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4 Der Auftrag
ОглавлениеDie Digitalkamera hatte Simon ganz vergessen. Er musste sie vorgestern im Cabriolet seiner Frau liegen gelassen haben. Colette hatte sie gefunden, als sie am nächsten Tag wieder ihren Wagen benutzte und sie hatte sie für ihn zu Hause auf den Schreibtisch gelegt. Er nahm die Kamera und steckte sie ein. Dann fuhr er ins Büro. Heinz Kühler war im Index nicht fündig geworden. Der Index war eine Liste mit Angaben zu gestohlenen Kunstwerken. Das Bild, das ihnen dieser Edmund Linz angeboten hatte, war dort nicht aufgeführt. Ein erstes Ergebnis lag also vor. Die Begutachtung durch einen Experten stand heute Nachmittag an. Noch war es ein ganz normaler Kundenauftrag, sicherlich mit Potential, wie Simon immer gerne sagte, wenn es um Werteinschätzungen der ihnen angebotenen Objekte ging. Simon saß an seinem Schreibtisch und sah sich einige Unterlagen durch, die ihm Frau Hoischen heute Morgen ins Büro gelegt hatte. Er fasste sich an die Innentasche seines Jacketts. Ihm fiel die Kamera wieder ein. Er hatte das Ölgemälde vor zwei Tagen fotografiert, an dem Tag als Edmund Linz es ihm präsentiert hatte. Die Kamera steckte nicht in seinem Jackett. Er hatte sie in seine Aktentasche gelegt, als er auf dem Parkplatz vor dem Gebäude ausgestiegen war. Er bückte sich nach seiner Tasche, die neben dem Schreibtisch lehnte. Er nahm die Kamera heraus und legte sie vor sich auf den Tisch. An der Kamera befand sich eine kleine Klappe, hinter der die Speicherkarte steckte. Er fummelte sie heraus und führte sie in den Kartenleser seines Computers ein. Die Karte funktionierte jetzt wie eine Diskette. Das Betriebssystem reagierte sofort und zeigte den Speicherinhalt an. Als er das Foto von dem Ölgemälde gemacht hatte, mussten sich noch andere Aufnahmen auf der Kamera befunden haben, dachte er, als ihm insgesamt achtzehn Dateien angezeigt wurden. Mit einem Doppelklick öffnete er eines der Bilder. Das Programm benötigte einige Sekunden, bis das Foto angezeigt wurde. Er war nicht überrascht, Colette und Florence vor einem gedeckten Tisch in einem Restaurant zu sehen. Er schmunzelte über die Pose der beiden. Simon ging die einzelnen Aufnahmen durch. Bilder von der Innenstadt und noch eines aus einem Restaurant. Die viertletzte Aufnahme war schließlich das Foto des Ölgemäldes. Er vergrößerte die Anzeige und ging so dicht wie möglich an das Bild heran, ohne zunächst den digitalen Zoom zu benutzen. Dadurch hatte er eine noch recht gute Auflösung. Die Aufnahme war klar, die Bildpixel traten noch nicht hervor. Erst jetzt zoomte er auf dem Monitor einzelne Bereiche des Bildes heran. Er sah noch einmal auf die Signatur und den Titel des Bildes. Er vergrößerte diesen Ausschnitt noch weiter, aber die Auflösung wurde zunehmend unschärfer. Er kopierte sich die Datei schließlich auf seinen Computer, in einen neuen Ordner. Dann löschte er die Fotographie des Ölgemäldes von der Speicherkarte, nahm sie aus dem Lesegerät und steckte sie zurück in die Kamera. Er wollte Colette den Fotoapparat wieder nach Hause mitbringen, weil er nicht wusste, ob sie ihre eigenen Bilder selbst schon gespeichert hatte. Er verstaute den Apparat in seiner Aktentasche. Dann holte er aus der untersten Schublade seines Schreibtisches eine dünne Mappe. Es waren die Unterlagen zu dem Ölgemälde, die ihm Edmund Linz gestern vorbeigebracht hatte. Es handelte sich sowohl um den von Edmund Linz selbst angefertigten Laborbericht als auch um das Gutachten von Professor Lehner aus Augsburg. Er hatte den zweiseitigen Bericht kopiert, bevor Heinz Kühler ihn mitgenommen hatte. Er zog die beiden Gummibänder ab, die die Mappe an jeder Ecke geschlossen hielten, zog die Papiere heraus und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Er fing mit dem Gutachten von Professor Lehner an. Er las sich noch einmal alles in Ruhe durch. Heute Nachmittag sollte eine zweite Expertise angefertigt werden. Diesen Bericht würde der neue Gutachter aber vorher nicht zu sehen bekommen. Simon lehnte sich in seinen Schreibtischstuhl zurück und überlegte. Das Labor würde demnächst auch Materialproben erhalten. Wenn alles auf die Echtheit des Bildes hinwies, würde es die Aufgabe des Kunst- und Auktionshauses Blammer sein, einen Herkunftsnachweis für das Bild zu finden. Hierfür gab es verschiedene Möglichkeiten. Der einfachste Weg war herauszufinden, ob das Bild jemals in irgendeiner Galerie ausgestellt war oder ob es ein Museum oder eine Privatsammlung gab, zu deren Bestand es einmal gehörte, auch wenn Edmund Linz dies bezweifelte. Warum eigentlich, dachte Simon. Es war egal, sie würden diese erste Möglichkeit in Betracht ziehen. Bei der Recherche ging es um Ausstellungskataloge. Wenn das Ölgemälde in einem dieser Kataloge beschrieben oder sogar abgebildet war, so galt dies als Herkunftsnachweis. Am eindeutigsten war aber die lückenlose Historie eines Kunstwerkes. Der Künstler stellt sein Werk selbst aus, verkauft es und es gibt vielleicht auch noch Korrespondenz zwischen ihm und den späteren Eigentümern. Simon erinnerte sich an ein Ölbild von Claude Monet, das der Kunsthalle Bremen gehörte. Es war ein großformatiges Gemälde, das Camille Doncieux, die erste Frau Monets, in einem schwarz-roten Seidenkleid darstellte. Simon erinnerte sich, dass das Bild von 1866 stammte und erst 1906 vom Kunstverein Bremen gekauft wurde. Dass tolle daran war, dass zwischen dem damaligen Kunsthallendirektor Gustav Pauli und Claude Monet eine Korrespondenz existierte, in der Monet sein eigenes Werk und dessen Werdegang beschrieb. Es war ein perfekter Herkunftsnachweis.
Simon las sich die Expertise von Professor Lehner ein zweites Mal durch, hier gab es nichts über die Herkunft des Gemäldes. Er dachte weiter nach. Bei der Überprüfung von Galerien war es schwieriger einen Herkunftsnachweis zu recherchieren. Galerien wurden zumeist privat betrieben. Es waren kleine Unternehmen, die auch kommerziell mit den Bildern umgingen, die bei ihnen ausgestellt waren. Es war ein wenig so wie bei dem Kunst- und Auktionshaus Blammer, nur dass Simon in seiner Firma keine Ausstellungen organisierte oder durchführte. Im Gegensatz zu einer Galerie bewahrten Museen ihre Dokumentation natürlich sorgfältig auf. Bei einer Galerie konnte so etwas verloren gehen, wenn sie unter Umständen im Laufe der Zeit von ihren Betreibern aufgegeben wurden und dann nicht mehr existierte.
*
Simon hatte eigentlich gehofft, dass Claudius Brahm ihm die Arbeit mit dem Herkunftsnachweis abnehmen würde. Claudius Brahm hatte Restaurator gelernt und dann Kunstwissenschaften studiert. Er war noch keine vierzig und damit einer der jüngeren Sachverständigen in der Branche, was sich auch immer an seiner Kleidung ablesen ließ. Er trug selten einen Anzug oder Krawatte und war auch heute wieder in einem lässigen schwarzen Hemd und Bluejeans erschienen. Er war Experte für Kunstwerke des späten Neunzehnten Jahrhunderts. Er hatte darauf verzichtet, an einer Universität zu arbeiten und gar mit einer Promotion sein Fachwissen zu dokumentieren. Er arbeitete sofort nach seinem Studium als unabhängiger Gutachter und war durch einige Expertisen bekannt geworden. Das Kunst- und Auktionshaus Blammer zählte seit Jahren zu seinen Kunden. Darüber hinaus arbeitete er in ganz Deutschland für Museen, Galerien und andere Auktionshäuser.
Simons brennendste Frage galt der Herkunft des Gemäldes. Er hatte gewartet, bis Claudius Brahm das Bild fast eine halbe Stunde lang intensiv betrachtet und untersucht hatte. Heinz Kühler musste ihm eine Stehlampe besorgen, mit der er den Lichteinfall verändern konnte. Simon stand neben den beiden, sagte aber zunächst kein Wort. Claudius Brahm machte sich zwischendurch immer wieder Notizen. Schließlich klappte er seine Mappe zu und schaltete auch das Licht der Stehlampe aus. Simon nahm es als Zeichen und trat an ihn heran.
»Und, was meinen Sie?«, fragte er erwartungsvoll.
»Gab es das schon einmal bei Ihnen?«, begann Claudius Brahm mit einer Gegenfrage. »Ich habe so etwas zumindest noch nie bei einem Haus Ihrer Größe gesehen. Gut, jeder weiß, dass die Stars in Ihrer Branche, die Sotheby`s oder die Christie`s ein solches Potential angeboten bekommen, aber Firma Blammer aus München, entschuldigen Sie, dass ich so direkt bin.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Simon. »Ich gebe ja selbst zu, dass so ein Künstler sonst in einer anderen Liga gehandelt wird, aber es ist dafür ja auch keines seiner berühmten Werke.«
»Ja, Mensch, das ist doch egal«, sagte Claudius Brahm euphorisch. »Sie haben hier wahrscheinlich einen Gauguin, Eugène Henri Paul Gauguin, französischer Expressionist und Symbolist, ein Kind des Impressionismus, ein Begründer der Moderne, Motor einer ganzen Generation von hervorragenden Malern, ein Genie für diejenigen, die es erkennen konnten und noch heute erkennen können.«
Simon sah ihn schweigend an. Er wusste, dass Claudius Brahm immer sehr direkt war. Eine Art, mit der nicht jeder zurecht kam, zumal im Auktionsgeschäft und gegenüber den Kunden immer eine gewisse Würde gewahrt werden musste. Er selbst betrachtete die Sache nüchtern. Es ging ihm nur um die fachliche Arbeit. Ihm war schon bewusst, dass das Gemälde etwas Besonderes war, aber diese Reaktion hatte er nicht erwartet, diese Euphorie überraschte ihn schon ein wenig. Natürlich, ein Werk des Malers Paul Gauguin, das gab es bisher nicht in der Geschichte des Hauses Blammer, aber es gab andere namhafte Künstler, die hier bereits erfolgreich in Auktionen gehandelt wurden. Es gab den Liebermann, Drucke von Klee und Macke, einige alte Niederländer, einen Schüler Rembrandts und noch mehr.
Heinz Kühler unterbrach die Gedanken seines Chefs. »Sie sagten eben wahrscheinlich, wahrscheinlich ist es ein Gauguin, wie meinten Sie das, Herr Brahm?«
»Ich bin Gutachter«, antwortete Claudius Brahm sofort. »Ich habe mich ja erst einige Minuten mit diesem Gemälde beschäftigt. Ich habe zwar nichts gefunden, was dieses Bild als Fälschung entlarven würde, aber noch habe ich meine Expertise nicht geschrieben.«
»Ich denke, das ist uns allen klar«, sagte Simon. »Mich interessiert nur, ob Sie gerade dieses Werk, diesen Gauguin vorher schon einmal gesehen haben, vielleicht sogar wissen, wo er ausgestellt war oder die Vorbesitzer kennen.«
Claudius Brahm schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht.« Er zögerte kurz. »Überrascht Sie das, überrascht es Sie, dass ich dabei noch ganz ruhig bleibe und nicht auch noch euphorisch nach einem Wunder schreie und Ihnen um den Hals falle, weil ich mir einen noch unbekannten Gauguin ansehen durfte, ihn anfassen durfte. Ich hoffe, dass Sie das nicht von mir erwarten?«
»Wie sicher sind Sie sich denn, dass das Bild ein echter Gauguin ist?«, warf Heinz Kühler ein.
»Kein Kommentar, zu diesem Zeitpunkt«, antwortete Claudius Brahm mit einem Zwinkern. »Echt oder nicht echt, das ist immer eine Frage, die nur von vielen verschiedenen Fakultäten gemeinsam beantwortet werden kann. Ich bin hier gewissermaßen nur der Stilexperte.«
»Wir wollen Sie hier nicht jubeln sehen und Ihnen auch keine voreiligen Schlüsse abringen«, sagte Simon. »Es ist nur so, je nachdem, was Sie uns über dieses Bild sagen, müssen wir noch nach einem Herkunftsnachweis recherchieren. Da wäre es mir natürlich lieber, wenn Sie uns gleich mitteilen könnten, wo wir da zu suchen haben.«
»Sie sind ziemlich nackt, was diesen Gauguin angeht?«, sagte Claudius Brahm mit einem spöttischen Unterton. »Eines ist Ihnen doch wohl klar. Wenn ich jetzt bestätige, dass es ein Original ist, so braucht das keinen Wert zu haben. Sobald im Labor festgestellt wird, dass der Künstler seine Farben bei Aldi gekauft hat und die Leinwand eine nylonverstärkte Bespannung hat, erübrigt sich mein Gutachten. Ich würde allerdings bei dem, was ich bisher gesehen habe, den Hut vor unserem Künstler ziehen, wenn es wirklich eine Fälschung sein sollte. Aber um Ihre Frage zu beantworten, ich kenne das Werk nicht. Ich habe auch noch nie über exakt dieses Motiv gelesen oder etwas Ähnliches gesehen.«
»Aber das will nichts heißen, wollen Sie mir sagen«, meinte Simon.
»Wissen Sie, wie viele Bilder Gauguin gemalt hat oder van Gogh«, erklärte Claudius Brahm. »Ich glaube, das weiß keiner so genau. Es gibt zwar Künstler, die noch zu ihren Lebzeiten anerkannt waren und auch gut verkauft haben und bei denen man ziemlich genau weiß, was sie alles produziert haben. Für Gauguin trifft das sicherlich nicht zu. Unser Bild hier stammt von 1902. Da hat er nicht gerade in paradiesischen Verhältnissen im sogenannten Paradies auf einer kleinen Insel im Pazifik gelebt oder besser gesagt dahinvegetiert. Wer weiß, wem er dieses Bild geschenkt hat oder wenn er Glück hatte, verkaufen konnte. Für uns ist Gauguin heute ein bekannter Künstler, aber noch in den zwanziger Jahren war er das bei Weitem nicht. Welchen Weg hat dieses Bild hinter sich? Vor dem Ersten Weltkrieg hing es vielleicht in irgendeinem Wohnzimmer. Danach hat es nicht mehr gefallen oder das Format passte nicht zur Breite der Sitzgruppe, man wollte ein größeres Bild, vielleicht mit einem Hirsch darauf.« Claudius Brahm lachte kurz über seine eigene Bemerkung. »Es kann natürlich auch bei einem Umzug verloren gegangen sein«, fuhr er fort. »Mit viel Fantasie lässt sich noch mehr zu diesem Thema finden. Wenn es dann später einmal wiederentdeckt wurde, hat bestimmt zunächst niemand ernsthaft damit gerechnet, dass das Bild ein echter Gauguin sein könnte. Vielleicht eine schöne Reproduktion, die man behält oder verschenkt oder, um Gottes willen, auf dem Flohmarkt verkauft. Ich glaube kaum, dass ein Privatmann gleich einen Sachverständigen beauftragt und in einem Labor Analysen durchführen lässt. Sie sehen also, es kann durchaus passieren, dass nicht jeder Gauguin zwangsläufig in einem Museum oder in einer bekannten Privatsammlung landen muss. Wie gesagt, mein Urteil steht noch nicht abschließend fest, aber so ein Schicksal kann unserem Bild hier natürlich auch widerfahren sein, denkbar ist es.«
Simon nickte. »Also das Jahr, mit dem das Bild datiert ist, kann demnach authentisch sein?«
»Wenn Gauguin im Jahre 1902 das Pariser Nachtleben gemalt hätte, dann wäre das schon sehr ungewöhnlich, ich sage nicht unmöglich«, erklärte Claudius Brahm. »Das Motiv und die Jahreszahl scheinen authentisch. Die Strandszene passt zu der Pazifikinsel, von der ich gesprochen habe.«
»Welche Insel?«, fragte Heinz Kühler. »Helfen Sie mir bitte auf die Sprünge, ich weiß nur, dass er nicht auf Tahiti gestorben ist.«
»Marquesas, Hiva Oa«, sagte Claudius Brahm trocken. »Gauguin wurde auf Hiva Oa, auf dem katholischen Friedhof des Ortes Atuona beerdigt.« Er senkte kurz den Kopf. »Asche über mein Haupt, ich bin allerdings noch nie dort gewesen, das kann ich mir bei meinem Gehalt nicht leisten.«
Claudius Brahm sah Heinz Kühler an, der ihm zustimmte. Simon dachte kurz an Florence Uzar. Die Freundin von Colette kam von den Marquesas und vielleicht würde Simon mit Colette und Marc das nächste Weihnachtsfest dort verbringen. Er hatte hinter diese Planungen zwar bisher noch immer ein großes Fragezeichen gesetzt, doch jetzt schien es ihm wieder sehr interessant zu sein.
