu erkennen. Nur der Hauptort Taiohae erstreckte sich über eine größere Fläche. Das Krankenhaus lag am Ortsrand, weit vom Zentrum entfernt. Noch ein Stück weiter außerhalb gab es mehrere bebaute Grundstücke. Eines davon gehörte der Familie Uzar. Es waren fünfzehn Kilometer Luftlinie vom Flugplatz bis nach Taiohae. Der Hubschrauber brauchte dafür keine zehn Minuten. Sie steuerten bereits auf das Krankenhausgelände zu. Ein großes »H« wies den Landeplatz aus. Maurice hielt die Maschine ruhig und ging dann senkrecht tiefer, bis sie sanft auf dem Boden aufsetzten. Er ließ die Rotoren sofort auslaufen. Sie blieben aber noch eine Minute sitzen. Florence nahm ihren Helm ab und Maurice verstaute ihn wieder hinter dem Copilotensitz. Sie hatte ihren eigenen Jeep während ihrer ganzen Abwesenheit auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus stehen gelassen. Beim Anflug hatte sie ihn schon gesehen.

»Ich werde meinen Wagen vorfahren, dann brauchst du die Koffer nicht bis zum Parkplatz schleppen«, schlug Florence vor.

Sie stieg aus und ging in Richtung der Gebäude. Sie hätte noch in der Apotheke vorbeischauen können, aber sie wollte jetzt schnell nach Hause. Sie ging direkt zu ihrem Wagen und fuhr um den Hangar und das Servicegebäude der Hubschrauberstation herum und hielt genau an einem Bein des großen H. Maurice hatte schon die Koffer und die Reisetasche ausgeladen. Er stellte sie auf die offene Ladefläche des Jeeps und deckte sie mit einer Plane zu.

»So Mädchen, jetzt bist du wieder zu Hause.«

Florence stieg aus dem Wagen. »Danke Maurice, danke für den Flug.« Sie küsste ihn wieder auf beide Wangen und stieg dann zurück in ihren Wagen.

Vom Krankenhaus brauchte sie zehn Minuten nach Hause. Sie parkte auf einem Platz vor dem Grundstück. Vom Tor aus führte ein kleiner Weg zu ihrem Haus. Sie beeilte sich, sie wollte sich frisch machen und dann hinüber ins Haupthaus zu ihren Eltern gehen. Bis vor ein paar Jahren hatte sie dort noch selbst gewohnt und sich dann aber auf dem Grundstück ihrer Eltern ein eigenes Haus bauen lassen. Ihr Bruder wohnte mit seiner Familie ein paar Kilometer weiter die Küste hinauf. Sie würde ihn spätestens morgen bei der Arbeit treffen. Die Apotheke hatte auch am Samstag geöffnet, für den Sonntag gab es einen Notdienst. Florence dachte an die Lederhosen, die sie ihrem Bruder gekauft hatte. Einen der Koffer nahm sie sofort mit zum Haus. Sie stellte ihn im Schlafzimmer ab und ging erst einmal unter die Dusche. Eine halbe Stunde später war sie bereits in dem kleinen Pavillon, in dem ihre Eltern mittags oft saßen und etwas aßen. Sie hatte sie gestern Abend das letzte Mal von Tahiti aus angerufen und ihnen mitgeteilt, wann sie wieder daheim sein würde.

»Florence, du siehst müde aus, sieht sie nicht müde aus, Gustave«, meinte ihre Mutter vorwurfsvoll.

Ihr Vater sah seine Tochter an. »Du sollst nicht immer an ihr herumnörgeln, Marie.«

»Es ist schon richtig Papa, ich bin auch müde«, beschwichtigte Florence. »Die lange Reise und dann die Zeitverschiebung. Ich werde wohl nicht lange bleiben.«

»Aber du isst doch noch etwas«, mahnte ihr Vater.

»Ja, ist schon in Ordnung, eine Kleinigkeit kann ich ja noch essen«, gab Florence dem drängen ihrer Eltern nach.

