Читать книгу Die Schlangentrommel - Ole R. Börgdahl - Страница 7

Sonntag, 26. August 2001, 7:00 Uhr

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Sie hatten den Wagen in einem Wohngebiet in der Nähe des Fährhafens von Trelleborg geparkt. Sie hielten sich dort seit gut einer Stunde auf. Erik kehrte jetzt aus dem Hafen zurück. Das Schiff hatte gerade die Hafeneinfahrt passiert. Es warteten bereits einige Passagiere mit ihren Fahrzeugen an der Rampe. Sie hatten vereinbart, dass Rin Mura nicht mit dem Wagen an Bord fahren sollte. Er sollte mit Gunnar in einem Café warten und erst ganz zum Schluss auf das Schiff gehen. Hanna und Erik spielten diesmal das Ehepaar. Sie fuhren mit der Limousine die Travemündeallén entlang und erreichten die kleine Autoschlange. Die Fahrzeuge standen in zwei Reihen vor der Rampe. Das Schiff hatte inzwischen festgemacht. Im Gegenverkehr verließen vor allem LKWs und Busse die Fähre.

Rin Mura saß vor einem Tee, den er kaum angerührt hatte. Gunnar steckte sich eine Tüte mit Gebäck in die Jackentasche. Er ging zum Fenster und sah, dass jetzt auch das Beladen des Schiffes begonnen hatte. Die TT-Line setzte von Trelleborg aus die SAGA STAR ein. Gunnar kehrte zum Tisch zurück, an dem Rin Mura saß und vor sich hin grübelte.

»Glauben Sie, dass es Unglück bringt, wenn man den Namen eines Schiffes ändert?«, fragte er unvermittelt.

Rin Mura blickte auf. »Ich bin nicht abergläubisch«, antwortete er schroff.

»Die SAGA STAR hieß früher GIROLATA«, erklärte Gunnar.

»Was wollen Sie damit andeuten?« Rin Mura schob die volle Teetasse von sich weg.

»Nichts, ich meine nur, es wäre eine gute Finte, wenn wir unseren Plan ändern und Sie nach Sassnitz übersetzen.«

»Und was ist mit dem Wagen?«, fragte Rin Mura.

»Ich habe das mit meinen Kollegen schon durchgesprochen. Wir haben immer einen Alternativplan, erst recht, nachdem man uns heute Nacht beinahe ... Also, wir rechnen natürlich mit so etwas. Ein anderer Wagen würde uns in Sassnitz wieder aufnehmen. Es gebe höchstens eine Verzögerung von zwei Stunden. Es würde nichts ausmachen.« Gunnar überlegte. »Zeitlich haben wir so viel Luft, dass wir auch in Deutschland die Route noch einmal ändern könnten. Ein bisschen Sightseeing, um möglichen Verfolgern unser Ziel nicht gleich zu verraten.«

Rin Mura überlegte. »Was sagt Herr Grenholm dazu?«

Gunnar zuckte mit den Schultern. »Er wird nichts dazu sagen. Wir haben bei solchen Dingen eine gewisse Handlungsfreiheit. Das muss sein, weil wir ja auch auf bedrohliche Situationen selbstständig reagieren müssen.«

»Und so eine Situation ist jetzt gegeben?«, fragte Rin Mura.

Gunnar schüttelte den Kopf. »Nein, nicht unbedingt.«

»Dann entscheide ich, dass wir nichts ändern. Wie gesagt, ich bin nicht abergläubisch. Wenn die Rederei das Schiff einsetzt, dann wird es die Überfahrt wohl schaffen, ohne dass ein Unglück geschieht.«

Gunnar nickte. »Dann trinken Sie bitte ihren Tee aus, wir müssen an Bord.«

Rin Mura trank seinen Tee nicht aus. Sie verließen das Café. Unten im Hafen fuhren die letzten PKWs über die Rampe auf das Parkdeck der SAGA STAR. Kurz bevor sie den Kartenkontrolleur passierten und an Bord gingen, drückte Gunnar Rin Mura das Fährticket in die Hand. Sie fanden sich draußen auf dem Oberdeck ein, stellten sich zu den anderen Passagieren an die Reling unterhalb der Rettungsboote.

Zwanzig Minuten nachdem die Fähre abgelegt hatte, erschien Erik und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte beim Zahlmeister nachträglich eine Kabine gelöst. Er nannte ihnen die Kabinennummer und Gunnar verließ mit Rin Mura das Oberdeck. Sie mussten ins Innere des Schiffes. Gunnar brauchte nicht lange zu suchen. Auf dem schmalen Gang ließen sie eine vierköpfige Familie vorbeigehen, dann klopfte Gunnar an die Kabinentür. Das Klopfen wurde von innen erwidert und Gunnar gab das vereinbarte Zeichen zurück. Erst dann öffnete Hanna die Tür. Die Kabine war klein und fensterlos. Es gab ein Doppelbett. Hanna verließ die Kabine, die von Rin Mura und Gunnar bezogen wurde. Rin Mura blieben jetzt knapp fünf Stunden, um sich frisch zu machen und etwas Schlaf zu finden.

*

Sie hatten Louk Bourey nach Göteborg gebracht, ins staatliche Untersuchungsgefängnis. Vor den Polizeibehörden hatten sie eine Anzeige durchgebracht und dafür gesorgt, dass er vorläufig festgehalten wurde. Die Nacht hatte Bourey in einer Einzelzelle verbracht. Seit mehr als einer Stunde verlangte er von den Wärtern seines Zellentrakts, telefonieren zu dürfen. Es war Punkt 8:00 Uhr, als ein schwerer Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Der Riegel wurde ausgerastet und die Tür öffnete sich. Bourey konnte die Zelle verlassen. Zwei Beamte begleiteten ihn über den Gang in ein Vernehmungszimmer. Die beiden Wachmänner blieben im Raum, als Louk Bourey den Hörer des Wandtelefons nahm und eine Nummer in das Tastenfeld eintippte. Er presste die Hörermuschel ans Ohr. Nach dem Freizeichen klingelte es dreimal, bis wortlos abgenommen wurde.

»Hallo, ich bin es.« Bourey drehte sich zu den Beamten um, die Männer hatten sich abgewandt.

»Ich höre!«, war Grenholms knappe Antwort.

»Ich brauche einen Anwalt«, erklärte Bourey mit ruhigen Worten. »Ich befinde mich seit gestern Nacht im Häktet Göteborg. Die Adresse lautet Ullevigatan 11 in 401 23 Göteborg.«

»Verstehe«, sagte Grenholm, ohne zu zögern. »Sie sind also nicht nach London geflogen? Warum melden Sie sich erst jetzt?«

»Ich durfte nicht telefonieren«, erklärte Bourey.

»Wissen die, wer Sie sind?«

»Das kann ich nicht sagen, aber sie werden es wohl schnell herausbekommen.« Bourey zögerte. »Ich wurde von der Polizei verhaftet, aber da gab es noch andere Männer, im Hintergrund.«

»Dann wissen sie es«, stellte Grenholm fest. Er überlegte. »Ihre Wohnung ist nicht mehr sicher.«

»Das fürchte ich auch«, sagte Bourey. »Was ist mit dem …?«

»Mit dem Stadion? Ich weiß nicht, ob Berlin überhaupt noch infrage kommt. Verdammt!« rief Grenholm in den Hörer. »Sie hätten sich schon gestern melden müssen.«

»Ich konnte nicht.« Boureys Stimme klang gedrückt.

»Vergessen Sie es«, erwiderte Grenholm. »Sie werden von sich aus nichts sagen. Man wird Sie verhören ...« Er stutzte. »Oder wurden Sie schon verhört?«

»Ja, aber nur von der Polizei«, sagte Bourey.

»Was wollten die von Ihnen, was hat man Ihnen vorgeworfen?«

»Das weiß ich nicht, irgendetwas war mit meinem Pass nicht in Ordnung.« Bourey schluckte. »Ich kann mir das nicht erklären, die können nicht wiss …«

»War noch jemand außer der Polizei bei dem Verhör dabei?« Grenholm drängte.

»Ich weiß nicht, ja, zwei Polizisten in Zivil.« Bourey versuchte sich die Ereignisse der Nacht ins Gedächtnis zu rufen. »Ich hatte es schwer, mich unter Kontrolle zu halten.«

»Aber jetzt geht es Ihnen besser?«, fragte Grenholm.

»Ja, es geht mir besser, ich habe geschlafen, mir geht es wirklich besser, ich habe die Situation im Griff.«

»Das ist gut.« Grenholm machte eine Pause. »Sie wissen selbst, dass Sie standhaft bleiben müssen, dass Sie solange es geht, seine Identität wahren. Schaffen Sie das?«

»Selbstverständlich werde ich das schaffen. Was ist nun mit dem Stadion?« Bourey flüsterte das letzte Wort.

»Wir werden es in Betracht ziehen«, sagte Grenholm. »Wir haben viele Optionen.«

Einer der Wärter machte einen Schritt auf Louk Bourey zu und tippte mit dem Zeigefinger auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr. Bourey nickte ihm zu.