Claudius Brahm räusperte sich. »Gut, Gauguin hat also Elemente aus seiner Umgebung verwendet. Das kleine Mädchen kann allerdings eine Bauerntochter aus der Bretagne sein. Vielleicht taucht sie in irgendeinem anderen seiner Bilder auf, aber dann eben nicht mit diesem Sonnenhut, sondern vielleicht mit einer dieser typischen Hauben und sie trägt ein grobes Arbeitsgewand und nicht dieses eher luftige Kleidchen. So etwas kann man sicherlich nachprüfen und ich werde auch Stichproben machen, vielleicht finden wir dadurch ja sogar schon heraus, wer diese Julie ist.«
»Und was sagen Sie überhaupt zu dem Titel des Bildes?«, fragte Heinz Kühler. »Julie des Bois. Das passt doch eigentlich nicht zu dem, was das Bild zeigt.«
»Auch das hat nichts zu sagen«, warf Claudius Brahm ein. »Es bestärkt mich sogar noch in der These, dass die Kleine eine bretonische Bauerntochter ist. Vielleicht hatten ihre Eltern einen Hof am Waldrand oder in der Nähe eines Waldes oder direkt im Wald. Gauguin hat die Person mit in die Südsee genommen, in seinem Gedächtnis versteht sich. Das Aussehen und ihren Namen hat er beibehalten, den Rest hat er seiner neuen Umgebung entsprechend gemalt. So einfach ist das manchmal. Bevor ich mit meinem Gutachten abschließe, werde ich genau diesen Punkt noch einmal überprüfen. Sicherlich werde ich Ihnen nicht sagen können, wer das Mädchen exakt war, aber ich denke, wenn wir einen Bezug zu einem anderen Werk Gauguins herstellen können, das bereits anerkannt ist, dann haben Sie auch für dieses Bild einen recht guten Herkunftsnachweis. Zum Thema Herkunftsnachweis überlege ich auch gerade, dass es natürlich ein Glückstreffer wäre, wenn es eine Fotografie gäbe, auf der Gauguin mit diesem Werk hier zu sehen ist. Von der ersten Südseereise hat er seine Bilder mit nach Frankreich gebracht. Er hatte sich im Winter 1894 wieder ein Atelier in Paris genommen. Es gibt eine Fotografie, die ihn im Vordergrund, im Profil zeigt. Im Hintergrund ist leicht verschwommen das Gemälde Die Schmollende oder Te Faaturuma zu sehen. So etwas ist selbstverständlich ein super Herkunftsnachweis.«
»Wenn so etwas auftaucht, dann ist das natürlich optimal«, sagte Simon. Er überlegte. »Natürlich wäre es mir lieber, wenn gleich das ganze Bild irgendwo bekannt ist. All das, was Sie eben ausgeführt haben, kann selbstverständlich auch ein geschickter Fälscher wissen und es verwenden, um die Täuschung zu perfektionieren, selbst mit Fotografien lässt sich heute einiges machen.«
Claudius Brahm zuckte mit den Schultern. »Ich kann Ihnen nur eine Sachverständigenmeinung liefern. Ich sagte ja bereits, dass es stark auf die Ergebnisse der Laboranalysen ankommt. Wenn auch nur der kleinste Zweifel besteht, dass zum Beispiel in den Farben etwas drin ist, was da nicht hineingehört, würde ich an Ihrer Stelle sehr vorsichtig sein, egal wie mein Stilgutachten ausfällt, wobei mein Gutachten dann natürlich auch ein entsprechendes Fazit beinhalten wird.« Claudius Brahm überlegte. »Natürlich kann auch mit den Materialanalysen nicht zweifelsfrei die Echtheit des Bildes nachgewiesen werden. Kennen Sie den Fall des doppelten van-Gogh-Portraits?«
»Nein, nicht genau, was meinen Sie?«, fragte Simon.
»Es ging um einen van Gogh aus den Bührle-Sammlungen in Zürich. Es gab ein Selbstbildnis, das van Gogh im Sommer 1888 ursprünglich sogar für Paul Gauguin gemalt hatte. Der Industrielle Emil Georg Bührle glaubte in den Dreißiger- oder Vierzigerjahren eine Zweitfassung ersteigert zu haben. Es existieren aber eindeutige Dokumente, die belegen, dass es nie eine Zweitfassung aus van Goghs Hand gegeben hat und dass das besagte Bild von einer gewissen Judith Gérard stammte. Diese Dame war mit Gauguin bekannt. Vor seiner zweiten Südseereise hat Gauguin das Original des van-Gogh-Portraits bei ihrem Stiefvater zur Aufbewahrung gelassen. Aus irgendeinem Grund hat sich Madame Gérard an dem Bild versucht und die Zweitfassung gemalt. Laut ihrer eigenen Aussage hat sie ihr Werk aber aufrichtig mit ihrem eigenen Namen signiert. Erst Jahre später fand sie das van-Gogh-Portrait dann leicht verändert in einer Ausstellung wieder. Am ungeheuerlichsten war aber, dass ihre eigene Signatur durch eine gefälschte van-Gogh-Signatur übermalt worden war. Es ist also der klassische Fall einer Fälschung, mit dem Unterschied, dass der Schwindel eigentlich bekannt war und dieser Herr Bührle es hätte wissen können, als er mehrere Zehntausend Franken für die Fälschung hingelegt hat.«
»Gut, Sie meinen, unser Gauguin könnte eine ähnliche Historie haben«, stellte Simon fest.
Claudius Brahm schüttelte den Kopf. »Entschuldigung, ich wollte etwas ganz anderes sagen. Madame Gérard war eine Zeitgenossin van Goghs und auch Gauguins. Ihr Bild hätte bei einer Materialuntersuchung glänzend abgeschnitten. Es stammte aus der Zeit um 1899. Sie hat natürlich Zugriff auf die Farben und Leinwände jener Zeit gehabt und auch das Alter ihres Gemäldes stimmt in etwa mit der Schaffenszeit van Goghs überein, Sie verstehen, was ich meine?«
Simon überlegte. »Obwohl ihre Geschichte sicherlich eine Ausnahme ist, werden wir natürlich auch so etwas in Betracht ziehen, nicht umsonst betreiben wir diesen Aufwand mit unserer Recherche.«
»Aber ich will Sie nicht beunruhigen. Eigentlich sieht es doch ganz gut aus.«
Claudius Brahm nickte den beiden zu und sah dann noch einmal über das Ölgemälde. Er schaltete dazu die Stehlampe wieder ein und hielt sie schräg vor die Signatur des Bildes. Simon und Heinz Kühler stellten sich neben ihn und folgten seinem Blick.
»Sie wissen, dass ich früher als Restaurator gearbeitet habe«, sagte Claudius Brahm schließlich. »Mein Interesse gilt daher immer noch gerne dem Material, das heißt, ich achte auch auf Dinge, die viele meiner Kollegen gar nicht wahrnehmen, gar nicht wahrnehmen können, weil sie nie richtig am Objekt gearbeitet haben. Das Bild hier ist ja eigentlich noch nicht so alt, im Vergleich zu einem Rembrandt oder einem Dürer. Die Bildung von Rissen, von Alterssprüngen, also von den sogenannten Craquelés, tritt aber in der Regel schon bei Ölgemälden auf, die älter als vierzig Jahre sind. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Das Erscheinungsbild des Craquelé ist vielschichtiger, es ist fast schon eine Wissenschaft für sich. Neben den Alterssprüngen gibt es Frühschwundrisse, die von der Maltechnik und dem Material abhängen, es gibt Zerrsprünge, Drucksprünge und Spiralsprünge, die von äußeren Belastungen herrühren. Es gibt den Girlandensprung, der schon mit der Aufspannung der Leinwand im späteren Bild verankert ist.«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, unterbrach ihn Heinz Kühler. »Was ist mit den sogenannten künstlichen Craquelés, den gefälschten Craquelésformen?«
»Gut, sehr gut«, antwortete Claudius Brahm. »Also ich will sagen, Ihr Labor sollte besonders auf die Craquelés achten. Sie sollten nach Aufzeichnungen, Aufmalungen oder sogar nach Einritzungen schauen. Bei unserem Objekt hier können Sie sehr schön erkennen, dass die Craquelierung zwar erst in einigen wenigen Bereichen vorhanden ist, aber sie ist vorhanden. Oft ist die Craquelierung jedoch nicht allein altersbedingt. Es wird Stellen geben, da werden sich voraussichtlich niemals Risse bilden, was auch mit der Maltechnik zu tun hat. Vor zweihundert oder dreihundert Jahren, als die Künstler mit Ölfarbe zu arbeiten begannen, wurde damit beinahe modelliert. Darum sehen viele Bilder heute auch wie ausgetrocknete Salzseen aus. Sie verstehen, die Rissbildung ist auf der ganzen Oberfläche zu finden. Wichtig bei dem Gauguin hier ist nur, dass die Craquelés alle echt sein sollten, aber ich denke ein vernünftiges Labor hat einen Blick dafür und Sie werden doch sicherlich ein vernünftiges Labor zur Hand haben, nicht wahr?«
Simon verstand, was Claudius Brahm meinte. Er wusste genau, dass er trotzdem jetzt und hier kein abschließendes Urteil erhalten würde. Wenn er Glück hatte könnte ein vorläufiges Gutachten vorliegen, wenn auch die Laboruntersuchungen abgeschlossen waren. Simon hatte sich zu dem nicht dazu geäußert, woher das Bild stammte oder wem es gehörte. Claudius Brahm hatte auch nicht danach gefragt. Er durfte noch drei Fotoaufnahmen von dem Gauguin machen. Die Diskretion bei diesem Auftrag war dabei selbstverständlich. Claudius Brahm verwendete keine Spielzeugkamera, wie er die kleinen Digitalfotoapparate bezeichnete, die höchstens mit ein oder zwei Megapixeln Auflösung ausgestattet waren, sondern hatte eine Profikamera mit acht Megapixeln, ein Gerät, das bestimmt mehrere Tausend D-Mark gekostete haben musste.
*
Die vorläufige Expertise war schon am nächsten Dienstag fertig. Sie lag in der Post, persönlich an Simon adressiert, so wie er es gewünscht hatte. Bei den Laboruntersuchungen gab es Probleme. Zwei Proben wurden durch Lösungsmittel unbrauchbar gemacht, sodass das Bild einen weiteren Tag im Labor blieb und neue Farbabstriche genommen werden mussten. Das Gemälde wurde dann aber wieder unverzüglich dem Kunst- und Auktionshaus Blammer zurückgegeben. Es dauerte aber trotzdem noch eine weitere Woche, bis endlich der Untersuchungsbericht vorlag. Edmund Linz hatte bereits am Freitag davor nach den Ergebnissen gefragt. Simon konnte ihm nur aus dem Gutachten des neu beauftragten Kunstsachverständigen zitieren. Sie stellten gemeinsam fest, dass sowohl Professor Lehner, als auch Claudius Brahm zu demselben Ergebnis kamen. Der Malstil, die Motivwahl, die Symbolik, generell alle Indizien sprachen für ein Werk aus der Hand des französischen Malers Paul Gauguin. Aber es gab eine Einschränkung, beide Expertisen machten ihre Aussagen von den Ergebnissen der Laboruntersuchungen abhängig. Simon empfahl den Gauguin weiterhin bei Blammer zu verwahren. Er hatte sich Edmund Linz neue Lebensverhältnisse schildern lassen. In Edmund Linz Wohnung gab es keinerlei Möglichkeiten, das Bild vor einem Diebstahl zu schützen, es überhaupt vor irgendetwas zu schützen. Edmund Linz sah es ein. Er hatte selbst auch noch eine andere Überlegung, warum er das Gauguin-Gemälde besser bei Blammer lassen wollte. Er teilte seine Gedanken zwar nicht mit, aber Simon konnte sich schon denken, dass es etwas mit dem Bankrott zu tun hatte. Nach Möglichkeit schwiegen sie sich jedoch über dieses Thema aus.
Als Simon den Laborbericht endlich in Händen hatte, rief er Heinz Kühler zu sich. In dem versiegelten Umschlag, den er bekommen hatte, befanden sich das Original und eine Kopie des Berichts. In der Kopfzeile standen zunächst die Angaben zum Labor und zu dem Untersuchungsobjekt:
Dr. Dr. Mannzahn (Dipl.-Chem.) Mikroanalytisches Labor
Dr. Guller (Dipl.-Phys.) München
Paul Gauguin: Julie des Bois, 50,5 x 51,3 cm
Naturwissenschaftliche Untersuchung zum Malmaterial und zum maltechnischen Aufbau
Simon und Heinz Kühler nahmen jeder ein Exemplar. Es begann mit einer Beschreibung dessen, was das Gemälde zeigte. Alle Objekte, selbst die Darstellung des kleinen Mädchens wurden eher nüchtern beschrieben, ohne jegliche Interpretation des Stils und der Symbolik. Es war schließlich auch ein, auf Fakten aufbauender Bericht und keine Prosa, wie man es oft in den Expertisen der Kunstsachverständigen fand. Die beiden Männer saßen still nebeneinander und lasen gleichzeitig das Gutachten.
Bildträger und Grundierung:
Als Bildträger wurde eine mittelfeste, relativ stark gewebte Leinwand in Leinwandbindung verwendet. Auf einen Quadratzentimeter der Leinwand kommen ca. vierzehn horizontal verlaufende Schussfäden und ca. vierzehn vertikal verlaufende Kettfäden. Die hell vorgrundierte Leinwand ist regelmäßig gewebt, weist aber zahlreiche Fadenverdickungen auf, die sich durch die Malerei durchmarkieren. Auf der linken Seite ist eine Webkante zu erkennen. Spanngirlanden sind an den Rändern nicht festzustellen. Die Leinwandspannung ist sehr gut, da die Leinwand auf einen höchst qualitätsvollen, ausgekeilten Spannrahmen genagelt wurde. Auf dem wahrscheinlich vorbehandelten Bildträger liegt eine dünne, porenfüllende weiße Grundierung, die wahrscheinlich von Hand aufgetragen wurde, auch wenn sie sehr gleichmäßig erscheint. Die Innenseite des Bildträgers zeigt leichte Verschmutzungen und Feuchtigkeitsflecken, die aber nicht auf die Gemäldeoberfläche durchgeschlagen sind.
