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Andrej Kurkow Zum Geleit

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Wäre die Situation um Oleg Senzow nicht so tragisch, man könnte düstere Scherze machen und sagen, das Gefängnis habe aus dem Filmregisseur einen Schriftsteller gemacht. Einen Film zu drehen ist eben schwierig, wenn du in einer Zelle hockst, im Gefängnis eines anderen Landes und noch dazu in dem, das der Grenze zu deiner Heimat, die von diesem Land überfallen wurde, am fernsten liegt, in einem Gefängnis dieses Aggressors.

In Wahrheit aber hat Oleg Senzow schon Prosa geschrieben, bevor er Filme gemacht hat. In Wahrheit nämlich hat er schon immer den Wunsch verspürt, ein Künstler oder Erfinder zu sein – und er wollte von Kind an ein ehrlicher Mensch sein und war bedacht auf seinen Ruf. Er verzichtete dafür sogar auf gute Zensuren in der Schule, wenn sie nicht verdient waren. Denn das Kostbarste für einen Künstler ist sein guter Ruf! Von der Begabung einmal abgesehen.

Zur Konkretion – im Film und in der Literatur – gelangten seine schöpferischen Pläne erst später, da war er schon ein reifer Mann.

Dass diese Reife neben der künstlerischen auch eine politische Dimension hat, haben wir an seinen Auftritten vor Gericht gesehen, wo er für Taten abgeurteilt wurde, die er nicht verübt hat – und für sein zivilgesellschaftliches Engagement. »Der Maidan war das Wichtigste, was ich in meinem Leben geleistet habe«, erklärte er zu Beginn des Prozesses. »Was aber nicht heißen soll, dass ich ein Radikaler wäre, einen Berkut-Polizisten angezündet oder sonst wem das Fell abgezogen hätte. Wir haben unseren Präsidenten, der ein Verbrecher ist, aus dem Amt gejagt. Und als Ihr Land die Krim okkupiert hat, ging ich dorthin zurück und leistete die gleiche Art Unterstützung wie zuvor auf dem Maidan. Ich hatte Kontakt zu Hunderten von Leuten. Gemeinsam überlegten wir, wie es weitergehen sollte. Aber nie habe ich jemanden zu Taten angestachelt, die für irgendwen hätten tödlich sein können, nie habe ich eine terroristische Vereinigung zu gründen versucht und erst recht hatte ich niemals etwas mit dem Rechten Sektor zu schaffen.«

Seit annähernd fünf Jahren sitzt Oleg Senzow in einem russischen Gefängnis. Dort stand er einen 145 Tage währenden Hungerstreik durch, verknüpft mit der Forderung nach Freilassung aller ukrainischen politischen Häftlinge, die in russischen Gefängnissen festgehalten werden. Dort schrieb er Drehbücher fürs Kino, und kürzlich ließ er hören, er habe einen neuen Roman beendet. Hoffentlich wusste er bei dieser Mitteilung Manuskript oder Datei dieses Romans schon in der Ukraine, an sicherem Ort.

Das Buch, das Sie in Händen halten, ist kein Roman. Es ist der ehrliche und offene autobiografische Bericht über seine Kindheit, die Schulzeit. Darin beschrieben ist seine Persönlichkeitswerdung – also wie er zu dem furchtlosen Menschen wurde, der er heute ist. Furchtlos zu sein ist eine seltene Gabe. Als Oleg seine Erzählungen schrieb, schien die Furchtlosigkeit, die sich darin äußert, eine Charaktersache zu sein und hatte, auch das ist wichtig, mit dem Leben auf der Krim zu tun, seinen Besonderheiten, den Problemen.

Seit 2014 weiß die ganze Welt von Olegs Furchtlosigkeit. Sie ist – und mit ihr die Bereitschaft, für Wahrheit und Werte einzustehen, das eigene Leben dafür aufs Spiel zu setzen, weil anders das Leben für ihn keinen Sinn hat – zum Maßstab geworden für Zivilcourage und echten Patriotismus. Ein Gericht der Russischen Föderation hat Oleg Senzow zu zwanzig Jahren Gefängnishaft verurteilt. Vor allem dafür, dass er, ein ethnischer Russe und Bewohner der Krim, es gewagt hat, mit der Annexion seiner Heimat durch Russland nicht einverstanden zu sein.

Fünf Jahre hat man ihm, dem ukrainischen Autor und Regisseur, bereits gestohlen. Zu hoffen bleibt, dass es uns, Lesern und Autoren und aufrechten Menschen in aller Welt, mit vereinten Kräften gelingt, Oleg Senzow aus seinem fernen Gefängnis in der Polarzone herauszuholen. Solange er aber noch dort ist, ist das Geringste, was wir für ihn tun können, seine Texte zu lesen. Die, die bereits erschienen sind, und die, die er dort schreibt. Wir dürfen ihn nicht vergessen – so wenig, wie Hunderte andere, Buchautoren und Nicht-Buchautoren, Filmemacher und Nicht-Filmemacher in den verschiedensten Ländern, vergessen sein dürfen, die gleich ihm grundlos in Haft sind. Gerechtigkeit existiert, solange wir an sie glauben. Und unser Glaube an die Gerechtigkeit ist es, der der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft!

Gewiss werden Ihnen beim Lesen dieses Buches Fragen kommen, die Sie dem Autor gern stellen würden. Rechnen Sie nicht so bald mit der Möglichkeit, diese Fragen auf einer Lesung in Berlin oder zur Frankfurter Buchmesse von ihm beantwortet zu bekommen. Stellen Sie sie ihm lieber brieflich! Die Adresse seines Gefängnisses finden Sie im Internet. Die einzige Schwierigkeit ist, dass das Gefängnis Briefe an seine Insassen nur in russischer Sprache entgegennimmt. Bedienen Sie sich der Hilfe von Übersetzern, und seien es automatische. Die Qualität der Übersetzung ist in diesem Fall nicht das Wichtigste. Auf Ihr Herz kommt es an!

Andrej Kurkow, im Februar 2019

Andrej Kurkow ist ein international bekannter ukrainischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Er hat zahlreiche Romane (darunter der Welterfolg »Picknick auf dem Eis«, 1999) veröffentlicht, die vielfach übersetzt wurden und auf Deutsch im Diogenes Verlag und im Haymon Verlag erscheinen.

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