»Meine Zeit ist um«, erklärte er Grenholm. »Ich muss das Gespräch jetzt beenden. Danke und auf Wiedersehen.«

Er hängte den Hörer schief auf die Gabel. Als er sich umdrehte, rutschte der Hörer ab und baumelte an der Wand neben dem Telefonapparat. Er hatte es nicht bemerkt. Er ging zur Tür, die einer der Wärter bereits geöffnet hatte. Der andere Mann ging zum Telefon und hängte den Hörer wieder ein. Er folgte seinem Kollegen, der Bourey bereits aus dem Raum geführt hatte. Gemeinsam brachten sie ihn über den Gang zurück zu seiner Zelle.

*

Martin Grenholm schaltete sein Mobiltelefon aus. Er verließ sein Zimmer in der Pension in Reinickendorf, lief über den Flur und klopfte an der übernächsten Tür. Er trat sofort ein und sah sich um. Alex stand im Badezimmer und rasierte sich. Er wischte sich den Schaum ab und kam ins Zimmer.

»Kleine Planänderung!«, rief Grenholm. »Die Karte?«

Alex legte das Handtuch über den Stuhl, der am Fenster stand, und hob seine Umhängetasche vom Boden auf. Der Plan steckte in einem Seitenfach. Grenholm nahm ihn entgegen und breitete ihn auf dem Bett aus.

»Gut, was ist mit dem Ausweichquartier, wo lag das noch genau?« Grenholms Augen wanderten über die Karte.

Alex half ihm. »Hier!«

»Brandenburg«, murmelte Grenholm. »Ist denn dort alles vorbereitet?«

»Das Spiel hat gestern Nachmittag stattgefunden«, antwortete Alex. »Hertha hat gewonnen, mit zwei zu eins. Es waren fast fünfzehntausend Zuschauer im Stadion.«

»Und werden heute auch so viele kommen?«

»Wohl nicht ganz. Sie rechnen aber mit wenigstens fünftausend Fans.« Alex überlegte. »Das heißt, wir müssen ihn dorthin umleiten. Boureys Wohnung in Zehlendorf ist also gestorben?«

Grenholm zuckte mit den Schultern. »Die Wohnung ist gestorben, aber sonst habe ich noch nichts entschieden. Ich hatte fest damit gerechnet, dass Bourey es bis nach London schafft und wir ein paar Tage gewinnen und mit dem Job durch wären, bevor Sie sich an Muras Spur heften.«

»Gut«, sagte Alex, »aber wir sind vorbereitet.«

»Sind wir das wirklich?«, fragte Grenholm.

»Es sind jetzt natürlich ein paar Arrangements zu vereinbaren. Im Vereinsheim brauche ich nur anzurufen und wir können ihn dort in einem der Hinterzimmer unterbringen. Die Veranstaltung findet ja ohnehin draußen statt. Dann müssen wir die Sachen, die wir in der Wohnung deponiert haben zum Vereinsheim bringen.«

»Das kann Charlie machen«, sagte Grenholm. »Aber bitte sofort.«

Alex nickte er überlegte erneut. »Also, Mura übernachtet in dem Vereinsheim und nimmt morgen früh das Flugzeug.«

»Das ist jetzt nicht mehr möglich«, Grenholm schüttelte den Kopf. »Mura kann nicht mit einem Flugticket, das auf Louk Bourey lautet durch die Sicherheitskontrollen, das kommt sofort heraus. Die wissen längst, dass Bourey Bourey ist und haben die Verbindung zu Berlin hergestellt.« Grenholm schüttelte noch immer den Kopf. »Nein, nein, wir machen es ganz anders. Wir bringen ihn in das Vereinsheim, ja, das machen wir, aber er bleibt nur ein paar Stunden dort. Dann suchen wir uns anonymere Transportmittel.«

»Und das Treffen mit dem Käufer?«, fragte Alex.

»Dafür muss die Zeit reichen«, sagte Grenholm.

»Und weiß das der Käufer schon?«

»Das ist unser geringstes Problem.«

»Sollten wir Mura vielleicht ganz aus Berlin raushalten?«, fragte Alex.

»Nein, ich möchte den Deal so schnell wie möglich abwickeln, je eher, desto besser. Ich werde den Käufer informieren, dass er Mura nicht in der Wohnung in Zehlendorf trifft. Ich nenne ihm den Ausweichtreffpunkt und fertig.«

»Aber Mura muss nach dem Deal sofort verschwinden?«, folgerte Alex.

»Richtig, und wir müssen den Rückzug sichern.« Grenholm überlegte. »Sorge du dafür, dass in Rostock ein Wagentausch stattfindet. Zu der Sache mit Bourey kommt noch hinzu, dass sie Mura gestern Abend fast erwischt hätten. Gunnar hat mich informiert. Sie wissen vielleicht auch, dass Mura mit der Fähre kommt.«

Alex nickte. »Ist alles vorbereitet, ich kümmere mich darum.«

Grenholm überlegte. »Wenn Mura heute Nacht das Vereinsheim wieder verlässt, möchte ich, dass es ordentlich Verwirrung gibt, falls wir auch dort ungebetenen Besuch erhalten.«

»Dann müssen wir die Krawallmacher mobilisieren, die brauchen wir jetzt«, stellte Alex fest.

*

Halb vier Uhr morgens, Eastern Daylight Time, getarnter Einsatzraum der Agency. Tillman Halls öffnete die Tür mit seiner Magnetkarte und ließ den Colonel eintreten. Der Commander wartete bereits.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Sir. Wollen Sie einen Kaffee?«

Der Colonel zögerte. Er wollte etwas erwidern, nickte dann aber nur. Der Commander nahm eine Tasse und schenke dem Colonel aus der silbernen Thermoskanne ein. Sie setzten sich. Tillman Halls zog sich wieder das iBook heran, nahm die Fernbedienung und schaltete den Beamer ein. Es dauerte ein paar Sekunden, bis das Bild erschien. Es war dieselbe Fotografie, doch jetzt gab es Neuigkeiten.

»Wir haben etwas herausgefunden, das Sie verwundern wird«, begann der Commander.

»Ich bin ganz Ohr«, sagte der Colonel so emotionslos wie möglich.

»Wir haben Rin Muras Fingerabdrücke genommen«, erklärte der Commander.

»Das wurde aber auch Zeit«, meinte der Colonel.

»Zu dem jetzigen Zeitpunkt war das natürlich illegal« Tillman Halls räusperte sich.

»Was meinen Sie mit illegal?«

»Rin Mura ist immerhin in schwedischem Gewahrsam. Hier gibt es Gesetze, die eingehalten werden müssen. Der Gefangene wird erst am Montag dem Haftrichter vorgeführt und nur der kann entscheiden, ob einem Verdächtigen die Fingerabdrücke genommen werden dürfen.«

»Aber Sie sind diese Gesetze umgangen«, stellte der Colonel grinsend fest.

Halls nickte. »Man hatte dem Gefangenen erlaubt zu telefonieren. Unmittelbar danach hat einer unserer Helfer die Fingerabdrücke vom Apparat genommen.«

»Und was sagen uns nun Rin Muras Fingerabdrücke?« Der Colonel vermied es die Fotografie anzusehen, die der Beamer weiterhin an die Leinwand projizierte.

»Über Rin Mura sagen sie nichts«, warf der Commander ein.

»Jetzt erzählen sie nicht, dass Sie keine Referenz haben und ich Ihnen schon wieder aus unserer Datenbank behilflich sein muss.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber nicht notwendig«, sagte der Commander und sah dabei Tillman Halls an. »Wir haben uns erneut bei Ihrer Datenbank bedient, aber das hat uns nicht viel eingebracht.«

»Ach nein?« Der Colonel zuckte mit den Schultern und sah jetzt doch zu der an die Wand projizierten Fotografie.

Tillman Halls rückte mit seinem Stuhl etwas vom Tisch ab und übernahm wieder. »Es war ein kleines Verwirrspiel, nachdem die Fingerabdrücke nicht übereinstimmten. Wir mussten noch einmal recherchieren, haben Fotografien verglichen, das Übliche.« Er machte eine Pause. »Kennen Sie jemanden, der Louk Bourey heißt?«

»Louk Bourey?« Der Colonel schüttelte den Kopf. »Nie gehört.«

Tillman Halls deutete auf die Leinwand. »Wir haben nicht Rin Mura auf dem Vedderland Airport von Göteborg festgenommen. Dieser Mann hier heißt Louk Bourey. Er ist schwedischer Staatsbürger, zurzeit wohnhaft in Berlin, Germany.«

»Und das hat er zugegeben?«, fragte der Colonel. »Ich könnte nämlich nicht sagen, ob das nicht doch Rin Mura ist.«

»Wie gesagt, müssen wir uns mit einer Vernehmung dieses Herrn noch gedulden.«

»Und wo liegen die Zusammenhänge, warum reist dieser Mann mit den Papieren von Rin Mura?«

»Wir nehmen an, dass sie die Rollen getauscht haben«, antwortete Halls.