Vorzeichnung und Farbschichten:
Auf der weißen Grundierung des Bildträgers befindet sich auf dem unteren Drittel eine gelbe und auf den oberen Zweidritteln eine blaue Ölfarbschicht. Die Farbe ist jeweils fast deckend aufgetragen. Auf diesen Schichten wurde dann mit kompakten, aber wenig pastösen Farben die Darstellung alla prima ausgeführt, das heißt also ohne Untermalung und ohne Lasuren. Die Farbe ist zumeist deckend. Der Pinselduktus, das heißt die Pinselführung, ist nur in wenigen Bereichen erkennbar. Ein ausgeprägtes Leinwandcraquelé ist nicht zu erkennen. An einigen Stellen liegen noch schwache Reste eines verbräunten Firnisses in den Tiefen des Leinwandkornes, wie zum Beispiel im rechten unteren Bereich, wo sich auch die Signatur und der Bildtitel befinden. Bei Betrachtung im UV-Licht lassen sich keine Retusche erkennen. Insgesamt lässt sich eine frühere Firnissabnahme und Wiederherstellung bestätigen, die aber professionell durchgeführt wurde.
Verwendete Materialien:
Der Schwerpunkt der Untersuchung lag auf der Identifizierung der verwendeten Pigmente und des Bindemittels. Es wurden gezielt kleine Farbschichtpartikel entnommen und analysiert. Die Identifizierung der Materialien wurde mithilfe mikroskopischer, mikrochemischer und physiko-chemischer Methoden durchgeführt. Hierzu fand der Einsatz der Rasterelektronenmikroskopie mit angeschlossener Röntgenfluoreszenz und Infrarotspektroskopie statt.
Als Pigmente wurden nachgewiesen:
Weiß: Zinkweiß ; Gelb: gelber Ocker ; Orange: Zinnober; Rot: Cadmiumrot und roter Ocker ; Blau: Ultramarin.
Die Grundierung besteht aus Calciumcarbonat und wenig Zinkweiß. Das Bindemittel der Malschichten ist ein Öl.
Zustand des Gemäldes:
Der Zustand des Bildes ist gut bis sehr gut. Die Spannkanten sind gleichmäßig lang. Es gibt keine sicheren Hinweise auf eine frühere Abspannung. Die Haftung der Grundierung zum Untergrund ist gut, es gibt keine sichtbaren Fehlstellen oder sonstige mechanische Beschädigungen, weder am Bildträger noch am Spannrahmen. Die Verschmutzungen an der Rückseite des Bildträgers sind nur sekundär. Das Gemälde wurde mindestens einmal fachgerecht gereinigt.
Ergebnis:
Alle nachgewiesenen Materialien waren am Ende des neunzehnten Jahrhunderts bekannt, und als Künstlermaterialien weit verbreitet.
Das Bindemittel ist nach seinen spektroskopischen Daten durchpolymerisiert und gleichmäßig gealtert.
Die blaue, mit bindemittelreicher Farbe aufgesetzte Signatur erscheint homogen und in einem Zug ausgeführt. Der Bildtitel weist ähnliche Strukturen auf.
Somit geben die naturwissenschaftlichen Untersuchungen keine Argumente gegen eine Zuordnung zu Paul Gauguin.
gez. Dr. Dr. Mannzahn, gez. Dr. Guller
Im Anhang des Gutachtens fand sich dann noch die Aufführung aller Einzelproben. Neben dem genauen Entnahmeort innerhalb der Bildoberfläche wurde auch der Aufbau und die Zusammensetzung der jeweiligen Proben beschrieben, sortiert nach den Farben der Schichtenfolge und der gefundenen Materialien. Auf die letzte Seite waren schließlich noch stark vergrößerte Fotografien der Proben aufgeklebt. Simon legte sein Exemplar des Gutachtens auf den Besprechungstisch und lehnte sich in seinen Stuhl zurück.
»Diese Berichte sind immer so geballt an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen«, stöhnte er.
»Kommen Sie, die Herren haben sich aber wirklich bemüht, alles verständlich auszudrücken«, kommentierte Heinz Kühler. »Ich habe da schon Schlimmeres gelesen. Außerdem müssen Sie sich nur die Seite mit dem Ergebnis genauer durchlesen.«
Simon richtete sich wieder auf, griff nach dem Gutachten und suchte noch einmal die Seite mit der Zusammenfassung und las sich das Fazit des Berichtes erneut durch.
»Es klingt doch eigentlich so, als wenn der Gauguin echt ist«, sagte er schließlich. »Warum heißt es dann aber am Ende, dass es keine Argumente gegen eine Zuordnung zu Paul Gauguin gibt, warum sagen die nicht einfach, dass das Bild ein Original ist?«
»Nichts Genaues weiß man nicht«, zitierte Heinz Kühler und lächelte. Dann räusperte er sich. »Also, Fazit ist doch, dass der Gauguin aus Materialsicht authentisch ist.«
Simon nickte. »Natürlich, so verstehe ich es letztendlich auch, ohne dass wir die Herren Chemiker noch einmal befragen müssten. Soweit so gut.« Er machte eine kurze Pause und atmete hörbar aus. »Jetzt haben wir noch das Problem mit dem Herkunftsnachweis«, sagte er schließlich.
»Gut!«, überlegte Heinz Kühler. »Es gibt zwei Adressen, unter denen eine Recherche Erfolg versprechend ist, einmal in den Tate Galleries und dann noch im Victoria and Albert Museum, beide Institutionen haben ihren Sitz in London und beide verfügen über umfangreiche Sammlungen von Ausstellungskatalogen sowohl der noch existierenden Galerien und Museen als auch der bereits geschlossenen oder zum Beispiel im Krieg ausgebombten Häuser.«
»London wäre doch eine schöne Dienstreise für Sie«, meinte Simon.
»Sicherlich, wenn man zum Trafalgar Square oder zu Madame Tussaud will, aber nicht, wenn man sich in einem staubigen Archiv durch Akten wühlen muss, ich weiß nicht.«
Simon lächelte. »Fahren Sie doch einfach für eine Woche hin. Vielleicht sind Sie schneller fertig als Sie glauben und dann können Sie den Rest der Zeit für ein Sightseeing nutzen.«
Heinz Kühler sah seinen Chef ungläubig an. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, eine Woche bezahlten Urlaub.«
»Oh, das habe ich aber nicht gesagt«, antwortete Simon lachend. »Von Urlaub habe ich nicht gesprochen. Sie sollen schon dort arbeiten. Sie dürfen sich nur ein wenig Zeit lassen, das habe ich gemeint.«
»Nun gut, eine Woche oder maximal vier Tage ist schon realistisch«, rechnete Heinz Kühler. »Für die Recherche selbst benötigt man schon zwei oder drei Tage. Was ich bis dahin nicht ausgrabe, das gibt es dann auch nicht und ich denke gerade das wird auch das Problem sein. Was machen wir, wenn der Gauguin tatsächlich niemals irgendwo ausgestellt war oder nie einem Museum oder einer Galerie gehört hat, wenn er die ganze Zeit in Privatbesitz verschlossen war. Dieser Linz besitzt das Bild doch auch schon seit sieben oder acht Jahren und die Fachwelt hat nichts davon erfahren.«
Simon nickte nachdenklich. »Er hat nicht viel dazu sagen können. Er hat mir auch nicht verraten, wie der Kontakt genau zustande kam. Er hat sich ein- oder zweimal mit dem Verkäufer getroffen und weiß angeblich bis heute nicht, wer es war, oder wie der Mann hieß. Er hat das Bild dann gekauft, nachdem er seine eigenen Materialanalysen gemacht hatte. Es war ihm damals nur wichtig das Bild zu bekommen, nachdem er davon überzeugt war, dass es echt sei.«
»Wie sieht es mit unseren Kosten aus?«, fragte Heinz Kühler.
Simon spitzte die Lippen. »Noch hält sich das Ganze in Grenzen«, antwortete er, »das müssen Sie doch auch zugeben, oder?«
»Gut, was haben das Labor und der Gutachter zusammen gekostet, vielleicht Zweitausend.« Heinz Kühler überlegte. »Die Reise, die ich nach London machen soll, wird auch noch einmal einen Tausender kosten. Das ist in der Tat soweit noch überschaubar.«
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In den letzten anderthalb Wochen hatte Florence ihr Büro nur selten betreten. Sie war viel unterwegs. Bei den Inventurvorbereitungen hatte sie von der Krankenhausverwaltung den Auftrag erhalten, alle Bestände an Medikamenten und medizinischen Geräten, auch in den beiden anderen Hospitälern auf Hiva Oa und Ua Pou zu erfassen. Hierfür war sie allein drei Tage unterwegs. Sie hatten insgesamt nur eine Woche zur Vorbereitung des Termins, an dem der Wirtschaftsprüfer aus Tahiti eine Inspektion des Krankenhausbetriebs durchführen wollte. Die Apotheke hatte zwar ihre Eigenständigkeit, war aber eng mit dem Krankenhaus verbunden. Eine gegenseitige Unterstützung war hier unumgänglich. Alles war gut verlaufen. Das Krankenhaus war zufrieden und auch der Wirtschaftsprüfer hatte nichts auszusetzen. Am Morgen hatte Florence noch mit den Ärzten und der Verwaltung zusammengestanden und den positiven Bescheid aus Tahiti gefeiert. Sie hatte heute Vormittag tatsächlich wieder das erste Mal die Ruhe, ihre Mails am Computer zu lesen. Während das Gerät noch hochfuhr, holte sie sich einen Kaffee. Als sie zurückkam, musste sie feststellen, dass sie ihr Passwort für den Zugriff auf das Netz und auf ihre eigenen Daten, vergessen hatte. Für diesen Fall, der bei ihr immer wieder einmal vorkam, hatte sie in einem Aktenordner, einem richtigen Aktenordner aus Pappe und Papier, unter dem Buchstaben C, ihr Passwort aufgeschrieben. Beim weiteren Hochfahren des Rechners wurden einige Programme aufgerufen, die sie sich in die Autostartdatei gelegt hatte. So wurde gleich das Mailprogramm gestartet und sie hatte sofort Zugriff auf alle neuen Nachrichten, die in der Zwischenzeit eingegangen waren. Es waren über hundert Einträge. Sie begann zu sortieren. Vieles hatte sich bereits erledigt. Es gab sogar schon Mails von den Firmen, deren Stände sie auf der Messe in Paris besucht hatte. Ein Firmenvertreter hatte ihr sogar eine recht persönliche Nachricht geschrieben, in der er sich noch einmal für das Interesse an seinem Unternehmen bedankte. Florence musste an die Bemerkung ihres Bruders denken, obwohl sie sich an den Mann kaum erinnern konnte. Sie ging die Mails weiter durch. Ziemlich zum Schluss entdeckte sie dann eine Nachricht von ihrer Freundin Colette aus München. Sie öffnete die Mail sofort und las sich den Text durch. Colette hatte ihr die Fotografien geschickt. Es waren die Bilder von den beiden Tagen in München. Florence begann eines nach dem anderen zu öffnen. Die Bilder waren sehr schön geworden. Nach der zweiten Aufnahme stellte sie das Anzeigeprogramm auf Vollbild und ließ die Fotos automatisch durchlaufen. Bei einem machte sie halt. Es war die Szene im Restaurant, als sie den Fotoapparat auf den Nachbartisch gestellt hatten und Colette wegen des Selbstauslösers schnell auf ihren Platz zurückmusste. Florence erinnerte sich, dass Colette gestolpert und fast hingefallen wäre. Als sie es gerade noch an den Tisch geschafft hatte, schaute sie ganz verdutzt und blinzelte in das aufflackernde Blitzlicht. Colette hatte anscheinend keine Zensur vorgenommen und ihr auch dieses Bild geschickt. Florence ging zum nächsten Foto und zum übernächsten. Der Torbogen am Sendlingplatz und der Hamburger Fischmarkt mitten in München. Sie konnte sich an die eine oder andere Situation noch gut erinnern. Als sie die achte Datei öffnete, begriff sie nicht gleich. Die Aufnahme zeigte weder sie noch Colette. Sie dachte erst, es sei das Foto eines Buchdeckels, bis sie erkannte, dass es sich um ein gemaltes Bild handelte, um ein Ölgemälde. Sie betrachtete es ausgiebig. Sie dachte erst, dass es ein Spaß sei. Sie schaute das Bild lange an, nicht so sehr das kleine Mädchen mit dem Sonnenhut, sondern mehr die Umgebung im Hintergrund, den Strand und die Palmen. Die Form des Bootes kam ihr bekannt vor. Auf den Marquesas gab es nicht mehr viele dieser Fischerboote. Sie kannte sie aber noch von alten Fotos. Und dann das kleine Mädchen, dieses Gesicht, der Hut, der einen kurzen Schatten auf die glatte Stirn warf. Es konnte jeder Strand auf der Welt sein, jeder mit Palmen gesäumte Strand. Sie wusste nicht, ob es diese Boote auch woanders gegeben hatte oder noch gab. Dann sah sie die Signatur. Es war ihr erst gar nicht aufgefallen. Der berühmte Paul Gauguin hatte auf den Marquesas gemalt und dies war eines seiner Bilder. Warum auch immer Colette ihr dieses Foto geschickt hatte, sie fand das Bild schön und freute sich darüber. Sie überlegte kurz, ob es möglich war, davon einen größeren Abzug zu machen und es ins Büro zu hängen. Es gab in Taiohae mehrere Drogerien, die solche Aufnahmen auf Fotopapier drucken konnten. Sie wollte schon weiterblättern, sah aber noch einmal in das Gesicht des Mädchens. Die Kleine mochte fünf oder sechs Jahre alt sein. Sie schaute so, als habe sie eine Frage gestellt und wartete nun auf eine Antwort. Erst jetzt sah Florence, dass sie den Arm leicht angehoben hatte und etwas in der Hand hielt, etwas, das sie dem Betrachter anscheinend zeigen wollte.
Nach einigen Sekunden blätterte Florence weiter. Das nächste Foto zeigte Colette lachend. Sie selbst hatte diese Aufnahme gemacht. Es folgten noch einige solcher Fotografien, abwechselnd mit ihr oder Colette. Auf dem letzten Foto stand der kleine Marc neben ihr. Er lächelte nicht, sondern sah nur erwartungsvoll in Richtung Kamera. Florence schmunzelte über die Aufnahme, dieser Gesichtsausdruck. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. Sie blätterte über die Tastatur in der Bildershow zurück, bis sie wieder die Aufnahme des Gauguin-Gemäldes fand. Hier stoppte sie. Sie ging mit dem Gesicht näher an den Monitor, nur ein kleines Stück, es war fast unbewusst. Sie kannte das Mädchen. Sie hatte das Kind schon einmal gesehen. Nicht als lebende Person, nein, auch als Bild, auf einer Fotografie, auf irgendeiner Fotografie.
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Es kam eher selten vor, dass Heinz Kühler zu einer Dienstreise außerhalb Deutschlands geschickt wurde. Sein Ziel für die nächsten Tage war London. Als stellvertretender Geschäftsführer des Kunst- und Auktionshauses Blammer durfte er sich immerhin einen Flug in der Business Class und ein Vier-Sterne-Hotel leisten. Dieser Luxus war der Ausgleich für die anstrengende Arbeit, die ihm bevorstand. Noch am Tage seiner Ankunft war sein erstes Ziel die Tate Britain, eine der vier Tate Galleries, die sich in Millbank am Londoner Themseufer befand. Er konnte an diesem Tag noch nicht in die Archive. Er musste sich zunächst eine Benutzerberechtigung besorgen. Das Haus Blammer war Mitglied im Tate-Verein. Seine Mitarbeiter konnten sich daher zeitlich befristet in den Archiven aufhalten, um Recherchen in den umfangreichen Katalogmaterialien durchzuführen. Heinz Kühler füllte im Büro der Tate-Verwaltung den Antrag aus und gab ihn bei einer älteren Dame ab, die nach seinem Pass und dem Firmenausweis fragte. Er übergab ihr die Dokumente und sie notierte sorgfältig seine persönlichen Daten. Die Dame gab ihm schließlich die Ausweise zurück und unterrichtete ihn, dass er am nächsten Tag ab 9:00 Uhr seine Benutzerberechtigung abholen könnte, wenn die Angaben stimmten und die Genehmigung erteilt wurde. Er nahm die bürokratische Hürde gelassen und fand sich tags darauf pünktlich wieder in der Verwaltung ein. Die Berechtigung wurde ihm selbstverständlich erteilt, immerhin zahlte Blammer jährlich mehrere Hundert Pfund Gebühren für die Mitgliedschaft im Tate-Club. Die Archive befanden sich abseits der Ausstellungsräume. Die Tate Gallery war vornehmlich eine Kunstsammlung, mit regem Publikumsverkehr. Bis er in das Heiligtum gelangte, musste er noch dreimal seinen neuen Ausweis vorzeigen. Dafür boten ihm die einzelnen Archivräume und der Lesesaal eine angenehme Ruhe. Es gab einen Instruktor, den er um Rat fragen konnte. Er hatte sich verschiedene Stichpunkte notiert. Das Foto des Ölgemäldes hatte er selbstverständlich nicht dabei. Die gesamte Recherche sollte bis auf weiteres sehr diskret ablaufen. Sein erstes Interesse richtete sich nach Ausstelllungen, in denen Paul Gauguins Werke in den letzten hundert Jahren präsentiert wurden. Der Instruktor brauchte eine halbe Stunde, bis er die ersten Bände vorbeibrachte. Heinz Kühler hatte sich inzwischen eine Ecke des Lesesaales ausgesucht und dort lediglich sein Jackett über den Stuhl gehängt. Andere Besitztümer durfte er nicht in das Archiv mit hineinnehmen, er musste sie vorne im Eingangsbereich, in den dafür vorgesehenen Schließfächern verstauen. Im Eingangsbereich gab es auch eine Kaffeemaschine und einen Sandwichautomaten. Das Getränk und die Speisen durften allerdings auch nicht mit an den Arbeitsplatz genommen werden und mussten vor Ort im Stehen gegessen und getrunken werden.