Ihre Mutter nahm einen Teller und Besteck vom Servierwagen und deckte für sie auf. Florence setzte sich. Ihr Vater schenkte Tee ein und reichte ihr den Brotkorb. Sie nahm Käse und Oliven und die Kräuterbutter, die sie so gerne mochte und die ihre Mutter selbst herstellte. Ihr Appetit war doch größer, als sie gedacht hatte. Erst nach gut zwei Stunden verabschiedete sie sich schließlich von ihren Eltern. Sie ging nicht gleich zurück zu ihrem Haus, sondern schlenderte noch durch den Garten, Richtung Meer. Es war schon spät am Nachmittag und immer noch sehr warm. Florence liebte dieses Klima, besonders, wenn von der Küste her ein leichter Wind herüberwehte. Das Grundstück der Uzars lag zum Meer hin an einer Steilküste. Die Klippen waren hier aber nur einige Meter hoch und gingen in einen Sandstrand über, der gut zweihundert Meter breit war. Oben an den Klippen gab es einen Zaun und eine kleine Holztreppe führte an den Strand. Florence ging die Stufen hinunter. Die Klippen begrenzten den Strand bis weit ins Meer hinein und bildeten eine kleine Bucht. Als Kind hatte sie im seichteren Wasser der Bucht schwimmen gelernt. Bis zum letzten Jahr gab es auch einen kleinen Schuppen, in dem die Familie Stühle, Liegen und Sonnenschirme aufbewahrte. Ihr Bruder hatte ihn abgerissen und wollte schon längst einen neuen gebaut haben. Florence setzte sich in den Sand und sah aufs Meer hinaus. Die Sonne hatte bereits ihren höchsten Punkt am Himmel verlassen, strahlte ihr aber immer noch warm und wohlig ins Gesicht. Sie schloss die Augen und musste sich beherrschen, nicht einzuschlafen. Sie hörte das sanfte Rauschen der Wellen, die vor ihr auf den Strand rollten. Jedes Mal, wenn die Gischt schäumte, kroch ihr der salzige Geruch angenehm in die Nase. Sie streckte sich schließlich ganz aus und ließ ihrer Müdigkeit freien Lauf.

Sie wusste nicht, wie lange sie am Strand gelegen hatte und ob sie wirklich eingeschlafen war. Die Zeit war ihr heute nicht wichtig. Als sie die Holztreppe wieder nach oben stieg, stand die Sonne schon dicht über dem Horizont. Sie ging durch den Garten zu ihrem Haus. Sie hatte noch immer keine Lust ihre Koffer auszupacken. Sie setzte sich in einen der Korbsessel auf der hinteren Veranda und trank ein Glas Wein. Es war nicht der Wein, den sie im Flugzeug erhalten hatte. Es war ein Bordeaux, der von einer früheren Reise stammte. Die Sonne ging langsam unter und Florence sah das Meer durch die Bäume glitzern. Die Sonnenstrahlen reflektierten in den sanften Wellen, weit draußen.

*

Das Krankenhaus lag am Rande von Taiohae, etwa fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die Straßen waren innerhalb Taiohaes gut ausgebaut, aber auch in den näheren Randbezirken mit seinen Wohngebieten, gab es geteerte Straßen und Wege. Das typische Bild auf Nuku Hiva und den anderen bewohnten Inseln der Marquesas waren aber unbefestigte Trassen, zumeist nur mit Sand oder Steingeröll aufgeschüttet. Das tropische Klima in diesen Breiten des Pazifiks, mit seinen zum Teil heftigen Regenfällen, konnte die Wege und Straßen leicht zu Schlammpisten verwandeln, die auch mit einem geländegängigen Fahrzeug nur schwer befahren werden konnten.