»Na das ist mir auch klar. Ich meinte, warum veranstaltet Rin Mura diesen Zirkus?«

»Vielleicht ist Louk Bourey Rin Muras Mörder, ein Attentäter. Rin Mura wäre dann der Siebte auf der Liste. Der siebte ehemalige Rote Khmer, der in diesem Jahr ermordet wurde.«

»Haben Sie Anhaltspunkte dafür, dass Rin Mura tot ist?«, fragte der Colonel. »Sie sagen, dieser Louk Bourey hätte vom Gefängnis aus telefoniert. Wen hat er angerufen?«

»Das wissen wir leider noch nicht. Wie gesagt, ist es momentan etwas schwierig. Schweden ist ein sehr demokratisches Land, wo auch ein Beschuldigter seine Rechte hat.«

Der Colonel nickte. »Unabhängig davon werden Sie doch mittlerweile etwas über diesen Mann wissen, gibt es einen Zusammenhang zwischen ihm und Rin Mura?«

»Wir wissen bereits eine ganze Menge«, erklärte Tillman Halls. Er tippte auf der Tastatur des iBooks. Die Fotografie verschwand von der Leinwand und ein Dokument öffnete sich. »Wir haben ein Dossier. Louk Bourey ist wie gesagt schwedischer Staatsbürger mit vietnamesischer Abstammung. Geboren am 9. November 1940 in V?ng Tàu, ehemals Cap Saint-Jacques, im Südosten Vietnams. Er ist unverheiratet, keine Kinder, keine Angaben über noch lebende Verwandte. Er hatte eine Lebensgefährtin, die aber vor fünf Jahren an Krebs gestorben ist. Er ist selbstständiger Kaufmann, Exportgeschäfte über Asien und Nordafrika. Er handelt mit Gewürzen. Und er ist Mitglied in einem Berliner Alpenverein und dort in der Gruppe der Snowboarder.«

»Snowboard?«, fragte der Colonel.

»Es ist eine Wintersportart ähnlich dem Skifahren«, erklärte Halls.

»Ich weiß, was ein Snowboard ist«, entgegnete der Colonel. »Aber was hat das mit der Sache zutun?«

»Wahrscheinlich nichts, nur eine Information«, sagte Halls kleinlaut und fuhr mit seinem Bericht fort. »Obwohl Bourey derzeit keine Wohnadresse in Schweden besitzt, ist er in den letzten drei Monaten mehrfach in Göteborg und Stockholm gewesen. Er ist überhaupt sehr viel gereist. Interessant ist, dass er vor vier Wochen zuletzt in London war.«

»Und er wollte dort wieder hin, diesmal mit den Papieren von Rin Mura, wenn ich Sie richtig verstanden habe.«

»So sieht es aus, Sir. Er war vor vier Wochen in London und ist von dort nach München geflogen. Drei Tage später ist er dann über den Flughafen Basel-Mulhouse-Freiburg nach Berlin zurückgekehrt.«

»Und dort lebt er auch, ich meine in Berlin?«

Halls nickte. »Seit vier Jahren hat er nur noch eine Adresse in Berlin, im Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Wir haben die genaue Anschrift.«

»Sie haben recht, das klingt alles sehr merkwürdig«, stellte der Colonel fest. »Was ist mit Rin Muras Haus in Olofstorp.«

»Eines unserer Teams war vor ein paar Stunden dort«, erklärte Halls. »Das Haus wurde anscheinend geräumt. Es waren keine persönlichen Sachen mehr zu finden und erst recht keine Dokumente oder irgendetwas anderes, dass einen Hinweis auf Rin Muras Verbleib gibt.«

»Haben Sie ihre Spurensicherung hingeschickt?«

Halls schüttelte den Kopf. »Wir haben nicht die Ressourcen vor Ort, außerdem gab es einen Zwischenfall. Es ist jemand von dort geflüchtet, als unsere Leute eingetroffen sind.«

»Rin Mura?«, fragte der Colonel sofort.

»Das wissen wir nicht. Unsere Leute haben einen schwarzen Volvo 940 verfolgt, der anscheinend Richtung Stockholm unterwegs war. Leider haben wir ihn verloren.«

»Volvo 940, schwarz?«, wiederholte der Colonel. »Woher wissen Sie das so genau, wenn Sie ihn verloren haben?«

»Unser Mann war an dem Wagen dran«, erklärte Halls. »Außerdem wissen wir, dass Rin Mura drei schwarze Volvo 940 gemietet hat.«

Tillman Halls öffnete eine Datei auf dem iBook. »Hier sind die Kennzeichen.«

Der Colonel nickte und starrte eine ganze Zeit lang auf die Daten, die der Beamer an die Leinwand projizierte. »Warum wird nicht nach den Kennzeichen gefahndet?«

»Wie gesagt haben wir dafür momentan zu wenig Leute in der Gegend«, erklärte Halls. »Und die schwedische Polizei können wir nicht schon wieder einschalten.«

Der Colonel wandte sich an den Commander. »Stockholm, Berlin, Sie gehen der Sache doch wohl nach.«

»Wir haben die Flugverbindungen von Stockholm nach Berlin selbstverständlich schon gecheckt«, erklärte der Commander, »aber dort sind weder Rin Mura noch eine Person aufgetaucht, die sich für Louk Bourey ausgibt. Wir werden die Flughäfen aber weiterhin im Auge behalten.«

»Aber Sie meinen, Rin Mura reist jetzt unter dem Namen Bourey?«

»Wir haben noch keine vollständige Meinung«, antwortete der Commander. »Es gibt mehrere Optionen. Rin Mura ist tatsächlich tot, ermordet, oder er hat Louk Boureys Identität angenommen.« Der Commander machte eine Pause. »Dann haben wir uns natürlich überlegt, wie Rin Mura sonst noch nach Berlin gelangen könnte?«

Der Commander blickte zu Halls, der sofort auf dem iBook tippte. Das Dokument auf der Leinwand wurde durch eine Karte ersetzt.

»Die Möglichkeit per Flugzeug von Stockholm nach Berlin zu fliegen hatten wir schon. Er könnte es aber auch über Göteborg versuchen, weil er denkt, dass wir ihn dort ja nicht mehr suchen.« Halls ließ den Mauszeiger über der Karte kreisen. »Richtung Süden kämen dann noch die Flughäfen Malmö und der Københavns Lufthavn infrage. Wir haben auch das gecheckt, von allen Airports gehen täglich mehrere Flüge nach Berlin.«

»Ich bin davon überzeugt, dass er fliegt«, warf der Colonel ein. »Ich tippe auf Stockholm, aber er könnte auch woanders hingefahren sein, zu einem anderen Flughafen.« Der Colonel überlegte. »Linköping oder Borlänge oder Vimmerby.«

»Sie kennen sich gut aus«, stellte der Commander fest.

Der Colonel zuckte mit den Schultern. »Wir haben Rin Mura seinerzeit in Schweden platziert.«

Der Commander nickte. »Es gibt aber noch Alternativen zum Flugzeug.« Er sah Halls an, der sich erhob und an die Leinwand trat.

»Sehen Sie diese gestrichelten Linien«, erklärte Halls, »hier wo das Wasser ist, hier bei Trelleborg. Das sind Fährverbindungen, die nach Lübeck, Rostock und nach Sassnitz gehen.«

Der Colonel schüttelte den Kopf. »Das ist zu umständlich und dauert wahrscheinlich auch zu lange.«

Halls überlegte. »Sie könnten recht haben, Lübeck wäre in der Tat ein zu großer Umweg, aber Rostock und Sassnitz, von dort könnte man mit dem Auto weiter nach Berlin fahren.« Halls ging zum Tisch zurück und tippte auf dem iBook. »Sassnitz wird allerdings an diesem Wochenende nicht von den Schwedenfähren angelaufen. Es gab dort vor ein paar Tagen eine Havarie im Hafen.«

»Bleibt noch Rostock, meinen Sie.« Der Colonel dachte erst darüber nach, schüttelte dann aber den Kopf. »Mura würde einen ganzen Tag verlieren, wenn er die Fähre nimmt. Das kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich darauf einlässt. Für ihn zählt jetzt Geschwindigkeit. Er ist bestimmt schon in Berlin.«

»Wenn er noch lebt«, warf der Commander ein.

»Gehen Sie doch einfach davon aus, dass er noch lebt.« Der Colonel erhob sich von seinem Stuhl. »Ich kann ihnen nur den Rat geben, Rin Mura in Berlin zu suchen. Haben Sie ein Team in der deutschen Hauptstadt?«

Der Commander nickte.

»Werden Sie mich über Ihre weiteren Schritte informieren?«, fragte der Colonel.