Der Instruktor hatte ihn für die nächsten Stunden versorgt. Es gab allein sieben Kataloge aus dem Folkwang Museum Essen, mindestens ebenso viele aus dem Musee d’Orsay. Später brachte ihm der Instruktor noch Kataloge aus dem Detroit Institute of Arts, vom Fine Arts Museums of San Francisco, aus der Neuen Pinakothek, aus der Staatsgalerie Stuttgart und von weiteren Museen und Galerien. Es war erstaunlich, welche Häuser alles Ölgemälde, Zeichnungen und sogar Skulpturen von Gauguin besaßen. Oft waren es nur wenige Werke, die für Ausstellungen mit Leihgaben ergänzt wurden. Die Eremitage in Sankt Petersburg besaß eine umfangreiche Sammlung gerade jener Bilder Gauguins, die auf Tahiti und den Marquesas entstanden waren. Dann fanden sich noch Südseebilder in New York, im Guggenheim Museum und im Metropolitan Museum of Art und auch hier in London, in der National Gallery. Mit der Zeit, von Ausstellung zu Ausstellung und über die Jahre und Jahrzehnte wiederholten sich die gezeigten Werke. Es dauerte nicht lange und Heinz Kühler hatte einen recht guten Überblick. Es gab Ausstellungen nur über den Maler Paul Gauguin, sein Schaffen vor 1892 und danach, aus der Zeit, in der er auf Tahiti und den Marquesas lebte. Dann gab es Themen, die sich nur mit der Kunstrichtung beschäftigten, die Gauguin vertreten und auch geprägt hatte. Bei Ausstellungen zum Synthetismus waren neben Paul Gauguin auch Maler wie Émile Bernard, Louis Anquetin und Paul Sérusier vertreten, die durch die sogenannte Schule von Aven bekannt geworden waren. Eine Ausstellung zum Symbolismus kam ganz ohne Gauguins Bilder aus, lediglich einige seiner schriftlichen Ausführungen und Briefe zu diesem Thema begleiteten die Werke von Nesterow, Bonnard, Klinger, Moreau und Munch. Bei mehreren Ausstellungen zum Expressionismus wurde Gauguin gar als der große Wegbereiter gefeiert. Die Liste der Künstler, die er inspiriert hatte und die mit ihren Bildern gezeigt wurden, war beinahe endlos. Alle Ausstellungskataloge waren in einem hervorragenden Zustand. Die Abbildungen der Ölgemälde, Zeichnungen, Aquarelle und Lithografien waren von hoher Qualität. Heinz Kühler konnte sich an den Fotografien nicht sattsehen. Er musste sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, was er hier eigentlich suchte, um nicht abzuschweifen. Den ganzen Vormittag, fast bis nach 13:00 Uhr verbrachte er an seinem Arbeitsplatz, ohne eine Pause. Schließlich zwang er sich, doch zu einem Milchkaffee, den er sich aus dem Automaten im Eingangsbereich des Archivs holte. Das Personal am Eingangstresen hatte gewechselt. Anstelle des militärisch gekleideten Herrn war jetzt eine junge Dame erschienen, die ihm freundlich zulächelte. Er zog sich auch noch ein Sandwich aus dem anderen Automaten und aß es im Stehen, während er den Tresen beobachtete. Zur Mittagszeit verließen viele Besucher das Archiv. Ein Mann, der in der anderen Ecke des Lesesaals gesessen hatte, bediente sich ebenfalls am Kaffeeautomaten. Sie sprachen aber nicht miteinander. Der Mann sog sein Getränk schnell in sich ein und ging wieder zurück an die Arbeit. Nach fünfzehn Minuten suchte auch Heinz Kühler wieder seinen Schreibtisch im Lesesaal des Archivs auf und setzte seine Recherche fort.
Die zahlreichen Abbildungen in den Katalogen hatten ihm inzwischen ein Gespür für den Malstil Gauguins vermittelt. Er hatte sich in seiner bisherigen Laufbahn eigentlich noch nie richtig mit diesem Künstler beschäftigt. Er war sich auch sicher, noch nie zuvor auf einer Auktion gewesen zu sein, auf der ein Gauguin versteigert wurde. Die Impressionisten, Expressionisten oder andere zeitgenössische Maler gehörten dazu ohnehin selten zum Geschäft des Hauses Blammer. Die einzige kleine Sensation, die Blammer jemals zu verzeichnen hatte, war die Versteigerung eines Liebermann. Es war allerdings keines der millionenschweren Werke, sondern ein eher unbekanntes Aquarell, aber immerhin ein Liebermann, der mehrere Hunderttausend eingebracht hatte. Das Kunst- und Auktionshaus Blammer war allerdings nur der Veranstalter und hatte damals eher bescheiden daran verdient.
Heinz Kühler suchte nochmals nach dem Instruktor, der aber mittlerweile müde geworden war. Er gab ihm jetzt nur noch Tipps, wie er sich selbst auf die Suche machen konnte, um auch die vielbeachteten Privatsammlungen einsehen zu können. Es war seine letzte Chance, zumindest was die Tate-Sammlungen betraf. Es war aber auch eher wahrscheinlich, dass der Gauguin irgendwann einmal in einer der Privatsammlungen schlummerte und Edmund Linz ihn darum überhaupt erst kaufen konnte. Von einem Museum erhielt man höchst selten ein Kunstwerk, es sei denn, man war ein anderes Museum oder aber es handelte sich um Diebesgut, was Heinz Kühler im Falle des Gauguins zu fast hundert Prozent ausgeschlossen hatte. Unter dem Stichwort Privatsammlung gab es zwei verschiedene Arten der Veröffentlichung. Entweder entlieh ein Sammler einzelne, thematisch zu der Ausstellung eines Museums passende Werke, oder es wurde von einer Privatperson eine eigene Ausstellung organisiert, in der alle Schätze des Sammlers gezeigt wurden, ohne Rücksicht auf Stile und Themen, die die einzelnen Objekte verkörperten. Um 15:00 Uhr hatte Heinz Kühler für den ersten Tag genug. Er durfte die Bände, die er noch nicht durchgesehen hatte, an seinem Platz liegen lassen. Es war fast wie in einer richtigen Bibliothek. Der Instruktor fertigte sogar ein Kärtchen mit dem Namen des Benutzers an und stellte es neben die Bücher.
Am nächsten Morgen war er bei Weitem nicht der Erste im Tate-Archiv. Er kam diesmal erst gegen zehn. Neben seinem Arbeitsplatz hatte sich ein sehr britisch aussehender älterer Herr eingerichtet. Sie begrüßten sich mit einem Nicken, ohne etwas zu sagen. Heinz Kühler musste sich erst einmal wieder orientieren. Seinen Notizblock hatte er gestern auch liegen gelassen. Es waren gerade einmal anderthalb Seiten, auf denen er sich Notizen zu bestimmten Ausstellungen gemacht hatte. In einem zweiten Block hatte er auf immerhin gut zehn Seiten alle Kataloge verzeichnet, die er durchgesehen hatte. Es war der aufwendigste Teil seiner Recherche. Neben den Titeln der Ausstellungen hatte er auch das Jahr und die Anzahl der gezeigten Objekte notiert. Später würde er die Liste im Sekretariat seines Chefs von Frau Hoischen oder von einer der anderen Damen abschreiben lassen. Die Liste diente dann als Beleg für seine Arbeit. Für den Fall, dass ihn später irgendjemand noch einmal auf eine Ausstellung aufmerksam machen würde, könnte er mit der Liste immer nachsehen, ob er die Unterlagen nicht doch schon bearbeitet hatte. Die jetzt noch handschriftliche Liste würde in den nächsten Stunden noch länger werden.
Die meisten privaten Sammler besaßen aus dem Werk von Paul Gauguin nur einzelne Zeichnungen oder Aquarelle, die sie zum Teil gemeinsam mit den Besitztümern anderer Sammler präsentierten. Heinz Kühler hatte schon bei den Museumskatalogen immer mit der Gegenwart begonnen und war dann in der Zeit weiter zurückgegangen. Dies hielt er auch bei der Durchsicht der Privatsammlungen so. Anfangs bestanden die Kataloge und Verzeichnisse noch aus prächtigen Fotografien der gezeigten Bilder. In der Zeit vor 1950 dominierten dann Schwarzweißaufnahmen. In einem der Kataloge waren überhaupt keine Bilder enthalten. Die Objekte wurden lediglich bis ins Detail beschrieben. Die Fotos machten es natürlich leichter. Heinz Kühler musste jetzt die einzelnen Abschnitte genau durchlesen. Die Kreidezeichnungen und Aquarelle hatte er zunächst überschlagen. Er suchte nach einem Ölgemälde. Es fand sich unter den gut dreißig Werken nur ein einziges, ein Stillleben. Er blätterte zurück zum Anfang und ging jetzt alle anderen Texte durch. Er überflog die Seiten meistens nur und suchte dabei nach Begriffen, die etwas mit Edmund Linz Gauguin zu tun haben konnten. Die Aquarelle waren in der Mehrzahl. Der Titel eines Bildes lautete »Die Hirtin«, wenigstens ein weibliches Modell, während die vorherigen Seiten oft nur Landschaften oder Brücken beschrieben. Er las jetzt etwas langsamer. Er übersprang zwei Zeilen, weil sein Auge unbewusst etwas wahrgenommen hatte. Er fand die Stelle, »...bretonischer Mädchenkopf«. Ihm vielen sofort die Worte von Claudius Brahm wieder ein. Claudius Brahm sprach von einer bretonischen Bauerntochter, die Gauguin als Basis für das Motiv des kleinen Mädchens verwendet haben könnte. Er konnte das Kind im übertragenen Sinne von der rauen Atlantikküste mit in die liebliche Südsee genommen und sie in eine neue Umgebung hineinversetzt haben. Es konnte sich dabei um ein stilistisches Mittel handeln, das in der Kunst durchaus üblich war und auch noch heute ist.
»Bretonischer Mädchenkopf«, sagte Heinz Kühler laut vor sich hin.
Der Mann am Nebentisch sah kurz zu ihm herüber. Dann war für einige Sekunden wieder Stille, bis Heinz Kühler ruckartig aufstand. Der Stuhl polterte und er entschuldigte sich für den Lärm. Wo war der Instruktor. Sein Platz war leer. Während Heinz Kühler auf das Pult zuging, sah er sich in den Gängen um. Er hatte Glück, gleich hinter einer Säule zog der Instruktor einen Band aus dem Regal und übergab es an einen seiner Kunden. Heinz Kühler winkte ihm zu und der Instruktor kam ihm langsamen, mit bedächtigen Schritten entgegen.
»Ich suche etwas«, flüsterte er halblaut, als ihn der Instruktor fast erreicht hatte.
Mit dem Zeigefinger an den Lippen wies der Instruktor in Richtung seines Schreibtisches, der außerhalb des Lesesaals stand. Sie gingen gemeinsam hinüber, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
»Ich suche etwas«, wiederholte Heinz Kühler, als sie den Arbeitsplatz erreicht hatten. »Ich habe einen Begriff und den Titel eines Bildes des Malers Paul Gauguin. Leider fehlt mir eine Abbildung. Haben Sie die Möglichkeit danach zu suchen?«
»Wir haben selbstverständlich eine elektronische Stichwortsuche«, erklärte der Instruktor, »aber es kommt natürlich auf das Stichwort an, das Stichwort darf nicht zu trivial sein, ansonsten gibt es zu viele Treffer.«
»Ich habe drei Begriffe. Gauguin, Hirtin und bretonisch. Lässt sich damit etwas machen?«, fragte Heinz Kühler.
Der Instruktor nickte. Er hatte sich die Begriffe sofort notiert und suchte jetzt nach der richtigen Software auf seinem Computer.
»Es wird sicherlich einen Moment dauern. Sie können sich wieder setzen. Ich werde an Ihren Tisch kommen«, sagte er und blickte zum Eingang des Lesesaals.
Heinz Kühler blieb noch einige Sekunden stehen, als habe er nicht richtig verstanden. Dann bedankte er sich und ging wieder zurück an seinen Schreibtisch. Es dauerte eine halbe Stunde. Der Instruktor hatte sogar einen Band unter dem linken Arm, als er wieder langsam und diesmal noch bedächtiger den Lesesaal durchschritt. Er legte das Buch auf den Tisch an Heinz Kühlers Platz ab und blätterte nach einem Lesezeichen, das er hineingelegt hatte. Heinz Kühler erkannte das Bild sofort. Das Mädchen hatte eine dicke Nase und grobe, etwas dümmlich wirkende Gesichtszüge. Beim zweiten Hinsehen waren ihre Gesichtszüge aber wohl eher das Ergebnis täglicher, harter Arbeit schon von Kindesbeinen an. Er kannte das Bild, weil er es bereits gestern einmal gefunden hatte. Das Aquarell hatte nichts mit der kleinen Julie aus der Südsee zu tun, nicht das Geringste. Er bedankte sich bei dem Instruktor und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen.
Er hatte bis zum Abend noch einige Kataloge vor sich. Einen vermeintlichen Treffer, wie der mit dem bretonischen Mädchenkopf, erzielte er nicht mehr. Das Fazit der vergangenen beiden Tage war ernüchternd. Die Tate Gallery konnte ihm nichts über das Gauguin-Gemälde sagen, das zu diesem Zeitpunkt in München, im Keller des Kunst- und Auktionshauses Blammer sicher verwahrt wurde. Bei allem, was er bisher recherchiert hatte, gab es im Werk des Malers Paul Gauguin keinen Hinweis auf ein kleines Mädchen namens Julie. Es gab keinen Anhaltspunkt auf eine Julie des Bois, es gab auch keine bretonische Bauerntochter, die mit dem Mädchen auf dem Ölgemälde Ähnlichkeit hatte, es gab nicht einmal irgendein Kind in den Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, das der Kleinen mit dem Sonnenhut glich. Heinz Kühler gähnte, als er sich aus der Liste der anwesenden Besucher im Tate-Archiv in London austragen ließ. Draußen, auf dem Platz, atmete er die frische Luft tief ein und rieb sich die Augen.