Das Krankenhaus auf Nuku Hiva bestand aus einem zweistöckigen Hauptgebäude, an das ein langgestreckter Flachbau angesetzt war. Vor dem Gebäudekomplex befand sich außen ein überdachter Weg, der zu den Eingängen der Stationen führte. Im Krankenhaus gab es alle wichtigen Abteilungen und medizinischen Einrichtungen. Eine gynäkologische Station, die Innere Medizin, Röntgenlabor, Augenklinik, Orthopädie. Die Apotheke der Familie Uzar war im Hauptgebäude, unmittelbar im Eingangsbereich des Krankenhauses untergebracht. Für die Menschen auf den Marquesas war eine medizinische Versorgung direkt hier auf den Inseln notwendig und wurde auch hervorragend geleistet. Tahiti als nächstgrößere Metropole lag zu weit entfernt, um im Notfall schnelle Hilfe zu gewährleisten. Die Apotheke bestand nicht nur aus dem Verkaufsraum mit seinen Regalen und Schränken und dem breiten Tresen. Direkt hinter dem Verkaufsraum befanden sich noch Büros, Lagerräume und ein gut eingerichtetes Labor. Seit dem Ausscheiden ihres Vaters führte Florence die Apotheke zusammen mit ihrem Bruder Noël. Florence betrat den Verkaufsraum. Betty Fallon hatte sie bereits gesehen, als Florence ihren Wagen auf dem Parkplatz abstellte. Sie kam ihr entgegen.

»Ich habe Noël gestern noch gefragt, ob du heute zurückkommst und er hat es doch tatsächlich nicht genau gewusst«, begrüßte Betty sie fröhlich.

»Stand es denn nicht im Terminkalender? Außerdem habe ich doch letzte Woche mit ihm telefoniert«, sagte Florence und umarmte Betty.

»Er wusste schon, dass du die Tage zurück bist, aber eben nicht genau wann.« Betty hielt Florence an den Händen und sah sie ausgiebig an. »Wie geht es dir? Wie ist das mit dem Jetlag?«

Florence prustete. »Es geht, noch. Ich fürchte der Jetlag macht sich erst in ein oder zwei Tagen richtig bemerkbar. Auf dem Hinflug war es zumindest so. Wo hast du meinen Bruder gelassen, Betty?«

»Er ist in eurem Büro. Du kannst ihn ja mal aufwecken«, lachte Betty.

Florence ging hinter den Verkaufstresen durch eine Tür, die auf einen Flur führte. Links ging es in das Labor, rechts zu den Lagerräumen. Am Ende des Ganges befanden sich die Büros. Es war ein großer Vorraum mit drei Arbeitsplätzen. Gori Toonon und Yves Clary standen auf und begrüßten Florence. In der kleinen Gemeinschaft ihrer Apotheke ging es freundschaftlich zu. Florence umarmte die beiden Männer und küsste sie auf die Wangen.

»Bei euch alles in Ordnung?«, fragte sie schließlich.

»Bis jetzt ging es noch, bis jetzt«, sagte Gori lachend.

Gori Toonon war der Sohn eines einheimischen Fischers. Seine Familie lebte bereits auf den Marquesas, noch bevor es die Meuterei auf der Bounty gab, wie er selbst immer sagte. Sein Vater hatte mittlerweile ein Lobster-Restaurant und fischte nicht mehr selbst. Das Restaurant war bei Touristen sehr beliebt. Gori hatte auf Tahiti eine Handelsschule besucht und arbeitete als Buchhalter in der Apotheke. Außer ihm hatten Florence und ihr Bruder fast nur Angestellte, die aus den Ureinwohnerfamilien der Marquesas stammten. Eine Ausnahme war Yves Clary. Er stammte aus Marseille und lebte erst seit einigen Jahren auf Nuku Hiva. Er war der älteste Mitarbeiter und überlegte sich ständig, ob er noch in der Südsee bleiben oder wieder nach Frankreich zurückkehren sollte. Yves machte das Controlling und war für die Lagerbestände zuständig. Um den Einkauf kümmerten sich Florence und ihr Bruder selbst.