»Selbstverständlich, Sir. Sie erfahren es sofort, wenn wir Neuigkeiten haben.«

Der Colonel nickte. »Danke! Es ist mir etwas lästig, hier immer erscheinen zu müssen.«

»Kein Problem, Sie bekommen verschlüsselte Short Messages.« Der Commander wandte sich an Halls. »Organisieren Sie das mit dem Sicherheitscode.«

*

Der rote Dodge Durango parkte vor der heruntergekommenen Bootshalle am Wallgraben. Sie stiegen aus dem Wagen. Der brackige Geruch der nahen Spree schlug ihnen entgegen. Martin Grenholm hatte Alex und Will zu dem Treffen begleitet. Alex kannte den Weg, der zu einem Seiteneingang der Halle führte. Die anderen folgten ihm. Will trug das Geld in einem Umschlag bei sich. Alex blieb vor der verschlossenen Tür stehen und klopfte. Ihnen wurde aufgemacht. Ein riesiger Kerl in Lederkluft öffnete, trat zur Seite und ließ sie mit einem Kopfnicken eintreten. Grenholm ging jetzt voran. Das Innere der Halle war nur schwach beleuchtet. An einem Tisch saßen drei Männer von gleicher Statur wie der Torwächter. Sie blickten kurz auf.

»Willkommen!«, rief jemand aus dem Hintergrund.

Grenholm wandte sich zur Seite. Zwei Männer kamen aus einem Büro, das sich in einer Ecke der Halle befand.

»Der Rechte ist Earl und der andere heißt Buzzcut«, flüsterte Alex Grenholm zu.

Earl und Buzzcut blieben zwei Meter vor Grenholm stehen. Earl verschränkte die Arme vor der Brust und grinste.

»Willkommen!«, wiederholte er. »Braucht Ihr uns jetzt doch? Hab’ ich ja gleich gesagt, wenn jemand in der Hauptstadt einen Job zu erledigen hat, muss er sich an Earl und Buzzcut halten. Hab’ ich das nicht gesagt, Buzz?«

»Doch das hast du.« Buzzcut reckte den Kopf vor und ließ seine Halswirbel knacken.

»Buzzcut, woher kenne ich den Namen?«, fragte Grenholm nachdenklich.

»Ist ’n Künstlername«, erwiderte Buzzcut mit einem kichernden Lachen.

»Stimmt, Buzzcut und Earl, Earl und Buzzcut«, Grenholm nickte anerkennend. »Beavis und Butt-Head, die Comic-Serie.«

»Genau Mann, passt zu uns«, johlte Earl. »Buzz war nämlich auch mal beim Militär, nur zu den Lederjacken hat er es nicht geschafft, nicht wahr Buzz?«

»Genau, hab’ mal ’nen Ranger vermöbelt, hab’ mehr drauf als diese Typen.«

»Tja, und ich bin hier der erste Boss, der Earl, mit mir müsst Ihr verhandeln.«

Grenholm blickte kurz zu Will. »Es geht in Ordnung, wir zahlen den vereinbarten Preis.« Will gab ihm den Umschlag.

»Moment, was heißt vereinbart?« Earl kratzte sich am Hinterkopf.

Grenholm wedelte mit dem Umschlag. »Die Hälfte jetzt, die andere Hälfte heute Abend, so lautet doch immer die Vereinbarung.«

»Wir haben nix vereinbart.« Earl grinste.

Grenholm warf ihm den Umschlag zu. Earl fing ihn auf und begann das Geld zu zählen. Er schien zufrieden zu sein und gab den Umschlag an Buzzcut weiter.

»Die andere Hälfte gibt es also heute Abend?«, Earl grinste wieder. »Habt Ihr die schon dabei?«

»Heute Abend!«, antwortete Grenholm ruhig.

»Buzz, wie wäre es, wenn du mit den Jungs mal nachschaust, wo der Rest des Zasters ist?«

»Oh ja, man kann ja nie vorsichtig genug sein«, grölte Buzzcut. »Nachher bescheißen uns die Typen noch.«

Er ging einen Schritt auf Grenholm zu. Sofort war Alex zur Stelle. Es ging blitzschnell. Er drehte Buzzcut den Arm auf den Rücken, zwang ihn so in die Knie und drehte ihm das Handgelenk um. Buzzcut schrie. Einer der Männer am Tisch ließ seine Karten fallen und erhob sich. Will war mit einem Sprung bei ihm, rammte ihm die Faust in den Magen. Der Mann sackte in sich zusammen. Will trat ihm von hinten in die Beine und der Angreifer fiel auf den Rücken. Ein zweiter Mann am Tisch wollte eingreifen, hielt aber in der Bewegung inne. Er sah zu Grenholm, der seine Pistole gezogen hatte und die Mündung auf Buzzcuts Kopf drückte.

»Klick!«, sagte Grenholm schnalzend. »Bleiben noch zwölf Kugeln. Wer will der Nächste sein?«

Earl begann zu lachen. »Toll, da haben wir ja mal ein paar richtige Profis. Also, wer gibt uns heute Abend die Moneten?«

»Sie werden es bekommen, wenn Sie uns den Wagen übergeben«, antwortete Grenholm. »Können Sie das Fahrzeug besorgen? Ach ja, und wir brauchen auch die passende Kleidung dazu.«

Grenholm sicherte seine Pistole und steckte sie zurück ins Holster. Alex lockerte den Griff und ließ Buzzcut dann ganz los, der sofort einen Schritt zurückwich und sich das Handgelenk rieb.

Earl nickte. »Geht klar, die Klamotten sind inklusive. Wir werden mit fünfzehn Mann auftauchen, sind auch ein paar Hertha-Fans dabei.« Er legte wieder sein Grinsen auf. »Reicht Ihnen das?«

»Perfekt!«, stimmte Grenholm zu.

»Dann sehen wir uns heute Abend?«, fragte Earl.

Grenholm schüttelte langsam den Kopf. »Meine Leute werden sich zu erkennen geben.«

*

Der blaue Linien-Bus bremste hinter dem Lincoln Navigator und hupte. John Boold starrte auf sein Mobile, das in der Mittelkonsole steckte. Der Lincoln rollte nur noch über die Budapester Straße. Der Bus hupte ein zweites Mal. Boold lenkte seinen Wagen auf den Fußweg und hielt zwischen zwei Begrenzungspfählen. Der Bus scherte aus und überholte ihn endlich. Auf dem Breitscheidplatz standen zwei Polizisten vor der Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und sahen zu dem Lincoln hinüber. John Boold nahm das Mobile und drückte die Tastenkombination, um die eingegangene SMS abzurufen. Die Polizisten setzten sich in Bewegung. Ein weiteres Fahrzeug fühlte sich durch den Lincoln behindert und hupte ebenfalls. Boold überflog den Text der SMS. Es war eine Adresse und der Hinweis auf ein Dossier. Boold ließ sich das Dossier senden und steckte sein Mobile zurück in die Aufnahmeschale. Einer der Polizisten klopfte an die Scheibe der Beifahrertür. Boold tat so, als wenn er es nicht bemerkt hätte, und reihte sich wieder in den Verkehr ein. Er fuhr weiter, bog nach rechts in die Nürnberger Straße, dann wieder rechts in die Tauentzienstraße, um den Breitscheidplatz in entgegengesetzter Richtung zu passieren. Als er den Kurfürstendamm erreichte, hatte er die Adresse aus der SMS bereits in das Navigationsgerät seines Wagens eingetippt. Die Strecke wurde mit knapp zehn Kilometern angezeigt.

Er brauchte zwanzig Minuten bis nach Zehlendorf. Er fuhr das letzte Stück direkt durch den Grunewald. Das Navi lenkte ihn schließlich in eine Seitenstraße. Die Nummer 29 war ein frei stehendes Mehrfamilienhaus. Boold parkte hinter einem roten Dodge Durango auf einem schmalen Streifen zwischen Gehweg und Fahrbahn. Bevor er ausstieg, öffnete er das Handschuhfach. Ein DIN-A5-breiter Papierstreifen kräuselte sich hinter der Klappe. Boold riss das Thermopapier aus dem Drucker und schloss das Handschuhfach wieder. Das Dossier war knappgehalten. Es gab zwei Namen, Rin Mura und Louk Bourey, zwei Männer, beide südostasiatischen Ursprungs. Rin Mura war der Gesuchte. Louk Bourey der Wohnungsinhaber. Boold verschloss den Navigator mit der Fernbedienung der Zentralverriegelung.

Der Vorgarten des Mehrfamilienhauses war gepflegt, es roch nach frisch gemähtem Gras. Der Zuweg war von einer Buchsbaumhecke gesäumt, die unmittelbar vor der Eingangstür endete. Boold besah sich das Klingelschild. Es war ein Vierparteienhaus. Louk Boureys Name stand ganz oben auf dem Schild, seine Wohnung musste sich im zweiten Stock befinden. Boold prüfte die Haustür, die nicht verschlossen war. Er betrat einen kleinen Flur, an den sich direkt eine kurze Treppe hinauf in die Parterrewohnung anschloss. Das Treppenhaus führte weiter in den ersten Stock. Hier gab es zwei Wohnungen. Aus einer waren die Geräusche eines Staubsaugers zu hören. Boold blieb nur kurz stehen. Er ging weiter hinauf. Boureys Wohnung nahm den gesamten zweiten Stock ein und lag schon unter dem Dach des Hauses. Auf dem Türschild gab es zwei Einträge. Neben dem Namen des Wohnungsinhabers auch der Hinweis auf eine Handelsgesellschaft, der LouBouSpice OHG.