*
Florence war in Gedanken. Sie formte das Wort Fotografie lautlos mit ihren Lippen. Und dann war es wieder da, wieder vor ihrem Auge, jetzt erinnerte sie sich. Die Fotoausstellung in einem der Stationsflure. Es war in der orthopädischen Abteilung und einige hingen auch in der Inneren. Sollte das ein Zufall sein. Sie betrachtete sich das Bild des Ölgemäldes auf ihrem Computermonitor. Sie glaubte, das Gesicht des kleinen Mädchens schon einmal auf einer Fotografie gesehen zu haben oder gab es nur Ähnlichkeiten. Ohne weiter zu zögern machte sie sofort einen Schwarz-Weiß-Ausdruck. Der Drucker in ihrem Büro ratterte und schob das Blatt langsam heraus. Sie nahm es, wedelte noch ein paar Mal damit und verließ dann ihr Büro in Richtung der Krankenstationen. Die Fotogalerie, die sie suchte, gehörte ursprünglich zu einer Ausstellung im Gemeindehaus von Taiohae. Vor zwei oder drei Jahren wurden die Bilder dann als Dauerleihgabe an das Krankenhaus gegeben, wo sie jetzt in den Fluren der beiden Stationen hingen. Florence war schon häufig daran vorbeigelaufen und hatte sich die Aufnahmen immer mal wieder angesehen. Die Bilder stammten aus einer Zeit, als erst wenige Franzosen auf den Marquesas lebten. Das europäisch geprägte Leben in Polynesien spielte sich um die Jahrhundertwende mehr auf Tahiti ab. Die Marquesas lagen eher abseits davon, eigentlich lagen sie auch noch heute abseits der polynesischen Metropolen, aber es hatte sich mit dem Flugverkehr und den schnellen und recht häufigen Schiffsverbindungen natürlich schon sehr viel verändert. Florence erreichte die orthopädische Abteilung. Diese Station war dem Haupteingang des Krankenhauses am nächsten. Gleich hinter der Verbindungstür im Flur, von dem die gut zehn Zimmer abgingen, begann die Galerie der Aufnahmen. Die Bilder waren vergrößert worden, etwa in den Abmaßen eines Schreibmaschinenblattes. Bei einigen Aufnahmen hatte es dazu geführt, dass Details zum Teil verschwommen wirkten. Auf beiden Seiten des Flures hingen die Bilder, alle etwa im Abstand von einem Meter und alle auf gleicher Höhe. Die Rahmen waren größer, sodass die Aufnahmen als Passepartout von einem breiten weißen Rand umschlossen waren. Sie schritt die Galerie ab. In der Hand hielt sie den Ausdruck. Die Bilder an den Wänden zeigten Menschen, hauptsächlich die Ureinwohner der Marquesas, aber es waren auch europäische Gesichter darunter. Es gab Szenen an Anlegestellen, Fischer auf ihren Booten, das Anlanden von Waren oder Postsäcken nach Ankunft eines Versorgungsschiffes. Es gab eine Aufnahme vor einem der ersten Hotels auf Nuku Hiva, im Vordergrund hatten sich die Angestellten versammelt. Florence kannte das kleine Haus sogar. Das Hotel war mittlerweile etwas erweitert worden und heute in einer dunkleren Farbe gestrichen. Unter jedem Foto stand in Bleistift, ganz zart, der Ort, an dem die Aufnahmen entstanden waren und eine Jahreszahl. Florence erinnerte sich, dass noch in der Ausstellung im Gemeindehaus, neben den Fotoaufnahmen kleine Schildchen mit kurzen Erklärungen aufgehängt waren. Die Schildchen fehlten jetzt und waren durch die sorgfältigen Notizen ersetzt. Es gab Fotos, die auf Nuku Hiva, auf Hiva Oa und auf Ua Pou gemacht worden waren. Die Jahreszahlen hatten eine Spanne zwischen 1897 und 1905. Florence suchte nach einer Aufnahme, die sie im Geiste vor sich sah, an die sie sich eben in ihrem Büro erinnert hatte. Es handelte sich um ein Foto vom Strand, mit einem Boot im Zentrum des Bildes. Es war ein kleines Boot mit einem Mast, es gehörte vielleicht auch einem Fischer, der täglich in der Nähe der Inseln seine Netze auswarf. Die Boote, mit denen die Leute weit auf das Meer hinausfuhren, waren größer, es waren richtige kleine Schiffe, mit einem Deck und Laderäumen. Mit diesen Schiffen entfernten sich die Fischer weit von den Inseln und fuhren auf den Pazifik hinaus. Es war das Boot und es war das Gesicht des Mädchens. Beides hatte Florence schon einmal auf einem der ausgestellten Fotografien gesehen. Jetzt wo sie an der Galerie der Schwarz-Weiß-Bilder vorüberging, erinnerte sie sich an das, was sie suchte. Auf einem der Fotos befand sich ein Boot im Mittelpunkt der Aufnahme. Es waren Erwachsene, Halbwüchsige, Kinder, es waren Männer, Frauen, Jungen und Mädchen, die links und rechts neben dem Boot standen und sich fotografieren ließen. Florence war überzeugt, dass eines der Kinder ebenfalls einen Sonnenhut trug, genauso einen, wie die Kleine auf dem Ölgemälde. Sie schritt weiter an der Bildergalerie vorbei. Sie hielt sich jetzt nicht mehr damit auf, jede einzelne Fotografie genau anzusehen. Sie suchte nach dem Motiv, nach der Strandszene. In der Orthopädie hingen gut zwanzig Bilder. Aufnahmen vom Strand waren zwar auch darunter, aber nicht dieses eine, das sie suchte. Es gab noch einen Flur im Krankenhaus, auf der anderen Seite des Gebäudes, auf dem die übrigen Bilder aufgehängt waren. Florence verließ die Orthopädie. Jede Station hatte von außen einen Zugang. Vor dem Krankenhaus verlief ein breiter gepflasterter Weg, von dem die Eingänge zu den einzelnen Stationen abgingen. Sie verließ das Gebäude. Sie ging auf dem Weg, bis ans andere Ende des Komplexes und betrat dann die Abteilung für Innere Medizin. Bereits in dem kleinen Vorraum, von dem die Ärztezimmer und Behandlungsräume abgingen, hingen einige der übrigen Fotografien aus der ehemaligen Rathaus-Ausstellung. Jetzt wusste sie auch, warum sie sich so gut an das Bild erinnern konnte. Auf die Flure der Stationen kam sie eher selten. Hier in diesem Vorraum hatte sie aber mehr als einmal gewartet. Es kam oft vor, dass sie die Ärzte beriet, wenn es um die richtigen Medikamente für einen Patienten ging. Die Gespräche fanden zumeist in den Ärztezimmern auf den Stationen statt. Bei den Terminen musste sie oft noch warten, wenn gerade ein Patient im Behandlungsraum versorgt wurde. Dann hatte sie häufig die Zeit, sich die Fotografien anzusehen. Sie kannte die Aufnahmen hier in der Inneren daher besser als die Bilder, die in der Orthopädie hingen. Das Foto, das sie suchte, fand sie sofort. Es gab sogar noch ein zweites Bild, auf dem das kleine Mädchen zu sehen war und sie war es tatsächlich. Die Ähnlichkeit zwischen dem Gauguin-Gemälde und dem Kind auf den Fotografien war mehr als deutlich. Florence hatte sich zunächst nur an den Sonnenhut erinnern können und weniger an das Gesicht. Sie verglich noch einmal die alten Fotografien mit dem Gemälde. Sie hielt den Ausdruck daneben. Nein, es war eindeutig, sie war es. Florence war ganz aufgeregt. Eines der Bilder aus der Ausstellung war das Gruppenfoto, das Florence die ganze Zeit vor Augen hatte. Im Zentrum der Fotografie befand sich das Fischerboot, es war auf den Strand gezogen. Der Mast war durch den oberen Bildrand abgeschnitten. Mehrere Erwachsene standen links und rechts vom Kiel. Vor ihnen hatten sich Kinder und einige Frauen gehockt. Es waren vielleicht fünfzehn Personen. Das Foto war so aufgenommen, dass die Gesichter all der Menschen gut zu erkennen waren. Die zweite Fotografie zeigte nicht den Strand, sondern eine Siedlung mit Häusern und unbefestigten Straßen. Die Kleine trug hier keinen Hut mehr und hatte auch ein anderes Kleid an. Es war ein schweres, braunes Kleid, das nicht richtig zum Klima der Inseln passte. Vor einem Kolonialwarenladen hatten sich ein Dutzend Kinder versammelt. Es sah beinahe aus wie eine Schulklasse. Einige der Kinder hatten große geflochtene Körbe vor ihre Füße gestellt, die mit Obst und Gemüse angefüllt waren. Neben dem kleinen Mädchen schienen auch alle anderen Kinder europäischer Abstammung zu sein. Das Bild war anders, als die Aufnahme vom Strand. Auf dem Foto vom Strand hatten die Erwachsenen und auch die Kinder noch versucht, sehr würdevoll in die Kamera zu blicken. Insgesamt sahen aber alle immer noch sehr fröhlich aus und lächelten beinahe, als wenn der Fotograf es ihnen vor dem Auslösen der Kamera zugerufen hätte. Auf dem zweiten Foto, das vor diesem Laden aufgenommen worden war, hatte das kleine Mädchen die Augen leicht zusammengekniffen und sah recht ernst aus. Es war eindeutig, dass Gauguin in dem Ölgemälde eher die Stimmung eingefangen hatte, die auch in der Fotografie vom Strand herrschte. Florence nahm die zweite Aufnahme von der Wand und hielt sie neben die Strandszene. Sie sah sich die beiden Fotos genauer an. Ihr Blick wechselte mehrfach vom einen zum anderen. Irgendetwas unterschied die Gesichter des kleinen Mädchens. Es war nicht der Gesichtsausdruck, es war etwas anderes. Florence überlegte, aber sie konnte den Grund dafür nicht feststellen. Die Kleine hatte lange, wohl dunkelblonde Haare, die glattgekämmt über ihrer Schulter lagen. Bei der Aufnahme am Strand waren ihre Haare noch von dem Hut verdeckt. Florence betrachtete sich das Ölgemälde. Gauguin hatte sie so gemalt, dass ihre langen Haare nach hinten über den Rücken gelegt waren. Einige Strähnen bedeckten die Schulter und waren nur schwer von der Farbe ihres Kleides zu unterscheiden. Der Schwarzweiß-Ausdruck des Ölgemäldes gab diesen Kontrast nur schwach wieder. Florence erkannte jetzt auch, dass das Kleid auf dem Ölgemälde nicht nur einen ähnlichen Schnitt hatte, wie das Kleid, das die Kleine auf dem Foto vom Strand trug, das Muster schien auch sehr ähnlich zu sein. Es stimmten erstaunlich viele Details überein. Die beiden Fotografien, auf denen das Mädchen zu sehen war, stammten von der Insel Hiva Oa und waren im Jahr 1904 aufgenommen. Florence stutzte. Sie hatte immer noch eines der Fotos in der Hand und legte es auf den Boden des Stationsflures. Den Ausdruck des Ölgemäldes nahm sie jetzt in beide Hände und hielt ihn in das Licht, das durch die Stationstür von draußen in den Flur strahlte. Sie versuchte den Text zu entziffern, der mit einem feinen Pinselstrich in die rechte Bildecke geschrieben war. Neben der Signatur konnte sie als Entstehungsdatum des Ölgemäldes das Jahr 1902 lesen. Unterhalb von Signatur und Jahreszahl war der Bildtitel geschrieben. »Julie des Bois«, las Florence laut vor. Es war die Jahreszahl, die sie stutzig machte. Sie überlegte. Das Motiv des Ölgemäldes konnte nicht von der Fotografie stammen. Die Fotografie wurde erst zwei Jahre nach der Entstehung des Ölgemäldes aufgenommen. Oder war vielleicht die Datierung der Fotografien falsch, stammten die Aufnahmen vielleicht doch aus dem Jahr 1902. Sie sah sich wieder die Strandszene an und verglich auch diese Fotografie mit dem Ölgemälde. Es war schwer zu sagen, ob Gauguin das Foto gekannt hatte, bevor er sein Bild malte. Ganz sicher war sich Florence nur, dass das kleine Mädchen auf den beiden alten Fotografien mit dem Kind auf dem Gauguin-Gemälde übereinstimmte. Sie bückte sich wieder und hob die abgelegte Fotografie vom Boden auf. Sie hielt diese Aufnahme und das Foto des Ölgemäldes links und rechts neben die Fotografie der Strandszene. Ihr Blick wanderte noch ein paar Mal von Bild zu Bild. Sie klemmte sich den einen Rahmen schließlich unter den Arm und nahm die Strandszene ebenfalls von der Wand. Sie würde die Bilder in einer halben Stunde wieder zurückbringen. Florence verließ die Station und lief den Weg am Gebäude entlang zum Eingangsbereich zurück. In ihrem Büro angekommen, löste sie die Fotografien aus den Rahmen. Die Rückseiten der Bilder trugen Aufkleber, auf denen das Copyright eines Fotolabors vermerkt war. Das Fotolabor hatte seinen Sitz auf Tahiti. Es war eine Hausanschrift und sogar eine E-Mail-Adresse vermerkt. Zusätzlich hatten die Fotografien noch unterschiedliche Registrierungsnummern. Florence notierte sich alles. Im Vorraum ihres Büros hatte sie einen Drucker, mit dem sie die Aufnahmen scannen konnte. Die Dateien wurden an ihren Computer gesendet. Florence ging in ihr Büro, öffnete die Dateien und betrachte sich die Bilder eine Zeit lang am Computermonitor. Dann raffte sie sich auf, baute die Bilderrahmen zusammen und machte sich sofort wieder auf den Weg zur Station der Innerenmedizin.
Nach zehn Minuten kehrte sie zurück und setzte sich sofort wieder vor ihren Computer. Sie hatte zusammen mit dem Foto des Ölgemäldes drei digitale Bilder, die sie sich jetzt noch einmal ansah. Wie bei einer Diashow ließ sie sich die Bilder nacheinander auf dem Monitor anzeigen. Sie sah sich immer wieder die alten Fotografien an und verglich Details darauf mit dem Ölgemälde. Sie dachte an die Ausstellung, aus der die Fotografien stammten. Es konnte durchaus sein, dass noch andere Bilder existierten, die nicht in der Ausstellung gezeigt wurden und auf denen das kleine Mädchen vielleicht ebenfalls zu sehen war. Sie sah nach ihren Notizen, sie hatte die Adresse des Fotolabors. Das Labor hatte sicherlich zahlreiche weitere Bilder für die Ausstellung in Taiohae angeboten und der Gemeinderat hatte sich die besten herausgesucht. Florence schrieb eine E-Mail an das Fotolabor auf Tahiti. In der Nachricht erklärte sie kurz, worum es ihr ging. Sie bezog sich auf die Ausstellung im Gemeindehaus auf Nuku Hiva und fragte nach weiteren Aufnahmen und nach den Namen der Fotografen, von denen die Bilder stammten. In ihrer Mail fragte sie an, ob es Unterlagen gäbe, aus denen hervorginge, wer auf den Fotografien abgebildet war. Auch wenn ihr Wunsch sehr wahrscheinlich nicht erfüllt werden konnte, so war es wenigstens ein Versuch wert.