»Übrigens, Stella hat nach dir gefragt«, kündigte Gori an.

»Hat sie gesagt, was sie von mir will?«, fragte Florence.

»Das soll sie dir lieber selber sagen, aber ich glaube es ist nichts Wichtiges, also Ruhe bewahren«, meinte Gori.

Die Worte: »Also Ruhe bewahren«, verwendete Gori als Standardspruch zu allem und zu jedem. Florence sah sich um. Die Türen zu ihrem Büro und zum Büro ihres Bruders standen wie gewöhnlich offen. Sie konnte sehen, dass ihr Bruder nicht am Platz war.

»Dann habt ihr also auch nichts Neues für mich?«, wandte sie sich wieder an ihre beiden Mitarbeiter.

»Liegt alles auf deinem Schreibtisch, wenn es dein Bruder nicht schon weggefischt hat«, sagte Yves.

»Und wo ist Noël denn nun, in seinem Büro wohl nicht?« Florence sah noch einmal hinüber.

»Hast du schon dem Labor einen Besuch abgestattet?«, antwortete Gori achselzuckend.

Florence schüttelte den Kopf. »Ich wollte zuerst meine Lieblingskollegen begrüßen.« Sie lachte zu ihrer Bemerkung.

»Hey Gori, darauf brauchst du dir nichts einzubilden, ich habe gehört, dass sie das zu jedem hier sagt.«

Florence klopfte Gori zustimmend auf die Schulter. »So Jungs, dann will ich mal nachsehen, ob Ihr mir hier kein Chaos veranstaltet habt.«

Sie ging in ihr Büro, ließ aber die Tür offen. Auf ihrem Schreibtisch lagen tatsächlich nur wenige Unterlagen, einige Zeitschriften und die Post. Die meisten Briefe waren bereits geöffnet. Es waren geschäftliche Sachen, die ihr Bruder oder die anderen Mitarbeiter während ihrer Abwesenheit erledigt hatten. Sie setzte sich in ihren Schreibtischstuhl und blätterte eine Apothekerinformation durch. Sie überlegte schon, sofort im Labor vorbeizusehen, als ihr Bruder das große Büro betrat. Sie reckte den Hals und winkte ihm zu. Noël kam sofort zu ihr. Sie blieb in ihrem Stuhl sitzen und er beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss.

»Schön, dass du dich auch mal wieder blicken lässt, aber ich rate dir, heute noch nicht mit der Arbeit zu beginnen. Das Krankenhaus will Inventur machen und wir müssen mithelfen, die Bestände auf den Stationen zu prüfen. Das gibt wieder ewige Diskussionen.«

Florence verzog das Gesicht. »Es kommt jetzt also doch ein Wirtschaftsprüfer. Wissen die schon wann?«

»Heute Nachmittag gibt es ein Meeting und dann erfahren wir alles von Dr. Clemens. Bis dahin will er zumindest ungefähr wissen, was im letzten Jahr alles an das Krankenhaus geliefert wurde und natürlich auch wofür.«

»Da soll er seine Ärzte fragen«, sagte Florence gleichgültig.

»Ja, schon klar, das wird er ja auch, aber wir sollen mal wieder unterstützen. Das ist ja auch in Ordnung.« Noël legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du brauchst um drei nur mit zum Meeting kommen. Gori und Yves kümmern sich nachher um die Inventur auf den Stationen. Die Schwestern dort wissen auch schon Bescheid.«

»Na gut, ich bin natürlich dabei. Gibt es sonst etwas Neues? Was ist mit der Post, ist das hier alles?«, fragte Florence und tippte auf den Stapel, der auf ihrem Schreibtisch lag.