Boold sah noch einmal auf das Dossier. Laut der Informationen war Louk Bourey alleinstehend. Boold horchte nach Geräuschen. Unter ihm war das leise Summen des Staubsaugers noch immer zu hören. In Boureys Wohnung schien es dagegen ruhig zu sein. Das Türschloss war nicht sehr aufwendig. Boold entriegelte es in zehn Sekunden. Er sah noch einmal nach unten ins Treppenhaus, bevor er die Wohnungstür hinter sich schloss. Er stand in einem dunklen Flur, es roch nach Zitrone. Gleich hinter der ersten Tür fand er die Küche, modern eingerichtet, großer Kühlschrank, Einbauherd, Mikrowelle, eine Essecke mit zwei Stühlen, das Geschirr in offenen Hängeschränken. Alles war aufgeräumt, sah unbenutzt aus. Boold brauchte hier nicht weiter zu suchen.

Er ging über den Flur in die anderen Räume. Das Bad war genauso steril wie die Küche. Eine noch verpackte Zahnbürste, Zahnpasta und Rasierschaum im Toilettenschrank. Auch hier nahm Boold wieder den Zitronengeruch mit einem Hauch von Desinfektionsmitteln wahr. Den Grund für die Ordnung und Sauberkeit in der Wohnung fand er in einem kleinen Abstellraum am Ende des Flures. Kittel, Schürze, Eimer, Seifen, Entkalker, Raumspray, Bügelbrett, Bügeleisen. Die Arbeitsutensilien einer Putzfrau. Es gab sogar einen beutellosen Zyklonstaubsauger.

Als Nächstes betrat Boold Louk Boureys Schlafzimmer, das auf einer Seite in die Dachschräge eingelassen war. Boold achtete nicht mehr auf die Ordnung. Er ging sofort zum Kleiderschrank und öffnete ihn. Eine Stange mit schwarzen und grauen Anzügen. Im Wäschefach lagen weiße Hemden, Markenunterwäsche und ein kleiner Korb mit aufgerollten schwarzen Socken. Es roch nach Naphthalin und immer noch nach Zitrone. Boolds Hände wanderten zwischen die Wäsche und in die Hosen- und Jacketttaschen der Anzüge. Er fand einen Supermarktbon über drei Mark achtundsechzig und ein zusammengeknülltes Stück Schokoladenpapier. Die Putzfrau musste nachlässig gewesen sein, denn die Anzüge waren alle gebügelt.

Boold nahm sich nun die Schubladen des Nachtschrankes vor. Er fand einen Satz Baumwolltaschentücher und eine angebrochene Packung Aspirin, sonst nichts. Bourey hatte ein französisches Bett, das mit einer Tagesdecke überzogen war. Boold zögerte, glitt dann aber doch mit den Händen unter die Decken und das Kopfkissen. Zum Schluss hob er noch die Matratze an. Der Lattenrost hatte eine motorisierte Höhenverstellung. Die Fernbedienung klemmte zwischen der Matratze und dem hölzernen Bettgestell und fiel auf den Laminatboden, als Boold sich an dem Bett zu schaffen machte. Er hob sie auf und warf sie auf die Bettdecke. Er bemühte sich nicht, das Bett wieder in Ordnung zu bringen. Er sah sich um, weitere Möbel gab es nicht.

Er verließ das Schlafzimmer, ging quer über den Flur in den nächsten Raum. Hier war es dunkel, der Rollladen war heruntergelassen. Boold schaltete das Licht ein und fand ein vollständig leeres Zimmer vor. Es gab keine Möbel, aber an der weißen Raufasertapete fanden sich die Schmutzabdrücke von zwei Schreibtischen und mehreren Regalen. In die Wände oberhalb des Laminatfußbodens waren einige Dreier- und Zweier-Steckdosen eingelassen. Es gab auch zwei Telefondosen mit zusätzlichen Steckeinschüben für Ethernet-Datenkabel. Boold machte ein paar Schritte in den Raum. Es musste ein ausgeräumtes Büro sein. Es war schwer einzuschätzen, wie lange es schon leer stand. Neben der Möblierung fehlte aber noch etwas und das war der Geruch von Zitrone. Boold entdeckte dann auch einige Wollmäuse auf dem von zwei Bürostühlen zerkratzten Laminat. Er machte drei Schritte zurück, trat auf den Flur und schloss die Zimmertür wieder.

Seine Erkundung führte ihn in den letzten Raum. Es war das Wohnzimmer. Schrankwand, ein Sessel, je ein Zweier- und ein Dreiersofa, die um einen flachen Glastisch angeordnet waren. Mehrere verschiedene van-Goghsche Sonnenblumenbilder hingen verteilt an den drei geraden Wänden. Es waren glänzende Drucke, hinter Glasscheiben gerahmt. Die vierte Wand des Wohnzimmers schloss wieder in der Dachschräge ab. Es gab ein etwa zwei Meter breites, bodentiefes Fenster und daneben eine Glastür, die hinaus auf einen Balkon führte.

Boold blieb vor dem Fenster stehen und sah hinunter in den Garten. Die grünen Nadelbäume verdeckten große Teile des Rasens. In einer Ecke des Gartens stand eine aus Holzbohlen zusammengeschraubte Kinderschaukel. Boold erkannte auch eine Sandkiste neben dem Geräteschuppen, der auf der Grenze zum Nachbargrundstück stand. Sein Blick fiel auf die Straße vor dem Grundstück. Der Durango, der hinter seinem Lincoln geparkt hatte, war verschwunden. Boold wandte sich ab und sah sich weiter im Wohnzimmer um. Er nahm jetzt wieder den vertrauten Zitrusgeruch wahr. Er setzte sich auf das Zweiersofa. Auf dem Glastisch lagen mehrere Werbeprospekte und eine Fernsehzeitschrift, die erst vor wenigen Tagen abgelaufen war. Boold blickte vor sich auf die Schrankwand. Er stand auf und schob das seitlich angebrachte Holzrollo zur Seite. In der Öffnung stand ein riesiger Fernseher, dessen Röhre tief nach hinten in den Schrank ragte und dort den gesamten Platz einnahm. Die Fernbedienung lag oben auf dem Gerät. Boold ließ sie liegen und kehrte zum Zweiersofa zurück.

Er widmete sich zuerst den Prospekten. Obenauf lag die Werbung eines Supermarktes. Einige der Sonderangebote waren mit einem blauen Kugelschreiber unterstrichen. Boold versuchte eine Botschaft daraus zu erkennen, aber es schien kein System dahinter zu stehen. Als Nächstes bot die Zehlendorfer Filiale einer Kette von Billig-Autoreparatur-Werkstätten eine kostenlose Urlaubsinspektion an. Boold legte das Hochglanzblatt auf den Supermarktprospekt. Als Letztes fand er eine weitere Werbebroschüre, diesmal von einem Sportfachgeschäft. Er wollte den kleinen Katalog ebenfalls schon weglegen, als er im Innenteil etwas entdeckte. Eine Art Bigfoot- oder Yeti-Figur präsentierte Wander- und Bergsteigerausrüstung. Das Gesicht der gezeichneten Figur war mit dem Kugelschreiber umkringelt. Boold starrte ein, zwei Sekunden auf das Bild. Auch hier konnte er die Bedeutung nicht einordnen. Er faltete den Prospekt mit dem Yeti und steckte ihn ein. Dann nahm er sich die Fernsehzeitschrift vor und blätterte durch die Seiten. Ein Umschlag rutschte heraus. Boold konnte gerade noch lesen: An die Bewohner des ..., als es an der Wohnungstür klingelte. Er zögerte eine Sekunde, dann erhob er sich, verließ den Raum und ging über den Flur zur Tür. Er wartete noch eine Sekunde, aber es wurde kein zweites Mal geklingelt. Boold öffnete langsam die Wohnungstür. Eine junge Frau stand vor ihm, die kurz überrascht zu sein schien, sich dann aber fing.

»Oh, ich wusste doch, dass ich vorhin schon etwas gehört habe und ich dachte ...«

»Entschuldigen Sie«, kam Boold der Frau zuvor, hielt seinen Schlüsselbund in die Höhe und ließ ihn klimpern. »Ich bin ein Bekannter von Herrn Bourey.«

»Ach so!« Die Frau lächelte. »Dann kann ich Ihnen ja auch die Post geben.« Sie reichte ihm ein paar Umschläge. »Das Schloss seines Postkastens ist nämlich defekt, es landet immer alles im Windfang.«

Boold nickte. »Selbstverständlich!« Er nahm ihr die Briefe ab, ohne sie anzusehen.