*
Das Fotolabor meldete sich gleich am nächsten Tag und schickte eine Tabelle mit der ausführlichen Beschreibung aller Informationen zu den Fotografien, die seinerzeit für die Rathausausstellung geliefert wurden. Florence überflog die Beschreibungen zu den einzelnen Bildern. Zumeist wurden die Orte genannt, an denen die Fotografien entstanden waren, Hiva Oa, Nuku Hiva und Ua Pou. Die Insel Hiva Oa kam dabei am häufigsten vor, von Ua Pou gab es dagegen nur zwei Aufnahmen. Die ältesten Fotografien stammten aber von Nuku Hiva. Es begann mit dem Jahr 1895. Zu jedem Bild wurde außerdem kurz beschrieben, was die Aufnahme darstellte. Die Titel lauteten: »Strand bei Taiohae«, »Straßenszene in Atuona«, »Vor dem Hotel Charles« oder »Regierungsbeamte vor der Kommandantur«. Wer die Menschen waren, ihre Namen, war nicht erwähnt. In zwei Einträgen, die direkt hintereinander folgten, erkannte sie die Registrierungsnummern der Fotografien, die sie sich von der Station mitgenommen hatte. Der Titel des einen Bildes lautete »Hiva Oa, Strand von Taaoa« und der des anderen »Handelsposten Gallet in Atuona«. Florence überlegte, natürlich kannte sie den Strand von Taaoa. Es war einer der wenigen Küstenabschnitte auf Hiva Oa, die eine Sanddünung besaßen. Heute gab es dort zwei Hotels, die auf einem Teil des Strandes Sonnenstühle und Schirme für ihre Gäste anboten. Einen Handelsposten oder ein Geschäft mit dem Namen Gallet war Florence nicht bekannt. Die beiden Fotografien stammten von demselben Fotografen. Der Mann hieß Victor Jasoline. In der Tabelle waren für die anderen Bilder insgesamt noch vier weitere Fotografen genannt. Victor Jasoline hatte von allen aber die meisten der Aufnahmen beigetragen. Florence sah sich noch einmal die Fotografie an, auf der die Kinder vor dem Geschäft zu sehen waren. Das Bild ließ nur erkennen, dass es sich um ein Geschäft, um einen Laden handelte, ohne die heute typischen Schaufenster. Neben den Körben mit Obst war ein Teil der Waren, Holztröge, Bürsten und Werkzeuge, noch am rechten Bildrand zu sehen. An dem Holzgebäude war ein Schild angebracht, von dem nur ein Teil der Aufschrift auf die Fotografie gekommen war. Es war ein Teil des Wortes »Handel«. Der Name Gallet tauchte nirgends auf. Florence suchte, ob es irgendwo auf den Auslagen verzeichnet war, aber sie konnte nichts finden. Sie sah sich noch einmal die Kinder an. Das kleine Mädchen stand zwischen zwei Jungen.
Florence überlegte. Sechsunddreißig Fotografien, das waren nicht sehr viele. Das Fotolabor konnte noch weitere Aufnahmen besitzen, die für die Rathausausstellung eben nicht ausgewählt wurden, weitere Aufnahmen des Fotografen Victor Jasoline, die ebenfalls das kleine Mädchen mit dem Sonnenhut zeigten. Die Antwort des Fotolabors war von einer Angestellten signiert worden. Florence griff zum Telefon und wählte die angegebene Nummer des Anschlusses auf Tahiti. Das Telefon wurde sofort abgenommen. Es meldete sich eine Männerstimme.
»Bonjour, Concorde Fotoservice Tahiti, was kann ich für Sie tun?«
»Bonjour, mein Name ist Uzar, ich rufe aus Nuku Hiva an.«
»Ah ja, Madame Uzar, ich weiß Bescheid«, sagte der Mann, ohne dass Florence weitersprechen konnte. »Ich hole schnell meine Kollegin.«
Es gab ein Klacken, der Mann hatte den Telefonhörer abgelegt. Dann entfernte er sich und Florence hörte Stimmen im Hintergrund. Nach gut einer Minute wurde der Telefonhörer wieder aufgenommen. Eine Frau war am Apparat und stellte sich vor.
»Ja, es tut mir leid, dass ich erst heute dazu gekommen bin, Ihnen zu antworten«, sagte sie, »aber ich hoffe, ich konnte Ihnen erst einmal weiterhelfen.«
»Das konnten Sie sehr gut, danke. Ich habe aber doch noch eine Frage. Ich hatte Ihnen die Registrierungsnummern von zwei Fotografien geschickt. Können Sie herausfinden, wer die Personen auf den Bildern sind, ich meine ihre Namen?«
»Oh, Madame, ich habe mir die Fotografien nicht angesehen. Ich habe nur anhand der Nummern und Ihrer Beschreibung die Unterlagen des damaligen Auftrags zusammengesucht. Ich weiß aber auch, dass es keine weiteren Informationen zu den Fotografien gibt, als die, die ich Ihnen schon geschickt habe, es tut mir leid. Wir sind froh, dass es wenigsten die Bildtitel und Jahreszahlen gibt, die Sie in der Liste gefunden haben. Es ist bei so alten Fotografien schon eine Menge, dass wir etwas über die Orte und den Zeitpunkt der Aufnahmen wissen und dass wir natürlich auch den Fotografen kennen, Sie verstehen.«
»Das ist schade«, sagte Florence nachdenklich. »Dennoch haben Sie mir natürlich weitergeholfen. Gibt es wenigstens außer dem Namen noch mehr Informationen über die Fotografen?«
Die Angestellte überlegte. »Wir haben eine Art Kurzbiografie über unsere Fotografen. Ich kann Sie Ihnen schicken.«
»Ja, so etwas meine ich«, sagte Florence, »danke. Mich würde jetzt zunächst einmal nur dieser Victor Jasoline interessieren und ob es noch weitere Fotografien von ihm gibt, die nicht an die Ausstellung nach Nuka Hiva geliefert wurden.«
»Wir haben natürlich jede Menge weiterer Bilder und sicherlich auch von Victor Jasoline«, antwortete die Angestellte, »aber diese Fotografien können Sie sich nur hier bei uns im Laden ansehen oder Sie kaufen Abzüge davon. Die Preise betragen allerdings zweihundertfünfzig Francs pro Stück, tut mir leid.«
Florence zögerte. Sie würde in den nächsten Wochen bestimmt einmal wieder auf Tahiti sein. »Ich verstehe, dann schicken Sie mir bitte zunächst einmal nur die Information über Monsieur Jasoline. Wegen der Bilder komme ich besser persönlich bei Ihnen im Geschäft vorbei. Das erscheint mir auch sinnvoller, wo ich ja gar nicht weiß, was die Aufnahmen zeigen.«
»Kein Problem, Madame, ich würde mich auf Ihren Besuch freuen. Ich kann Ihnen gleich sofort eine Mail schicken. Ich muss die Biografie nur eben heraussuchen.«
Florence bedankte sich. Sie beendeten das Gespräch. Es dauerte eine halbe Stunde, bis die Mail eintraf. Florence hatte sich zwar in der Zwischenzeit mit der Buchhaltung beschäftigt, legte die Sachen aber beiseite und öffnete die Nachricht sofort.
Victor Jasoline war kein professioneller Fotograf, er war Offizier, ein Angehöriger des französischen Militärs im Südpazifik. Seine Stationen waren in Europa noch Paris und Nantes gewesen, dann aber entschloss er sich wohl in die Ferne zu ziehen oder er wurde dienstlich dazu verpflichtet. Sein Ziel für mehr als zehn Jahre war Französisch-Polynesien. Von 1895 bis 1898, von 1900 bis 1901 und schließlich von 1902 bis 1906 war es Tahiti. Dann gab es aber auch Zeiträume, in denen er auf den Marquesas stationiert war. In dem kleinen Bericht wurde es als Aufenthalt in den Militärstützpunkten von Hiva Oa und Nuku Hiva beschrieben. Victor Jasoline hielt sich 1897 in Taoihae und von 1898 bis 1902 mehrmals in Atuona auf. Im Juni 1906 wurde Victor Jasoline aus dem Militärdienst entlassen oder er wurde wieder nach Frankreich geschickt. Was Victor Jasoline nach 1906 gemacht hatte, wurde nicht mehr beschrieben.
Florence war zufrieden. Ihre kleine Recherche hatte etwas hervorgebracht. Sie wusste natürlich nicht, ob all diese Fakten nicht schon längst bekannt waren. Sicherlich wussten die Eigentümer des Ölgemäldes oder gar die Kunstwelt um seine Herkunft. Florence entschloss sich aber trotzdem, Colette zurückzuschreiben und ihr die alten Fotografien zusammen mit dem Lebenslauf von Victor Jasoline zu schicken.
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Bevor Heinz Kühler am nächsten Tag zum Victoria and Albert Museum ging, besuchte er noch einmal die zu Tates gehörende National Gallery. Er hatte am Vortag eine Katalogbeschreibung über das Bild »Faa Iheihe« gelesen. Es stammte von 1898 und gehörte zu Gauguins Südseebildern. In der Ausstellung brauchte er nicht lange zu suchen, er fand das Bild sofort. Es hing in einem Raum, der sich mit insgesamt vier Bildern thematisch mit dem Maler Paul Gauguin beschäftigte, wobei nur das Bild »Faa Iheihe« aus der Südsee stammte. Es hatte ein etwas ungewöhnliches Format. Es war knapp fünfzig Zentimeter hoch und fast zwei Meter breit. Es war ein richtiges Ölgemälde, kein auf Leinwand gemaltes Aquarell. Er stand fast eine halbe Stunde davor, nur vor diesem einen Bild. Es waren mehrere Frauen abgebildet, ein Hund, der als Motiv immer wieder in Gauguins Werken auftauchte, und ein Reiter. Auch wenn alles zusammenzugehören schien, fehlte die richtige Einheit. Es schien, als wenn die Personen eher symbolhaft zusammenstanden. Heinz Kühler überlegte, ob er das Gemälde deshalb so verstand, weil er in den vergangenen Tagen zu viele Interpretationen über stilistische Eigenschaften von Kunstwerken gelesen hatte, oder ob er selbst auch so empfand. Er wusste es nicht genau. Er glaubte aber, dieses Symbolhafte auch in dem Bildnis der kleinen Julie wieder zu finden. Dann fiel ihm noch ein, dass Gauguin selbst nicht gewollt hatte, dass man seine Werke zu interpretieren versuchte, so hatte es Heinz Kühler zumindest irgendwo gelesen.
Die Gauguins waren das Einzige, was er sich in der National Gallery ansah. Er hatte wenig Zeit. Er wollte seine Recherche noch heute im Victoria and Albert Museum fortsetzen und auch beenden. Sein Ziel waren die Historic Catalogues of the National Art Library, einer Art Datenbank, in der er gezielt nach bestimmten Stichworten suchen konnte, um die Arbeit in der Tate Gallery noch einmal abzusichern. Unter Umständen gab es Lücken, Einträge, die er in den Ausstellungskatalogen übersehen hatte. Er rechnete mit knapp fünf Stunden.
Eine Stunde brauchte es allein, um wieder eine Zugangsberechtigung zu erhalten. Er wurde diesmal wenigstens nicht auf den nächsten Tag vertröstet. Während er wartete, suchte er aus seinen handschriftlichen Listen nach geeigneten Stichworten. Er schrieb an die fünfzig Begriffe heraus. Er hatte sich Titel von Gauguins Südseebildern notiert, die oft mit polynesischen Worten beschrieben waren. Er hatte zwar einige Übersetzungen in den Katalogen gefunden, aber von den meisten wusste er nicht, was sie bedeuteten. Sein zweiter Schwerpunkt waren Frauenbildnisse. Er notierte sich die Namen der Frauen und Mädchen, so wie sie in den Bildtiteln oder den Erklärungen zu den Werken zu finden waren. »Die schöne Angelie«, »Aline«, Gauguins Tochter, »Die nähende Suzanne« und nicht zuletzt die Namen der Geliebten, »Der liegenden Pau'ura« oder der »Javanerin Annah«. Er sah hinüber zu dem gläsernen Kasten, in dem gerade seine Zutrittsberechtigung hergestellt wurde. Es tat sich noch nichts. Er notierte sich weiter Stichworte. Jetzt waren die banalen Wörter dran, die wie er hoffte in Kombination mit den Gauguin spezifischeren Begriffen, erfolgreich sein konnten. Es waren Wörter wie »Boot« oder »Segelboot«, »Strand«, »Palme«, »Mädchen«, »Wasser«, »Sand« und nicht zuletzt die Wörter »Julie« und »Bois« oder eben »Wald«. Mehr fiel ihm nicht ein. Er würde sicherlich noch während der Recherche auf weitere Begriffe und Wortkombinationen stoßen.
»Mr. Kuhler«, wurde er von vorne angesprochen.
Vor ihm stand der Mann, dem er vor gut fünfundvierzig Minuten seinen Antrag ausgehändigt hatte. Britische Gründlichkeit dachte er noch.
»Mit diesem Ausweis können Sie das Gebäude jetzt betreten. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit«, näselte der Mann und gab ihm den checkkartengroßen Ausweis.
Heinz Kühler bedankte sich. Er kramte die Zettel zusammen, die er neben sich auf die Bank gelegt hatte, und stopfte alles in seine schwarze Mappe. Er begab sich zum ebenfalls gläsernen Drehkreuz, führte seinen neuen Ausweis in den Leseschlitz und wurde eingelassen. Die Karte war stabil wie für die Ewigkeit und war dennoch nur für heute und morgen gültig. Es war nicht das erste Mal, dass er die Historic Catalogues besuchte. Er kannte sich aus. Er musste sich jetzt nur noch ein Terminal zuweisen lassen und schon konnte es losgehen. Er wurde anscheinend schon erwartet. In einem Empfangsraum, den er nach der Drehtür betreten hatte, konnte er wieder ein Schließfach für seine persönlichen Sachen beziehen. Eine ältere Dame sprach ihn an, nachdem er das Schließfach verriegelt hatte.
»Mr. Kuhler?«, fragte sie, ebenfalls mit näselnder Freundlichkeit.
»Ganz richtig.« Er hielt seinen Ausweis hin, als wenn sie es von ihm gefordert hätte.
»Guten Tag. Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Terminal«, sagte die Dame leicht irritiert.
Sie ging voran und er folgte ihr durch einen Flur in einen Saal, in dem Dutzende Trennwände standen. Die Trennwände verbargen Computerarbeitsplätze. Vorne an jeder Trennwand war ein Schild mit einer Nummer angebracht. Sie hatte ihm noch nicht verraten, welches seine Nummer sein sollte. Sie gingen an zwei Reihen vorbei in die Dritte und dort etwa bis zur Mitte. Sein Platz hatte die Nummer dreiunddreißig, ohne Fenster, ohne Blumen, ohne jeden Schmuck. Er hatte vorher gewusst, was ihn erwartete. Er war heute zum vierten Mal hier, zuletzt vor gut zwei Jahren. Die Terminals waren erneuert worden. Das Victoria and Albert Museum legte immer größten Wert auf eine moderne und gute Einrichtung. Die Computer gehörten dazu, optimale Bedingungen für die Kundschaft.
»Sie finden hier eine Beschreibung zur Bedienung des Arbeitsplatzes«, erklärte die Dame. »Sie haben selbstverständlich Zugriff auf die Archivdatenbank und auch auf das Internet. Sie können unbegrenzt surfen.«
Sie sprach weiterhin leicht näselnd und darum wollte das Wort Surfen auch nicht recht zu ihr passen. Heinz Kühler hatte aber verstanden. Er nahm Platz. Sie schaltete ihm das Gerät ein und wartete noch, bis die Suchmaske der National Art Library automatisch erschien. Er bedankte sich und sie zog sich zurück.
Zunächst einmal wollte er sich ausbreiten. In der Reihe, in der er saß, war bis zur Nummer dreiunddreißig kein anderer Platz belegt. Er rollte mit seinem Stuhl gut einen halben Meter zurück und stieß beinahe an die Stellwand der Reihe hinter ihm. Er blickte zur Seite, konnte aber keine weiteren Rücken erkennen. Er hätte jetzt noch rufen können, um festzustellen, wer sich sonst noch in dem Saal befand. Es schickte sich aber natürlich nicht. Ruhe war hier selbstverständlich. Später hörte er noch jemanden husten, es klang aber etwas entfernt. Er holte schließlich seine Notizen hervor und las sie sich durch. Ihm fielen dabei noch ein paar Begriffe ein, die er dazuschrieb. Er nummerierte die Bereiche, mit denen er beginnen wollte. Er ging vom Groben zum Feinen. Er begann also mit den Allerweltsworten, wie »Boot« oder »Palme«. Das Ergebnis schränkte er ein, indem er jeweils den Namen »Gauguin« hinzunahm. »Palme und Gauguin«, »Boot und Gauguin«, »Strand und Gauguin«. Bevor er sich die Ergebnisse ansah, notierte er die Anzahl der Treffer. Er sah sich eigentlich keines der Ergebnisse an, weil die Anzahl der Treffer jedes Mal bei mehr als einhundert lag. Dann kombinierte er weiter, um die Treffer noch zu reduzieren. Aus der Ergebnisliste wählte er mehrere Artikel aus. Er konnte schnell erkennen, dass sie nichts mit dem zu tun hatten, nach dem er suchte. Bei den angezeigten Themen fand er zum Beispiel Ausführungen zur Bedeutung des Meeres in Landschaftsbildern oder die Sanduhr als Symbol der modernen Kunst. Es gab auch einige Treffer zu Gemälden und Zeichnungen. Es waren auch Bilder von Paul Gauguin darunter. Er sah schnell, dass er dieses Material bereits kannte. Ohne eine Pause ging er zu der zweiten Gruppe von Suchbegriffen. Es waren die Wörter, die mit der Südsee oder den Marquesas zu tun hatten, wie zum Beispiel »Hiva Oa und Gauguin«. Hier war die Anzahl mit zweitausendeinhundertvierunddreißig Treffern besonders groß. Er fügte den Namen »Julie« hinzu und erhielt siebzehn Treffer. Sofort öffnete er einen der Artikel. Er las sich die ersten Zeilen durch. Es ging um Stammesgeschichtliches über die Ureinwohner der Marquesas, um deren Steinkunst und Rieten. Den Namen »Julie« konnte er so schnell nicht finden. Über die Textsuche wurde er dann aber fündig. Der Artikel selbst, sowie zahlreiche Literaturangaben stammten von einer Julia Bredehorst. Das System hatte die Namen »Julie« und »Julia« als Suchungenauigkeit interpretiert und beide in die Ergebnisse mit eingebunden. In den übrigen Treffern tauchte diese Frau Bredehorst immer wieder auf. Eigentlich hatte er sich von dem Namen »Julie« mehr versprochen. Er entfernte in seiner Suche das »Hiva Oa«, sodass er nur noch die Begriffe »Julie und Gauguin« verwendete. Diesmal erhielt er hundertzweiundzwanzig Treffer. Er nahm mehrere Stichproben. In den Ergebnistexten kam der Name »Julie« aber nur als Autorenname vor und nicht als Bezug auf ein Werk Gauguins. Er beließ es bei den Stichproben.