»Alles schon erledigt, es war nicht viel, nichts, um das du dich noch kümmern müsstest.« Er stutzte kurz und lächelte dann. »Deine Liebesbriefe habe ich natürlich nicht geöffnet.«

Florence lächelte zurück. Sie nahm die beiden ungeöffneten Umschläge und hielt sie hoch. »Du meinst diese Liebesbriefe hier.« Sie sah sich den Absender des Ersten an. »Dieser stammt von der ADD. Du hattest nur keine Lust den Fragebogen selbst auszufüllen, den sie alle drei Monate schicken, stimmt's.«

Sie zog den Zweiten hervor und sah sich auch bei diesem den Absender an. »Oh, das könnte aber etwas sein. Laurent Koss, vielleicht ist es ja ein Monsieur Laurent Koss.«

Sie riss den Umschlag auf, zog den Brief heraus und überflog ihn. »Schade, Laurent Koss ist nur eine Firma für Verbandsmaterial, wieder kein Liebesbrief für mich. Aber was soll's, ich habe ja auch keine Zeit für die Liebe, wo ich in der ganzen Welt herumreisen muss, um meiner Familie Geschenke aus Paris oder München zu besorgen.«

»Geschenke sind immer gut«, tönte Noël begeistert.

»Aber du musst dich noch gedulden«, sagte Florence und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Ich habe Isabelle gesagt, dass du mich heute zum Essen mitbringst, dann verteile ich meine Gaben. Ich verrate dir nur, dass ich für dich etwas ganz Besonderes habe.«

»Das hättest du nicht sagen dürfen. Jetzt kann ich bis Mittag nicht mehr ruhig arbeiten.« Noël lachte.

»Es hilft nichts, du musst dich gedulden«, sagte Florence streng und lächelte dabei. Sie machte eine kurze Pause. »Da fällt mir ein anderes Thema ein, entschuldige. Papa hat gestern Abend etwas angedeutet, wegen der Apotheke. Er wollte aber, dass du mir selbst sagst, wie die Sache steht.«

»Natürlich«, sagte Noël nachdenklich. »Natürlich, es geht dich ja schließlich auch etwas an. Ich fliege nächste Woche wieder nach Tahiti. Ich bin vor zwei Wochen zuletzt dagewesen, als du in Paris warst. Es ist Bewegung in die Sache gekommen. Monsieur Schwarzer hatte noch drei andere Angebote, wie du weißt, offenbar gute Angebote. Es war mehr als ich bereit war zu zahlen. Er hat mich aber angerufen. Es war gleich, nachdem du fort warst. Er möchte gerne, dass ich seine Apotheke bekomme, weil sein Vater und unser Großvater Freunde und Geschäftspartner waren. Ich habe ihm natürlich gesagt, dass es für mich auch etwas bedeuten würde, wenn ich quasi in die Fußstapfen meines Großvaters trete, aber ich habe ihm auch gesagt, dass die Höhe der Abstandszahlung für mich genauso wichtig ist und dass ich nur begrenzte Mittel besitze.«

»Und was hat er daraufhin gesagt, ihr seid euch aber noch nicht einig geworden, oder?« Florence sah ihren Bruder kritisch an.

»Noch nicht. Als ich das letzte Mal auf Tahiti war, haben wir nur über alte Zeiten gesprochen, das heißt, er hat über alte Zeiten gesprochen. Du kennst doch das Haus in der Rue Orleon mit der Apotheke und den beiden Wohnungen darüber. Er hat mir noch einmal alles gezeigt, dass alles in Ordnung sei und dass der neue Besitzer nichts weiter investieren müsste. Er hat mir sogar die Bücher gezeigt. Die Umsätze waren in Ordnung.« Er stutzte. »Nein ich muss sogar sagen, dass sie sehr gut waren.«

»Du meinst also, dass die Ablöse, die er verlangt, durchaus gerechtfertigt ist?«, fragte Florence.