Die junge Frau lächelte erneut. »Dann noch einen schönen Tag.«

»Ihnen auch und danke.« Boold hielt die Briefumschläge kurz in die Höhe und wartete noch, bis die junge Frau ein paar Schritte die Treppe hinuntergegangen war, dann schloss er die Wohnungstür wieder. Er ging zurück ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Zweiersofa und besah sich die Post. Drei der Briefe waren sofort als Werbesendungen zu erkennen. Boold öffnete sie dennoch und prüfte den Inhalt. Der vierte Umschlag war handbeschrieben. Louk Boureys Zehlendorfer Adresse, die Briefmarke zeigte ein Sportmotiv mit Zuschlagswert zugunsten der Stiftung Deutsche Sporthilfe. Boold betrachtete die Marke eine Zeit lang, bis er den Umschlag aufriss. Er zog zwei Eintrittskarten hervor. Nach diesem Fund hatte er es sehr eilig fortzukommen.

*

»Boold, John Boold«, zitierte Bruckner. »Das ist aber nicht Ihr Tarnname. Das sind nicht Sie, von dem Sie da in Berlin berichten.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, John Boold gehörte zu einem Team, das wir in Berlin stationiert hatten. Ich war aber einer derjenigen, die seinen Einsatz koordiniert hatten. Die Dossiers, um die es ging, hat er von mir bekommen und die ganzen Recherchen, die während einer solchen Operation ständig durchgeführt werden müssen, stammten ebenfalls von mir.«

»Und Sie haben ihm die Befehle erteilt?«, fragte Bruckner.

»Nein! Ich habe die Befehle vielleicht übermittelt, aber ich war nicht der Leiter des Einsatzes.«

»Der Commander?«, stellte Bruckner fest.

Ich nickte. »Mehr will ich aber noch nicht verraten. Sie wollen doch auch ein bisschen unterhalten werden.«

»Ja, schmücken Sie es ruhig ordentlich aus, das gefällt mir.« Bruckner nickte.

»Gut, dann geht es in die nächste Runde.«

*

Die Fähre passierte die schmale Einfahrt zwischen den Molen. Rin Mura und Hanna standen oben auf Deck und sahen über den nahen Warnemünder Strand, auf dem sich die Urlauber tummelten. Kinder und Erwachsene spielten im flachen Wasser, einzelne Schwimmer hatten sich weiter hinausgewagt. Die Sonne schien aus dem wolkenlosen Himmel. Rin Mura öffnete seinen obersten Hemdknopf. Den Mantel hatte er über den Arm gelegt. Gunnar erschien und stellte sich einige Meter entfernt an die Reling. Er gab Hanna ein Zeichen. Sie griff Rin Mura unter den Arm und gemeinsam schlenderten sie noch ein Stück die Reling entlang, nahmen die Treppe zum Deck darunter und strebten der zweiflügligen Tür zu, die ins große Restaurant führte.

Gunnar blieb oben. Das Schiff glitt an den Kreuzfahrtterminals vorbei. Er ging schließlich zur Backbordseite. Hier war die weite Wasserfläche des Breitling mit dem Pagenwerder zu sehen. Auf der flachen, grasbewachsenen Insel hatten sich Scharen von Wasservögeln versammelt. Gunnar verließ das Deck, als sich das Schiff dem Fähranleger näherte. Er ging über einen Treppenschacht direkt nach unten zum Parkdeck. In den Reihen der warteten Fahrzeuge strebte er direkt dem schwarzen Volvo zu und stieg auf der Beifahrerseite neben Erik ein. Rin Mura und Hanna saßen bereits hinten auf der Rückbank.

Zehn Minuten später hatten sie die Fähre verlassen, folgten dem Autobahnzubringer, der aus dem Hafengebiet herausführte. Auf der A19 verteilte sich der Verkehr. Sie verließen die Autobahn an der zweiten Abfahrt und fuhren Richtung Stadtmitte. Kurz bevor die Straße über die Unterwarnow führte, bogen sie in ein Wohngebiet ein. Reihenhäuser und Mietskasernen wechselten sich ab. In einer Geschäftsstraße gab es eine Ladenzeile. Erik hielt den Wagen vor einer Telecom-Filiale. Hanna sprang heraus und betrat das Geschäft. Der Volvo fuhr sofort weiter. Erik machte einen großen Bogen um das Wohngebiet, erreichte fast wieder die Stadtgrenze, bog dann abermals ab und kehrte nach gut zwanzig Minuten in die Ladenstraße zurück. Hanna wartete bereits. Sie hatte ein Päckchen und zwei Papiertüten in der Hand. Sie öffnete die Fondtür, stieg in den Wagen. Erik reihte sich sofort in den Verkehr ein und gab Gas.

Hanna saß wieder neben Rin Mura. Sie begann das Päckchen aufzureißen. »Der Akku soll aufgeladen sein«, erklärte sie. »Aber ich habe zur Sicherheit noch ein Kabel für den Zigarettenanzünder gekauft.«

Sie holte das blaue Mobiltelefon aus dem Karton und reichte es Rin Mura. Während er es schon in der Hand hielt, zeigte sie ihm, wie er das Gerät anschalten musste. Das Display begann zu flackern, ein Piepton erklang.

»Was ist mit der SIM-Karte?«, fragte Rin Mura.

»Ist schon drin«, erklärte Hanna. »Auf meinen Namen registriert. Der Pin lautet 1-7-2-8.«

Sie drückte die Zahlen auf dem Telefon. Das Gerät brauchte einige Sekunden, dann war es betriebsbereit. Sie drückte noch auf die Menütaste und blätterte.

»Hier steht ihre neue Telefonnummer. Wenn Sie jemanden anrufen, wird die Nummer mit übertragen. Das kann man aber auch abschalten.«

Rin Mura schüttelte den Kopf. »Nein, das muss bleiben.«

»Was hast du in den Tüten?«, fragte Erik, ohne sich nach hinten umzudrehen.

»Ich war noch beim Bäcker«, erklärte Hanna und reichte eine der Papiertüten nach vorne. Gunnar legte sie aufs Armaturenbrett und studierte weiter in der Autokarte, die er auf seinen Oberschenkeln ausgebreitet hatte.

»Wo müssen wir hin?«, fragte Erik, der auf die Brötchentüte schielte.

»Die SMS von eben«, erklärte Gunnar. »Wir sollen das Fahrzeug wechseln.«

»Dann steht das andere Team bereit?«, fragte Erik.

Gunnar nickte.

»Und, werden wir ihn übergeben?« Erik hatte die Stimme etwas gesenkt.

»Ich weiß es nicht, diese Info hat das andere Team.« Gunnar deutete auf die Straßenkarte. »Ich sag dir, wie du fahren musst, sind etwa fünf Kilometer.« Jetzt zeigte er zur nächsten Kreuzung. »Dort solltest du wenden und wieder zur Hauptstraße zurück.« Gunnar wandte sich nach hinten. »Wir haben eine Order, Herr Mura?«

Rin Mura schaute kurz zu Gunnar auf und nickte. Dann wählte er auf seinem neuen Telefon eine Nummer, ließ es zweimal klingeln und legte wieder auf. Erik hatte die Kreuzung bei Grün erreicht und machte ein Überkopfwende.

*

»Was machen sie?«, fragte Nhean.

Sie hatten kurz hinter einem Schuttcontainer gehalten. Arun musste sich aus dem Seitenfenster lehnen, um den schwarzen Volvo zu sehen. »Die Frau ist wieder eingestiegen, Sie hat irgendetwas bei sich. Jetzt fahren sie wieder los.«

Nhean gab Gas. Dann beobachteten sie, wie der Volvo an der nächsten Kreuzung wendete und ihnen plötzlich entgegenkam. Arun duckte sich instinktiv. Nhean wartete, bis der schwarze Wagen einen größeren Abstand hatte. Dann wendete er noch vor der Kreuzung mitten auf der Straße.

Sie überquerten den Fluss, fuhren durch die Rostocker Innenstadt. Hinter den Wallanlagen bogen sie auf den Südring ab. Nhean ließ immer einige Fahrzeuge zwischen ihnen und dem Volvo. Arun holte den Schlangenkopfhammer hervor, klappte das Schlangenmaul auf und betrachtete die Injektionsnadeln. Nhean blickte kurz zu ihm.

»Du kannst doch jetzt nicht zuschlagen. Wir sollten warten, bis sie im Hotel sind.«

»Woher willst du wissen, dass sie hier übernachten?«, fragte Arun. Er ließ das Schlangenmaul zuschnappen.