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Er nahm seine Notizen und plante weitere Kombinationen der Suchbegriffe. Einige der Artikel, die er geöffnet und gelesen hatte, beschäftigten sich mit dem Stil Gauguins. Symbolismus, Expressionismus und Impressionismus. Er beugte sich wieder über die Tastatur. Er löschte den Namen »Julie« aus seiner letzten Suchanfrage und fügte zu »Gauguin« die Begriffe »Symbolismus«, »Expressionismus« und »Impressionismus« hinzu. Zusätzlich verwendete er noch den Begriff »Hiva Oa«, um das Ganze weiter einzuschränken. Er löste die Suche aus. Nach wenigen Sekunden erschien wieder die Anzahl der Treffer auf dem Computermonitor. Immerhin waren es diesmal dreiundsiebzig. Er ließ sich die Liste mit den Titeln der Treffer anzeigen. Einiges war in Französisch, das meiste aber auf Englisch. Er hatte vorher noch nicht gesehen, dass er die Liste auch chronologisch sortieren konnte. Er ließ die Anzeige jetzt mit dem ältesten Artikel beginnen. Der dritte Eintrag war eine Abhandlung zum Tode Claude Monets vom Dezember 1926. Er überlegte kurz und ihm fiel ein, dass der Suchbegriff »Impressionismus« zu dem Treffer geführt haben musste, aber auch der Begriff »Gauguin« musste in dem Artikel vorkommen, da er seine Suche so eingestellt hatte, dass immer alle Suchbegriffe in einem Treffer vorkommen sollten. Er öffnete den Treffer über Claude Monet. Es war ein Leserbrief, aus einer neuseeländischen Tageszeitung, dem Auckland Chronicle. Der Autor behauptete Zeitzeuge gewesen zu sein und das Aufkommen des Impressionismus in Frankreich miterlebt zu haben. Der Leserbrief begann sehr ausschweifend. Erst nach mehreren Absätzen tauchte zum ersten Mal der Name Paul Gauguin auf, in einer Aneinanderreihung weiterer Künstler aus dem Umfeld oder der Zeit Claude Monets. Er las nicht weiter und machte sich noch nicht einmal die Mühe, den Leserbrief nach weiteren Stellen abzusuchen, an denen der Name Gauguin auch noch erwähnt wurde. Es bestand die Möglichkeit, ausgewählte Treffer in einer separaten Liste zu speichern, die später auf CD-ROM mitgenommen werden konnten. Er wusste nicht warum, aber er verschob den Leserbrief aus der neuseeländischen Zeitung ebenfalls in diese Liste, in der er schon gut zehn seiner bisherigen Treffer gesammelt hatte.
Er beendete seinen Ausflug in die Kunststile des neunzehnten Jahrhunderts und nahm sich der polynesischen Sprache an. Er begann den Titel eines Gauguin-Bildes als Suchbegriff einzugeben. Alle Wörter des Bildtitels zusammen ergaben einen einzigen Treffer. Es war der Verweis auf das Werk selbst. Er nahm daraufhin die einzelnen Worte und verknüpfte seine Suche mit dem Namen »Gauguin«. Hierbei erschien ebenfalls nur der Verweis auf das Gauguin-Gemälde. Er probierte es weiter, mit anderen Bildtiteln, ohne Erfolg. Bei seinen letzten Versuchen konzentrierte er sich schließlich auf die Frauennamen. Den Namen »Julie« hatte er bereits ausgeschlossen. Er versuchte es jetzt mit den Namen von Gauguins Geliebten. Immerhin kamen dabei zusammen etwa dreißig Treffer heraus. In den Artikeln, die er als Treffer erhielt, ging es vornehmlich um die Bedeutung dieser Frauen in Gauguins Werk, sein Verhältnis zu ihnen und wie und wo er sie dargestellt hatte. Dieser letzte Punkt schien noch einmal interessant zu sein. Er öffnete zwei der Artikel, die er sich diesmal sofort ganz durchlas. Das eine war eine fast fünfzigseitige Abhandlung, eine Übersetzung aus dem französischen ins Englische. Er brauchte fast eine Stunde und vertiefte sich dabei in die Abgründe von Gauguins Liebesleben. Es war sehr interessant, wie er feststellte, hatte aber nichts mit dem zu tun, wonach er suchte. Es gab in den gesamten Ergebnissen seiner Recherche keinen einzigen Hinweis auf das Bild »Julie des Bois«, es gab auch keinen Anhaltspunkt auf irgendein anderes Bild, mit einem ähnlichen Motiv oder Titel. Heinz Kühler hatte sich vom Victoria and Albert Museum mehr versprochen. Dass er in der Tate Gallery nicht fündig geworden war, hatte ihn nicht weiter gestört, doch wenn das Gemälde von dem kleinen Mädchen mit dem Sonnenhut jemals irgendwo aufgetaucht war, dann hätte er etwas in den Historic Catalogues of the National Art Library finden müssen.
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Sowohl in London als auch in München war es bereits später Nachmittag, als eine neue Spur auftauchte. Während Heinz Kühler im Victoria and Albert Museum an dem Fall arbeitete, hatte sein Chef mit einem Kurator des Museums Folkwang in Essen gesprochen und sich beraten lassen. Es kam eine Liste mit einem halben Dutzend Sammlern heraus, die dem Museum als Besitzer eines Gauguins bekannt waren. Es ließ sich allerdings nicht nachvollziehen, ob die Bilder noch im Besitz der Sammler waren. Simon rief in London an. Er konnte Heinz Kühler zwar nicht direkt erreichen und ihn auch nicht ans Telefon holen lassen, aber er erhielt eine E-Mail-Adresse, mit der er Kontakt zu seinem Mitarbeiter aufnehmen konnte. Heinz Kühler war nicht überrascht, als plötzlich der Eingang einer Nachricht angezeigt wurde. Er las sich durch, was sein Chef für ihn hatte und öffnete dann die Liste mit den Namen der Privatsammler. Er suchte daraufhin nach den Werken, die diese Sammler von Paul Gauguin besaßen. Noch einmal begann er alle Register der Suchmaschine der Historic Catalogues zu ziehen. Die Informationen, die ihm Simon übermittelt hatte, waren so detailliert, dass Heinz Kühler ohne Probleme die Kunstwerke aufspürte, die sich in den Privatsammlungen befanden. Er stieß sogar auf Artikel mit bebilderten Beschreibungen der Gauguin-Gemälde. Es gab allerdings kein einziges Bild mit dem Titel »Julie des Bois« oder gar eines, das dem Motiv des kleinen Mädchens mit dem Sonnenhut nur annähernd glich. Die Recherche blieb auch hier erfolglos.
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Colette ging zuerst in die Küche, obwohl sie die Einkaufstüten noch im Auto hatte. Marc war heute Nachmittag bei einem Freund. Er war kurz zu Hause gewesen, hatte sich aus dem Kühlschrank ein vorbereitetes Essen genommen und war dann wieder mit dem Fahrrad losgefahren. So hatte er es ihr zumindest am Telefon berichtet. Die Post hatte er schon aus dem Briefkasten genommen und auf den Küchentisch gelegt. Es kam vor, dass Simon Geschäftspost an ihre Privatadresse erhielt. Der Stapel mit den Briefen lag neben dem Obstkorb. Colette sah ihn sich an. Diesmal war es hauptsächlich Werbung und ein Brief von der Bank, den sie sofort öffnete. Ihre neuen EC-Karten lagen zur Abholung bereit, ein Vorgang, der sich alle zwei Jahre wiederholte. Sie legte den Packen zurück auf den Küchentisch. Die Werbung würde sie sich später noch ansehen. Sie ging noch einmal in die Garage, um aus dem Wagen die Einkaufstüten zu holen. Sie musste zweimal gehen.
Am Nachmittag hatte sie nichts Besonderes mehr vor, sie musste auch keinen Unterricht geben, erst morgen wieder. Es war an manchen Tagen schon recht warm draußen, zumindest schien die Sonne. Sie ging in den Wintergarten, legte eine Auflage auf einen der Teakholz-Deckchairs und nahm sich das bereitgelegte Buch, das sie endlich einmal ohne Unterbrechung durch Marc lesen konnte. Nach einer halben Stunde legte sie den Roman aber dann doch beiseite und entschloss sich, im Internet zu surfen. Sie holte ihren Laptop aus dem Arbeitszimmer. Vom Wintergarten aus hatte sie immer einen guten Empfang zum Router, sodass sie kabellos ins Internet gehen konnte. Sie ließ sich die Schlagzeilen französischer Zeitungen anzeigen. Im Internet war es ihre Lieblingsbeschäftigung, Nachrichten aus ihrer Heimat zu lesen. Sie war in Nantes geboren und suchte hier zuerst in den Tageszeitungen und Magazinen, im L’Eclair, im Plein Ouest oder im Paruvendu Nantes. Nach den lokalen Nachrichten interessierte sie auch die Presse in Paris und überregional aus Frankreich. Sie wählte die Internetseiten vom L'Équipe, vom Le Parisien und natürlich vom Le Figaro und vom Le Monde. Sie stöberte schon eine ganze Stunde, als sie an ihre elektronische Post dachte. Sie hatte heute noch nicht ihren Maileingang geprüft. Sie wechselte zum Mailprogramm und öffnete ihren Posteingangskorb. Es gab nur eine einzige neue Nachricht. Florence hatte ihr geantwortet. Es war schon fast zwei Wochen her, dass Florence sie hier in München besucht hatte. Colette öffnete die Mail und las sich die Grüße ihrer Freundin durch. Florence hatte sich sehr über die Bilder gefreut, auch wenn einige Aufnahmen nicht besonders schmeichelhaft waren. Colette überlegte, sie hatte sich die Bilder selbst noch gar nicht angesehen, sie hatte es vergessen. Sie würde es gleich nachholen, sie las zunächst aber weiter. Florence meinte, dass zwei oder drei der Fotos in den Müll gehörten, aber insgesamt sei es eine schöne Erinnerung. Colette wollte schon den Ordner mit den Bildern aufrufen, um sich endlich auch selbst einen Eindruck zu verschaffen, dann stutzte sie. Sie las die Mail noch zu Ende und verstand zunächst nicht. Florence hatte noch drei Bilddateien an ihre Mail gehängt, zwei Fotografien und die Aufnahme von einem Ölgemälde, das ein kleines Mädchen mit einem Sonnenhut zeigte. Aus dem, was Florence ihr dazu schrieb, verstand Colette, dass sie selbst ihrer Freundin die Aufnahme von dem Ölgemälde geschickt hatte. Colette wusste nichts von diesem Bild, ihr wurde aber schnell klar, dass es schon auf der Kamera gespeichert gewesen sein musste, als sie den Apparat für ihren Ausflug in die Münchner City benutzt hatten. Sie öffnete den Ordner, in den sie die Bilder hineinkopiert hatte. Sie sah sich Bild für Bild an und tatsächlich tauchte plötzlich die Aufnahme von dem Ölgemälde auf. Die Kamera gehörte Simon, er hatte das Foto von dem Ölgemälde gemacht und er hatte die Kamera später im Wagen vergessen. Colettes Fehler war es, dass sie aus Versehen einfach alle Fotos, die sich auf der Kamera befanden, an Florence versendet hatte. Sie ärgerte sich, dass sie die Bilder nicht sofort kontrolliert hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Die Sache mit dem Ölgemälde konnte harmlos sein, Simon konnte das Bild in einem Museum oder einer Ausstellung entdeckt haben und hatte es einfach nur aus Interesse fotografiert. Es konnte aber auch sein, dass es sich um das Bild eines Kunden handelte. Sie überlegte, was sie Simon sagen sollte. Es war ihr klar, dass alles, was mit dem Kunst- und Auktionshaus Blammer im Zusammenhang stand, immer einer gewissen Diskretion unterlag. Es war sicherlich nicht sehr schlimm, dass Florence diese Aufnahme von dem Ölgemälde erhalten hatte, aber es hätte nicht vorkommen dürfen. Sie sah sich jetzt die anderen Bilder an, die mit Florence Mail gekommen waren. Sie öffnete die Dateien am Bildschirm. Die Fotografien schienen schon sehr alt zu sein. Auf dem ersten Foto stand eine Gruppe von Menschen vor einem Fischerboot. Einige Kinder hatten sich hingehockt. Auf dem zweiten Bild waren nur Kinder zu sehen, die vor einer Holzbaracke, vermutlich einem Kaufmannsladen warteten. Florence hatte auf beiden Fotografien eine der Personen mit einem Kreis gekennzeichnet. Es war ein kleines Mädchen, das auf dem einen Bild einen Sonnenhut trug und auf dem anderen ohne Kopfbedeckung zu sehen war. Colette zoomte den Ausschnitt näher heran. Die Kleine hatte langes, vermutlich dunkelblondes Haar. Es dauerte einige Sekunden, bis Colette in dem Mädchen das Kind auf dem Ölgemälde erkannte, dann war es ihr aber eindeutig klar. Sie öffnete noch einmal das Foto von dem Ölgemälde, um ganz sicher zu gehen. Es war tatsächlich so. Noch ganz fasziniert ging sie wieder auf die Mail ihrer Freundin und las noch einmal den Teil der Nachricht, den sie anfangs nicht verstanden hatte.
...mir war gleich klar, dass ich dieses Gesicht schon einmal gesehen habe. Es gibt eine ganze Ausstellung mit diesen alten Fotografien. Die Bilder hängen jetzt bei uns im Krankenhaus und ich bin losgezogen und habe diese beiden Aufnahmen gefunden. Es ist doch erstaunlich. Der berühmte Paul Gauguin hat das kleine Mädchen gemalt und ich finde eine Fotografie von ihr, sie muss auf Hiva Oa gelebt haben...
Colette stutzte. Die Aufnahme von dem Ölgemälde war noch im Hintergrund ihrer Bildschirmanzeige geöffnet. Sie holte es in den Vordergrund und suchte die Bildränder nach der Signatur ab. In der rechten unteren Ecke wurde sie fündig, »Paul Gauguin, 1902, Julie des Bois«. Colette war sich der Bedeutung von Florence Entdeckung nicht sicher. Vielleicht war es etwas, das Simon bereits wusste, vielleicht hatte aber auch der Zufall neue Informationen ans Tageslicht gebracht. Sie überlegte kurz, dann wanderte sie mit der Maus quer über den Monitor und drückte auf die Schaltfläche Weiterleiten. Sie wählte Simons Geschäftsadresse aus dem Verzeichnis und übertrug sie in die Mail. Bevor sie die Nachricht versendete, schrieb sie noch eine kurze Erklärung.