»Durchaus, völlig in Ordnung«, begann Noël plötzlich ein wenig zu schwärmen. »Das Haus wurde in den letzten fünf Jahren nach und nach komplett renoviert. Eine der Wohnungen ist gut vermietet. Eigentlich passt alles.«

»Du weißt, ich möchte natürlich, dass du auf Nuku Hiva bleibst, weil wir beide schon so lange zusammenarbeiten«, sagte Florence mit ernster Stimme. »Nachdem Papa uns das Geschäft überlassen hat, haben wir viel Engagement in alles hineingesteckt und die Apotheke zu dem gemacht, was sie heute ist. Ich könnte hier auch alleine weitermachen, aber wenn du tatsächlich nach Tahiti gehst, wäre es mir gar nicht möglich, dich hier sofort auszuzahlen.«

»Das ist auch nicht notwendig.« Noël setzte sich jetzt auf Florence Schreibtisch. »Das Einzige was ich mit Monsieur Schwarzer bisher ausgehandelt habe, ist, dass ich die Ablöse in drei Jahresraten zahle, vorausgesetzt, das Geschäft kommt überhaupt zustande. Mir geht es nur um die Summe generell. Ich weiß, dass jemand gut anderthalb Millionen Francs mehr bietet als ich.«

»Und was ist mit den Wohnungen. Willst du dort einziehen?«

»Nein, das ist alles zu klein. Monsieur Schwarzer wohnt selbst noch direkt über der Apotheke in einer der Wohnungen. Ich weiß nicht, ob er ausziehen will und ob er Tahiti sogar ganz verlässt. Wir müssen uns wohl etwas auf der Insel suchen. Nächste Woche geht es noch einmal ums Geld und dann werde ich endgültig eine Entscheidung treffen.«

»Vorausgesetzt, es klappt, wann würdest du dann auf Tahiti mit der neuen Apotheke anfangen?«

Noël überlegte. »Isabelle und ich rechnen mit Oktober oder November. Du siehst, ich bin noch eine ganze Weile da, und bevor ich fortgehe, helfe ich dir noch, damit du das Geschäft hier alleine führen kannst. Vielleicht kannst du ja später noch einen Apotheker anstellen, der mit dir zusammen die Arbeiten erledigt, die die anderen nicht machen können.«

»Komisch«, sagte Florence nachdenklich, »das Gleiche hat mir Colette auch empfohlen.«

»Wer?«, fragte Noël überrascht.

»Colette Halter, meine Freundin, die in München lebt, in Deutschland. Ich habe sie vor ein paar Tagen noch besucht.«

Noël nickte. »Hat sie das gesagt? Na siehst du, wenn das schon jemand Fremdes so sieht, dann könnte es doch eine Möglichkeit sein, wobei ich glaube, dass du es auch allein schaffst, ganz sicher.« Er machte eine Pause und erhob sich wieder von ihrem Schreibtisch. »Wir werden sehen, wie es ausgeht. Isabelle würde zwar im Prinzip auch gerne hierbleiben, aber Tahiti reizt sie genauso. Tahiti ist für uns eben ein bisschen, wie anderswo die Großstadt. Es gibt mehr Möglichkeiten, auch für die Kinder. Hier gibt es zum Beispiel keine Oberschule.«

Florence schwieg zu diesem Thema. Sie und ihr Bruder waren auch auf den Marquesas aufgewachsen und es hatte ihnen nicht geschadet. Sicher lag es daran, dass ihre Eltern sich den Privatunterricht leisten konnten, der später das Studium im Ausland ermöglichte. Die gleichen Möglichkeiten hatten aber auch ihre beiden Neffen. Wie immer es ausginge, Florence würde es akzeptieren. Sie würde die Apotheke auf Nuku Hiva auch alleine führen können, schließlich blieben ihr ja noch die Mitarbeiter. Mit ihnen war sie ein eingespieltes Team. Irgendwo klingelte das Telefon. Noël horchte und stellte dann fest, dass es aus seinem Büro kam. Florence ließ sich in ihren Schreibtischstuhl sinken. Sie blickte zur Decke, wo der Ventilator leise surrte. Nach einigen Minuten stand sie auf, mit dem Ziel, im Labor vorbeizuschauen und auch dort kurz Hallo zu sagen.

Fälschung

Подняться наверх