»Das weiß ich natürlich nicht. Im Hotel oder wenn sie eine Pause machen. Wir müssen ihn alleine erwischen.«

»Die Leibwächter interessieren mich nicht«, sagte Arun. »Wir holen ihn uns einfach und fahren dann mit ihm fort. Wir müssen seinen Leibwächtern nur entkommen, dann haben wir alle Zeit der Welt.«

Nhean sah wieder zu Arun. »Sie sind zu dritt, wusstest du, dass es drei sind, hat er dir das erzählt, hat er dich gewarnt?«

»Ja, nein, er hat gesagt, dass der Angka mit der Trelleborgfähre kommt und er hat mir drei Auto-Kennzeichen genannt und das es eine schwarze Limousine, ein Volvo, sein wird. Und es hat alles gestimmt, eines der Kennzeichen hat gestimmt und es ist ein schwarzer Volvo.« Arun machte eine Pause. »Und ich habe den Angka sofort erkannt, er ist es, nach so vielen Jahren.«

»Was hat er dir noch gesagt?«, fragte Nhean. »Du hast doch länger mit ihm gesprochen. Ich habe doch gesehen, dass etwas nicht stimmt.«

Arun nickte bedächtig. »Der Angka will nach Berlin und wir sollen den Wagen nur verfolgen, an ihm dranbleiben, ohne aufzufallen. Wir sollen noch warten.« Arun sah Nhean jetzt direkt an. »Er will bestimmen, wann wir uns den Angka holen dürfen.«

»Und du vertraust ihm?«

»Ich weiß nicht.« Arun schüttelte den Kopf. »Es ist merkwürdig. So war es noch nie, bei den anderen haben wir immer sofort zugeschlagen, nachdem er mit uns Kontakt aufgenommen hatte.«

»Aber du willst dich nicht an seinen Befehl halten?«, fragte Nhean.

»Befehl?«, sagte Arun spöttisch. »Ich nehme von niemandem Befehle an, und am Ende entscheiden wir selbst, was wir zu tun oder zu lassen haben.«

Sie schwiegen einige Sekunden.

»Und was ist nun mit den Leibwächtern?«, wiederholte Nhean.

»Die Frau zählt nicht«, sagte Arun schnell.

»Glaubst du, sie gehört zu ihm?«

»Ich weiß nicht und es ist mir auch egal«, entgegnete Arun. Er beugte sich vor, um den Schlangenkopfhammer ins Futteral zurückzustecken.

»Die Frau könnte zu den Männern gehören«, meinte Nhean. »Sie könnte uns Probleme machen. Alle könnten uns Probleme machen.

»Was willst du, wir haben es doch bisher immer geschafft.« Arun holte jetzt eine der beiden Pistolen aus dem Handschuhfach, zog sie aus dem Holster.

»Die anderen hatten keine Leibwächter«, warf Nhean ein.

»Er hatte auch damals Leibwächter und wir werden ihn auch diesmal von seinen Leibwächtern trennen oder wir werden sie alle töten.« Arun klang entschlossen.

Nhean konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Sie folgten dem Volvo weiter Richtung Südstadt. Sie fuhren von der Hauptstraße. Sie hatten plötzlich nur noch einen kleinen Kastenwagen zwischen sich und der Limousine. Nhean ließ sich zurückfallen. Dann blinkte der Van und bog rechts ab. Der Volvo war keine zweihundert Meter vor ihnen. Der Wagen wurde langsamer. Erst jetzt sah Nhean den geschlossenen Bahnübergang. Der Zug war noch nicht durch. Es wäre zu auffällig gewesen, wenn Nhean mit zu großem Abstand gehalten hätte und er konnte weder rechts noch links abbiegen. Er fuhr weiter, blieb hinter der Limousine stehen. Sie waren allein. Arun sah sich um, niemand sonst wartete an dem Bahnübergang. Es dauerte zwei Sekunden, bis er den Entschluss gefasst hatte. Nhean ahnte, was sein Freund vorhatte.

»Gib mir meine Pistole.«

Arun zögerte eine Sekunde, nickte, holte das Holster mit der zweiten Waffe aus dem Handschuhfach und reichte es Nhean.

»Ich nehme mir den Fahrer und den Beifahrer vor.« Nhean zog die Pistole aus dem Holster, prüfte das Magazin und entsicherte die Waffe. »Wenn ich geschossen habe, dann musst du dich sofort um die Frau kümmern. Ich werde aufpassen, dass er uns nicht entwischt. Es muss aber schnell gehen, sehr schnell.«

Nhean hatte den Türhebel schon in der Hand, als der Zug vorbeidonnerte. Es dauerte zwanzig Sekunden. Der Bahnübergang war wieder frei, die Schranken blieben aber unten. Arun sah nach rechts aus der Gegenrichtung näherte sich ein Güterzug.«

»Jetzt!«, rief Nhean.

Er zog den Türhebel durch und wollte die Fahrertür gerade aufdrücken, als sein Blick in den Außenspiegel fiel. Es standen plötzlich zwei Fahrzeuge hinter ihnen. Der vordere stellte gerade den Motor ab. Der Wagen war voll besetzt.

»Was ist?«, fragte Arun, der Nheans Zögern bemerkt hatte.

»Verdammt!«, zischte Nhean.

Arun blickte sich um. Dann sah er wieder nach vorne und versank ein Stück in seinem Sitz. Das Rumpeln des Güterzuges nahm er nicht mehr wahr. Es dauerte fast fünf Minuten, bis sich die Schranken endlich öffneten. Der Volvo gab Gas, schoss davon. Nhean überquerte den Bahnübergang sehr langsam. Der Wagen hinter ihm hupte und überholte dann schnittig. Sie konnten den Volvo gerade noch sehen, als auch Nhean wieder schneller fuhr. Sie holten auf und sahen, wie die schwarze Limousine nach rechts in ein Industriegebiet einbog. Sie fuhren an mehreren Autohäusern vorbei, dann blinkte der Volvo erneut und fuhr auf das Gelände einer großen Autowaschstraße.

*

Erik passierte vor einem silbernen Subaru Forester das Hallentor der Waschstraße. Er rollte langsam durch die Sprinkleranlage. Die Flüssigkeit aus den Düsen schäumte, als sie auf Motorhaube und Windschutzscheibe auftraf. Es roch scharf nach Chemie. Der automatische Scheibenwischer setzte sich in Bewegung und schob Schaum und eine Dreckspur über die Windschutzscheibe. Sie erreichten den Waschplatz. Erik ließ die Scheibe der Fahrertür herunter. Ein Mitarbeiter der Waschstraße war sofort zur Stelle. Erik wählte das Programm, bezahlte und schloss dann die Scheibe wieder sorgfältig. Ein weiterer Mitarbeiter kam hinzu. Zu zweit begannen sie die Schweller und Felgen einzuschäumen. Die Männer bewegten sich eilig um das Fahrzeug herum. Eine Bürste glitt über die Seitenscheiben, hinterließ auch hier eine Schaumschicht. Erik bekam das Zeichen, vorzufahren. Er wurde auf eine Schiene dirigiert, lenkte gegen, bis der Mann seine Hand hob. Die Vorderräder wurden von einem Greifer erfasst, das Fahrzeug machte einen Ruck und wurde in die Waschstraße gezogen.

Gunnar richtete sich den Rückspiegel aus. Hinter ihnen wurden gerade die Scheinwerfer des silbernen Subaru Forester eingeschäumt. Dann nahmen die rotierenden Bürsten Gunnar die Sicht. Einige Minuten später tauchte der silberne Subaru wieder im Rückspiegel auf. Beide Fahrzeuge befanden sich schon im Trocknerbereich.

»Jetzt!«, sagte Gunnar.

Erik öffnete die Fahrertür. Er beugte sich vor und erreichte den Notausschalter. Ein Knall hallte durch die Waschstraße. Das Gebläse vor ihnen verstummte. Hinten nahm die Rotation der Bürsten schlagartig ab. Das Geräusch von tropfendem und fließendem Wasser klang durch die Halle. Rin Mura und Hanna waren vorbereitet. Fast gleichzeitig öffneten sich auch die Türen des Subaru. Fahrer und Beifahrer sprangen heraus, liefen nach vorne zur Limousine. Gunnar und Erik standen bereits neben dem Wagen, ließen die beiden Männer einsteigen. Sie selbst nahmen ihre Plätze in dem Subaru ein. Dann waren Rin Mura und Hanna an der Reihe. Sie stiegen beide auf der linken Seite aus und gingen nach hinten. Rin Mura reckte sich und schaute über die Reling des Subaru. Auf der rechten Seite waren ein Mann und eine Frau ausgestiegen und strebten der Limousine zu. Der Mann trug einen Hut und hatte Rin Muras Statur. Hanna zog Rin Mura in den Geländewagen. Er schloss die Tür. Dann kam jemand von hinten durch den Seitengang der Waschstraße und kontrollierte im Gehen die Anlage. Als der Mann auf Höhe des Subarus war, ließ Erik die Seitenscheibe herunter.

»Sorry, meine Schuld. Ich dachte der Außenspiegel reißt ab.« Erik hatte den Blick gesenkt, als er sprach.

Der Angestellte nickte. »Schon in Ordnung.« Er griff an den Außenspiegel, bis das Gelenk einrastete.

»Danke!«, sagte Erik und ließ die Seitenscheibe wieder hochfahren.