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Das Timing wollte es, dass Heinz Kühler an diesem Nachmittag wieder in München landete und per Handy sofort ins Büro beordert wurde. Er hatte keine Wahl, obwohl er eigentlich direkt nach Hause fahren wollte. Eine knappe Stunde nach dem Anruf stand er schon vor der Tür seines Chefs und wurde von Frau Hoischen ohne weitere Ankündigung durchgewunken. Simon hatte bereits einiges vorbereitet. Auf dem Besprechungstisch standen gleich zwei Beamer mit angeschlossenen Laptops. Vor dem Tisch war eine Leinwand aufgebaut, auf der sich bereits die beiden Lichtkegel der Beamer abzeichneten.
»Setzen Sie sich.«
Heinz Kühler kam der Aufforderung wortlos nach. Sein Chef zog sich ebenfalls einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm an den Besprechungstisch. Mit zwei Fingern stellte er die Bildschirmansicht am ersten Laptop ein. Das auf die Leinwand geworfene Licht flackerte auf und zeigte nach weniger als einer Sekunde die Oberfläche des Betriebssystems mit den Icons des Desktops an. Das Gleiche führte er mit dem zweiten Laptop durch. Dann ging er wieder an das erste Gerät. Auf der rechten Leinwandseite huschte der Mauszeiger über den Bildschirm. Simon öffnete einen der Ordner und klickte auf eine Datei aus der angezeigten Liste. Wieder verging eine halbe Sekunde, bis sich schließlich ein Bild öffnete und den rechten Teil der Leinwand einnahm. Es war das Ölgemälde, der Gauguin, dem Heinz Kühler in den letzten Tagen in London nachgejagt war.
»Und jetzt passen Sie auf«, kündigte Simon an.
Er griff in die Tastatur des zweiten Laptops und öffnete auch hier eine Datei, die jetzt auf der linken Leinwandseite angezeigt wurde. Das Bild war zunächst sehr klein. Simon ging mit dem Mauszeiger auf das Menü und aktivierte die Vollbildanzeige. Die Wiedergabe dauerte eine Sekunde, dann war aber auf der Leinwand ein zweites Foto zu sehen. Es war eine Schwarzweiß-Aufnahme. Es zeigte eine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern, die links und rechts neben einem Boot standen oder vor dem Rumpf des Bootes hockten. Um das Gesicht eines der Kinder war ein schwach zu sehender Kreis eingezeichnet. Heinz Kühler wusste zunächst nicht, was er da sah. Er verglich instinktiv die Fotografie mit dem Bild des Ölgemäldes. Die Gemeinsamkeiten waren der Strand und auch das Fischerboot. Die markierte Person beachtete er zunächst nicht. Simon zoomte die Personen auf der Fotografie näher heran. Heinz Kühlers Augen wanderten weiter zu dem Ölgemälde und zurück auf das Schwarzweiß-Foto. Er stand auf und ging extra ganz dicht an die Leinwand heran.
»Sie ist es. Das sehen Sie doch auch, oder?«, sagte Simon euphorisch.
Heinz Kühler drehte sich zu seinem Chef um und nickte nur. Dann sah er sich wieder die Bilder an.
»Das Foto wurde von einem Victor Jasoline aufgenommen«, erklärte Simon, »einem französischen Offizier, der um die Jahrhundertwende auf Tahiti und den Marquesas stationiert war und der wohl nebenbei fotografiert hat.«
»Woher haben Sie das?«, fragte Heinz Kühler.
»Ein Zufall!« Simon räusperte sich. »Meine Frau hatte Besuch von einer Freundin. Sie erinnern sich vielleicht, es war vor gut drei Wochen, meine Frau ist noch hier ins Büro gekommen und hat sich den Schlüssel von meinem Wagen geholt. Wir haben die Autos getauscht, weil sie ihre Freundin samt Gepäck vom Flughafen abholen wollte. Also diese Freundin ist wie meine Frau Französin, nur dass sie nicht in Frankreich lebt, sondern in der Südsee. Tahiti und die Marquesas gehören auch zu Frankreich, Sie verstehen.«
»Und die Schwarzweiß-Aufnahme kommt von dieser Freundin?«, griff Heinz Kühler seinem Chef vor.
»Richtig, aber es geht ja noch weiter«, sagte Simon. »Es klingt wie im Film. Meine Frau und ihre Freundin sind zwei Tage zusammen in München unterwegs, mit dem Cabriolet meiner Frau. Sie findet im Handschuhfach meine Kamera, die ich dort vergessen habe, weil wir doch die Wagen getauscht hatten. Auf der Kamera befand sich noch die Fotografie des Ölgemäldes. Am selben Tag, an dem auch die Freundin meiner Frau in München angekommen ist, hat uns nämlich Herr Linz das Gauguin-Gemälde präsentiert, es war tatsächlich am selben Tag. Ich habe das Gemälde fotografiert, eben mit der Kamera, die ich dann im Cabriolet vergessen habe. Meine Frau findet also die Kamera und macht fröhliche Ausflugsbilder. Ihre Freundin lebt immerhin fast fünfzehntausend Kilometer von hier entfernt. Per Mail schickt sie die Bilder, zu den Marquesas, alle Bilder, die auf der Kamera waren, auch die Aufnahme von dem Ölgemälde. Sie hat es gar nicht gemerkt, dafür aber ihre Freundin. Die heißt übrigens Madame Florence Uzar und lebt auf einer Insel namens Nuku Hiva, schon einmal davon gehört?«
Heinz Kühler schüttelte mit dem Kopf. Er überlegte. »Marquesas, Nuku Hiva«, wiederholte er. »Herr Brahm hat doch von einer Insel namens Hiva Oa erzählt, Gauguins Insel.«
»Ganz richtig, Hiva Oa gehört auch zu den Marquesas, aber egal. Madame Uzar sieht das Ölgemälde, was eigentlich nicht in unserem Sinne ist, schließlich sollten wir die ganze Angelegenheit ja diskret behandeln. Unser Glück ist nur, dass Madame Uzar das kleine Mädchen schon einmal gesehen hat und zwar auf diesem Foto hier. Ich habe sogar noch eine weitere Fotografie, auf der sie abgebildet ist. Die alten Aufnahmen stammen aus einer Ausstellung. Madame Uzar konnte dann auch noch herausfinden, wer der Fotograf war. So sind wir an den Namen Victor Jasoline gekommen.«
»Dann hätte ich mir London ja sparen können«, sagte Heinz Kühler. »Gibt es auch eine Aufnahme, die Gauguin zusammen mit dem Mädchen zeigt, dann hätten wir nämlich einen guten Herkunftsnachweis, wenn wir beweisen können, dass Gauguin mit diesem Mädchen tatsächlich bekannt war.«
»Nein!«, erwiderte Simon. »Ich denke, das wäre auch zu schön, um wahr zu sein. Wir wissen jetzt, dass die Kleine auf dem Ölgemälde ein reales Vorbild hatte, wir wissen jetzt, dass Gauguin einen Menschen aus seiner Umgebung gemalt hat. Die Fotografie stammt aus dem Jahr 1904 und sie stammt sogar von der Insel Hiva Oa.«
»Hiva Oa?«, wiederholte Heinz Kühler. »Es ist schon erstaunlich, dass Sie vor kurzem von jemandem Besuch hatten, der ganz in der Nähe lebt. Die Welt ist doch klein.«
»Ganz richtig und jetzt passt doch alles sehr gut zusammen. Ihre Recherche in London ist natürlich auf keinen Fall umsonst gewesen und das wissen Sie auch. Jetzt haben wir ausgeschlossen, dass das Bild jemals öffentlich gezeigt wurde oder sonst wie publik geworden ist und das passt wiederum sehr gut zu der Geschichte.«
»Zu welcher Geschichte?«, fragte Heinz Kühler überrascht. »Haben Sie noch weitere Informationen?«
Simon schüttelte den Kopf. »So habe ich das nicht gemeint. Ich habe meine eigenen Rückschlüsse gezogen. Wenn ein solches Meisterwerk weder bei Tate noch in den Historic Catalogues der National Art Library zu finden ist, muss es die ganze Zeit in Privatbesitz gewesen sein, und zwar nicht bei einem Sammler, sondern ganz und gar privat.«
»Aber Sie glauben doch nicht an die Geschichte vom Dachboden oder vom Kellergewölbe«, unterbrach ihn Heinz Kühler. »Und Sie glauben doch auch nicht daran, dass der Gauguin dort unentdeckt geblieben ist, all die Jahrzehnte, bis Herr Linz ihn schließlich gekauft hat.«
»Natürlich habe ich meine Theorie«, erklärte Simon, »und nachdem wir in den herkömmlichen Quellen nicht fündig geworden sind, sollten wir vielleicht dieser Theorie folgen.«
Heinz Kühler nickte. »Dann lassen Sie mal hören.«
»Also«, begann Simon, »ich denke, es gab nicht allzu viele Franzosen auf den Marquesas, Kolonialbeamte und eben auch die Angehörigen des Militärs, zu denen ja auch der Fotograf, dieser Victor Jasoline gehörte. Sicherlich hatten auch viele der Beamten und Offiziere ihre Familien dabei. Die Kleine gehörte mit Bestimmtheit in eine dieser Familien. Das Gemälde und die Fotografie sind ja etwa zur gleichen Zeit entstanden, Gauguin hat mit 1902 signiert und das Foto stammt von 1904, da liegt nicht viel dazwischen. Dieser Victor Jasoline hat vielleicht sogar von dem Ölgemälde gewusst und er hat bestimmt gewusst, wer das kleine Mädchen mit dem Sonnenhut ist. Wir müssen herausfinden, wer die Kleine war und wir müssen dafür nach diesem Fotografen suchen.«
Simon ging zum Besprechungstisch und blendete an dem linken Laptop wieder die Benutzeroberfläche ein. Er öffnete aus dem angezeigten Ordner eine weitere Bilddatei.
»Hier ist das andere Foto, das uns Madame Uzar geschickt hat«, kommentierte er die Einblendung auf der Leinwand.
»Jetzt habe ich sie sofort entdeckt, aber sie ist ja auch wieder mit einem Kreis markiert.« Heinz Kühler ging an die Leinwand und tippte auf eines der Kinder, die vor dem Laden standen. »Diesmal trägt sie aber keinen Hut. Sie hat tatsächlich langes Haar, auf dem Gemälde ist das nur angedeutet und sie ist recht groß im Vergleich zu den anderen Kindern. Wie alt mag sie wohl damals gewesen sein?«
Simon zuckte mit den Schultern. Er ging zu seiner Mappe, die auf dem Besprechungstisch lag, und zog ein Blatt Papier heraus. Er gab es Heinz Kühler.
»Hier ist der Kurzlebenslauf von Victor Jasoline«, erklärte er. »Leider endet der Bericht bereits im Jahr 1906 und es klingt nicht so, als wenn unser Fotograf in diesem Jahr gestorben sei.«
Heinz Kühler überflog den Text. »Hier steht nur, dass er aus dem Staatsdienst ausgeschieden ist«, sagte er schließlich.
»Gut wir haben jetzt zwei Namen«, sagte Simon, »Victor Jasoline und Julie, wobei der Name des kleinen Mädchens nicht ihr richtiger sein muss. Ich bezweifle nämlich, dass sie wirklich Julie hieß. Es ist ja bekannt, dass Gauguin ein und dieselbe Person auf unterschiedlichen Werken in verschieden Rollen gemalt hat. Nehmen wir das Bild von der schönen Angelie.«
Heinz Kühler nickte. Er kannte das Gemälde.
»Es gibt davon einige Variationen«, fuhr Simon fort. »Auf einigen anderen Werken Gauguins ist eigentlich immer diese Angelie dargestellt, ich meine ihr Gesicht, sie hat dabei aber jedes Mal einen anderen Namen oder war namenlos. Vielleicht hat Gauguin es in unserem Fall anders herumgemacht und er hat dem kleinen Mädchen nur den Namen eines seiner früheren Modelle gegeben. Sie verstehen.«
Heinz Kühler schüttelte den Kopf. »Sie meinen also, dass Gauguin den Namen Julie von einem seiner früheren Modelle verwendet hat. Ich habe natürlich in Gauguins Werk nach einer Julie gesucht, aber nichts auch nur Annäherndes gefunden. Ich kann es zwar nicht zu hundert Prozent ausschließen, aber es scheint sehr sicher zu sein.«
»Es wäre natürlich gut, wenn wir da schon Sicherheit hätten«, sagte Simon. »Es gibt aber immer noch einiges zu tun. Wir haben jetzt lediglich einen guten, nein ich würde sogar sagen, einen sehr guten Ansatzpunkt.«
»Da fällt mir ein, haben Sie schon mit Herrn Linz gesprochen?«, fragte Heinz Kühler. »Vielleicht hieß der Mann, von dem er den Gauguin gekauft hat, ja sogar auch Jasoline und war ein Nachfahre unseres Fotografen.«
Simon überlegte. »Dieser Linz behauptet ja, den Verkäufer nicht zu kennen, keinen Namen, es war ein anonymes Geschäft. Wir können ihn natürlich noch einmal fragen, ihm den Namen nennen, vielleicht erinnert er sich dann ja an etwas. Bevor ich mit Herrn Linz spreche, möchte ich aber mit Ihnen zusammen überlegen, wie wir jetzt vorgehen. Ich denke eine Recherche in Ausstellungskatalogen oder Museumsdokumenten wird hier nicht zum Erfolg führen. Außerdem haben Sie ja bereits alles durch. Bessere Quellen, als die, unter denen Sie recherchiert haben, gibt es leider nicht. Wie gesagt, ich möchte die Spur Jasoline weiterverfolgen. Ich bin davon überzeugt, dass uns die Nachfahren von Victor Jasoline etwas über das Ölgemälde erzählen können.«
»Gut, aber vielmehr als den Namen Jasoline haben wir für die Recherche nicht«, sagte Heinz Kühler nachdenklich.
»Wir haben schon ein wenig mehr als nur den Namen«, meinte Simon. »Wir wissen, was er von Beruf war. Ich denke sein Beruf als Offizier, als Angehöriger des französischen Militärs, ist sogar der Schlüssel zu unseren Nachforschungen. Es gibt bestimmt noch Unterlagen bei den Behörden, Unterlagen über ehemalige Offiziere oder so etwas Ähnliches. Ich denke wir haben große Chancen etwas herauszubekommen. Dieser Victor Jasoline hat das Foto von der Kleinen gemacht und Gauguin hat sie gemalt und das alles etwa zur selben Zeit, nämlich so um 1902 oder 1903. Im Jahre 1904 war Gauguin ja leider schon tot. Ich denke über diesen Victor Jasoline werden wir herausfinden, wer diese Julie wirklich war.«
Heinz Kühler ging noch einmal näher an die Leinwand heran und betrachtete sich die Fotografie, auf der das kleine Mädchen neben den anderen Kindern stand. Er besah sich die Körbe, die vor der Gruppe aufgebaut waren, und versuchte auch das Firmenschild zu entziffern, das durch den Bildrand des Fotos abgeschnitten war.
Heinz Kühler überlegte. »Gibt es Informationen über diesen Laden hier? Vielleicht hat die Kleine etwas mit den Geschäftsinhabern zu tun?«
»Mag sein«, erklärte Simon, »aber es wird wohl schwer sein, etwas herauszufinden, leider lässt sich nicht erkennen, wie das Geschäft richtig heißt. Übersetzt steht dort nur das Wort Handel. Es ist allerdings möglich, dass die Freundin meiner Frau mehr dazu sagen kann. Wir werden noch einmal Kontakt mit ihr aufnehmen. Sie weiß selbst auch noch gar nicht, was sie da entdeckt hat. Das Ganze war wie gesagt ein Zufall.«
»Die großen Dinge im Zeitgeschehen werden immer durch Zufälle ausgelöst«, kommentierte Heinz Kühler.
Simon sah ihn an. »Jetzt beginnen Sie aber nicht, auch noch in Reimen zu sprechen«, sagte er kopfschüttelnd.