Der Angestellte wandte sich ab, kontrollierte noch einmal den Fahrweg und ging dann in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Es dauerte noch ein, zwei Minuten, bis die Waschstraße wieder ansprang. Die Gebläse heulten auf, die Fahrzeuge setzten sich langsam in Bewegung. Kurze Zeit später erreichte der schwarze Volvo das Ende der Waschstraße. Hier schloss sich eine überdachte Halle an. Es gab Boxen mit Staubsaugerstation und Kästen zum Ausschlagen der Fußmatten. An einem Stand konnte man Pflegemittel für die Wageninnenreinigung kaufen. Einige Boxen waren belegt. Die Limousine durchquerte die Halle und hielt neben einer der letzten Boxen. Der silberne Subaru Forester folgte unmittelbar darauf.

Gunnar stieg aus und ging zu dem Verkaufsstand. Er sah sich das Sortiment an, las sich ein Informationsblatt durch. Erik stieg ebenfalls aus. Er zog seine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche, sah dann aber das Verbotsschild.

*

Arun und Nhean standen mit ihrem Wagen auf dem Parkplatz des Mc-Donald’s-Restaurants, das direkt an das Gelände der Waschstraße grenzte. Neben ihnen parkte ein alter Opel Rekord, in dem vier Jugendliche saßen und sich über ihre Fresstüten hermachten. Der Beifahrer sah Nhean an, während er am Strohhalm seiner Cola sog. Dann musste jemand einen Witz gemacht haben. Der Colatrinker lachte heftig verschluckte sich und beugte sich nach vorne. Nhean richtete seinen Blick wieder auf die Ausfahrt der Waschstraße.

»Wie lange?«, fragte Arun, der in seinem Sitz versunken war.

»Achtzehn Minuten.« Nhean stutzte. »Da stimmt irgendetwas nicht.«

Er deutete nach links. In der Einfahrt zur Waschstraße hatte sich eine Autoschlange gebildet. »Der gelbe Porsche steht schon eine Ewigkeit vor dem Einfahrtstor.«

»Und was heißt das?«, fragte Arun.

»Weiß nicht, vielleicht machen die Pause oder es gab eine Störung.« Nhean reckte sich zur Seite. »Jetzt geht es weiter, der Porsche fährt rein und gleich auch der Wagen dahinter.«

Nhean blickte wieder zur Ausfahrt, weil sich dort das Tor öffnete. Ein dunkelblauer Mercedes fuhr ins Tageslicht. Der Lack glänzte und reflektierte die Sonnenstrahlen.

»Das ist aber merkwürdig«, sagte Arun, er richtete sich in seinem Sitz auf, um besser sehen zu können.

»Was ist mit dem Mercedes? Sie fahren einen Volvo 940, keine E-Klasse.«

Arun schüttelte den Kopf. »Ein roter Golf, ein roter Astra, ein gelber Renault, ein dunkelblauer Mercedes, ein silberner Subaru, ein schwarzer Volvo.«

»Was?«, fragte Nhean.

»Das ist die Reihenfolge, das habe ich mir gemerkt«, erklärte Arun. »Hinter dem Volvo kam der silberne Geländewagen und dann erst der dunkelblaue Mercedes.«

Das Tor hatte sich gerade erst geschlossen, als es sich erneut öffnete. Der gelbe Renault fuhr heraus und hielt wenige Meter hinter dem Tor. Der Fahrer stieg aus und ging einmal um seinen Wagen herum. Er prüfte die Außenspiegel, stellte sich vor die Motorhaube und kratze mit dem Zeigefinger an einer Stelle auf dem Lack. Er holte sogar noch ein Taschentuch hervor und polierte das Blech.

»Und da ist der Renault, der hat sie auch überholt«, stellte Arun fest.

»Wie meinst du das, überholt?«

»Sie sind noch in der Waschstraße.« Arun sah angestrengt auf das Gebäude.

Die vier jungen Männer in dem Opel neben ihnen setzten plötzlich zurück und verließen den Mc-Donald’s-Parkplatz. Als Nhean und Arun wieder zur Ausfahrt der Waschstraße blickten, fuhr auch der gelbe Renault weiter, bog auf die Hauptstraße ein und brauste davon. Sie behielten die Ausfahrt im Auge. Das Tor öffnete sich.

»Ein roter Astra«, kommentierte Nhean.

»Sag ich doch.« Arun stutzte. »Jetzt kommt er.«

Das Tor blieb offen und die schwarze Volvo-Limousine kam gleich hinter dem Astra heraus. Nhean startete den Motor, hielt noch ein, zwei Sekunden inne, bis er das Kennzeichen des Wagens lesen konnte.

»Das sind sie«, sagte Nhean und legte den Rückwärtsgang ein.

Er wollte aus der Parkbucht fahren, aber ein VW-Bus blockierte ihn. Der Bus zögerte, rollte einen Meter weiter und blieb dann erneut stehen. Nhean wollte gerade hupen, als der Bus schließlich den Weg freimachte.

»Warte!«, rief Arun.

»Was ist?«

»Die haben uns reingelegt«, sagte Arun. »Die haben den Wagen getauscht. Der silberne Subaru. Die sind in den silbernen Subaru umgestiegen.«

»Wie kommst du darauf?« Nhean sah Arun an.

»Du hast doch selbst gesagt, dass es vor der Waschstraße nicht weiterging. Die haben das irgendwie gemacht.« Arun lachte auf. »Wir sollen hinter dem Volvo herfahren und dann entkommt er uns.«

Nhean zuckte mit den Schultern und sah dem schwarzen Volvo hinterher, der auf der Hauptstraße davonfuhr. Sie warteten schweigend, sahen gebannt auf die Ausfahrt. Es verließen noch sieben weitere Fahrzeuge die Waschstraße, darunter auch der gelbe Porsche. Dann kam endlich der silberne Subaru Forester.

»Und du bist dir sicher?«, fragte Nhean. »Sie können doch in jedes andere Fahrzeug eingestiegen sein.« Er überlegte. »Und wenn es doch der Volvo war?«

»Nein, vertrau mir«, rief Arun. »Das sind sie. Der Subaru war direkt hinter dem Volvo.« Er stutzte. »Siehst du nicht, er sitzt hinten mit der Frau. Sie wollten uns reinlegen. Außerdem wissen wir, dass sie nach Berlin fahren. Los hinterher!«

Nhean versuchte die beiden Insassen im Fond des Subaru zu erkennen. Er war sich nicht sicher. Dann folgte er Aruns Anweisung, fuhr schnittig zurück, setzte aus der Parkbucht, wechselte den Gang und strebte der Ausfahrt des Parkplatzes zu.

»Wo sind sie jetzt?«, fragte er.

»Dort an der Ampel.« Arun zeigte nach rechts. »Gib Gas, sie haben Grün.«

Nhean schaffte es nicht mehr. Der Subaru zog davon, musste aber zweihundert Meter weiter an einer Fußgängerampel halten, die plötzlich auf Rot gesprungen war. Nhean und Arun hatten wieder Grün und konnten aufschließen. Arun fummelte die Straßenkarte aus dem Handschuhfach und breitete sie auf seinen Knien aus.

»Auf dieser Straße verlassen wir die Stadt«, stellte er fest. Sie fuhren auf ein Straßenschild zu. Arun beugte sich vor und studierte die Richtungsangaben. »Nach links geht es zur Autobahn und rechts nach Warnemünde.«

»Vielleicht haben sie doch ein Hotel in Warnemünde.«

Arun schüttelte den Kopf. »Er hat gesagt, der Angka will nach Berlin.«

»Dann müssen sie auf die Autobahn«, folgerte Nhean.

Arun beugte sich über die Straßenkarte, schlug die Seiten mehrfach um und faltete sie neu. »Es ist die A20.« Er überlegte, blätterte noch einmal in der Karte. »Die Autobahn führt nach Lübeck«, sagte er nachdenklich.

»Und in der anderen Richtung?«, fragte Nhean. »Vielleicht führt die andere Richtung nach Berlin?«

Arun drehte die Karte, faltete sie wieder auseinander. Er fuhr mit dem Finger über die eingezeichneten Straßen und nickte dann. »Ja, hier unten geht es nach Berlin. Es stimmt, der Angka will nach Berlin.«

»Moment! Sie fahren rechts«, rief Nhean plötzlich. »Sie nehmen nicht die Autobahn. Sie fahren doch zurück nach Warnemünde.«

Arun blickte auf. Der Subaru war etwa hundert Meter vor ihnen und blinkte jetzt an der Auffahrt zur Bundesstraße 103. Arun kontrollierte erneut die Karte. Nhean ließ sich von einem Transporter überholen, der ebenfalls rechts fuhr, dann setzte er selbst den Blinker.

Arun schüttelte den Kopf. »Der Angka fährt nicht nach Berlin. Die Information war falsch. Wir sollten dem schwarzen Volvo nach Berlin folgen. Bleib an ihnen dran!«

Die Schlangentrommel

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