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Kindheit

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Alle finden, die Kindheit sei die glücklichste Zeit im Leben. Stimmt. Und die hellste, würde ich hinzufügen. Im Großen und Ganzen jedenfalls. Für die meisten. Mir tun alle leid, die keine Kindheit hatten, deren Kindheit zu früh vorbei oder nicht hell genug war.

Ich hatte beides – eine Kindheit und viel Licht. Wobei sich Licht nicht in zwei Kilo Mandarinen zu Neujahr oder in Trickfilmen auf dem Schwarz-Weiß-Fernseher bemisst. Und auch nicht in der Zahl der Geburtstagsgeschenke.

Mit acht wünschst du dir nichts sehnlicher als ein Set ungarischer Plastiksoldaten. Du träumst von einem ferngesteuerten Auto, gern auch mal am helllichten Tag. Ob du die Spielzeugsoldaten besessen, ob du das ferngesteuerte Auto bekommen hast, spielt später, nach vielen Jahren, keine Rolle mehr. Wenn du erst erwachsen bist, begreifst du, dass dieser auf dem Dachboden vor sich hin staubende Kram völlig unwichtig ist, und du begreifst außerdem, dass dir damals als Kind auch noch andere Dinge wichtig waren.

Das Wichtigste war – und so sollte es auch sein –: deine Mutter, deine Familie, deine Freunde, deine Lieblingstiere, all das Lebendige um dich herum. Davon ging dieses Licht aus, das für immer aus dir leuchten wird, egal, was später kommt. Danach. Nach der Kindheit.

Ich habe ganz frühe Erinnerungen an mich selbst. Manchmal kommt es mir so vor, als könnte ich mich noch an die Gesichter erinnern, die sich über mich gebeugt haben, als ich im Kinderwagen lag (obwohl ich inzwischen eher glaube, dass es eine Filmszene ist, die ich da vor mir sehe).

Ich habe mich sehr früh schon als Person wahrgenommen, so etwa mit fünf. Einmal hatte ich mir einen Splitter eingezogen und bekam ihn nicht wieder heraus. Irgendein Freund, der Name von dem Knallkopf will mir partout nicht einfallen, sagte, das war’s dann, der Splitter wandert aus dem Finger bis ins Herz, und dann bist du tot.

Das ist mein allererster klarer Eindruck aus der Kindheit – ich bin fünf, ich komme gerade aus dem Kindergarten, in Sandalen und kurzen Hosen, und laufe schräg über den kleinen Hügel bei unserem Dorf (Kinder mögen ja keine Wege, sie kürzen dauernd ab, und wenn der Weg gerade ist, kriechen sie durchs Gebüsch). Ich laufe also über die Anhöhe, unter mir das Dorf, hinter mir der Kindergarten, irgendwo links die Schule, mit der ich noch nichts zu tun habe, und verabschiede mich in Gedanken von allem, ich mache mich aufs Sterben gefasst. Eine ruhige, in Maßen tragische Stimmung mit leichtem Wind. Doch ich weine nicht – es ist, wie es ist.

Was weiter passiert ist, weiß ich nicht mehr, aus der frühen Kindheit sind mir nur Bruchstücke in Erinnerung, aber da ich noch lebe, hat der Splitter sein Ziel wohl verfehlt.

Ich bin sechs. Straße, früher Abend, wir spielen Krieg. Ich liege, das Gewehr in der Hand, neben einem Freund in Deckung, hinter einem Stein in der Nähe unseres Hauses. Plötzlich zieht mir jemand die Plastik-Ersatzpistole aus dem Gürtel und hält sie mir an den Rücken. Ich drehe mich um – mein Vater. »Papa, du störst!« Starke, schwielige Kraftfahrerhände, schwarz und mit blauen Flecken von irgendeiner Reparatur. Er kommt von der Arbeit. Nüchtern. Pures Glück.

Es ist merkwürdig, welche Erinnerungsfetzen aus der Kindheit im Gedächtnis bleiben. Ich bin sieben. Meine Mutter schlägt mit einem Gummischlauch auf meine nackten Beine ein – die Mädchen von nebenan haben ihr gesagt, ich hätte mit Steinen geworfen und eine Scheibe eingeschlagen. Aber ich habe gar nicht geworfen, ich habe nur dabeigestanden und zugesehen, wie die anderen Jungs die Mädchen mit ihren Steinen geärgert haben, und überhaupt sind an dem Tag bei vielen Leuten die Scheiben rausgeflogen – im Steinbruch nebenan haben sie es mal wieder mit dem Dynamit übertrieben. Mit dem Schlauch verprügelt wurde ausgerechnet ich. Das war schmerzhaft. Und verletzend. Weil ich nicht schuld war … Ich bekam selten Prügel, und wenn, dann immer wegen der Streiche von anderen.

Zurück zum Steinbruch. Haben Sie in Ihrem Ort etwa keinen Steinbruch? Komisch. Wir hatten einen. Er war ganz in der Nähe. Dort wurde regelmäßig gesprengt, jeden Tag, immer um die Mittagszeit. Plötzlich heulte die Sirene, zwei Mal, einmal kurz, einmal lang. Dann, nach einer Pause, die Explosion. Wenn man schnell genug auf den Hof rannte und die Richtung erriet, konnte man oben über der Sprengstelle eine kleine Staubwolke sehen.

Mein achter Geburtstag, wie immer kommen morgens meine Freunde, wir sammeln im Garten ein ganzes Glas Kartoffelkäfer und bauen den Tierchen ein Straflager aus Sand und Sperrmüll …

Abends die richtige Feier. Ein Haufen Gäste, alles Freunde von meinen Eltern. Sie schenken mir was, Geld vor allem – richtig echte, schmucke Scheine, in Rot und Blau, mit Leninprofil drauf. Eigentlich toll, nett gemeint, wie für einen Erwachsenen. Am nächsten Morgen lieferst du die Scheine dann bei deiner Mutter ab. Sie muss dich nicht mal drum bitten, du machst es von dir aus, es gehört sich so. Später kaufen dir deine Eltern was von dem Geld, oder es geht für andere Ausgaben drauf, bessert die Haushaltskasse auf, die nach der Feier geplündert ist, schließlich musste die ganze Sippschaft angemessen bewirtet werden. Und du fühlst dich leer und betrogen. Irgendwann hatte ich auf Lenin zum Geburtstag keine Lust mehr.

Wenn heute jemand mit Geld statt einem richtigen Geschenk zu meinem Kind zum Geburtstag kommt, hat er nichts zu lachen – ich kann ganz schön unangenehm werden.

Kinder können mit Geld nichts anfangen. In der ersten Klasse habe ich einmal auf dem Sportplatz anderthalb Rubel gefunden. Ich wusste nicht, was ich damit machen sollte. Das war ungefähr dasselbe Gefühl, als würde ich heute einen Eine-Million-Dollar-Schein finden, der einen unter UV-Licht lesbaren Vermerk »Sonderdezernat Wirtschaftskriminalität« trägt: ein Haufen Geld, den man zu nichts gebrauchen kann. Ich bekam damals jeden Tag zehn Kopeken fürs Mittagessen, das reichte für ein großes Milchbrötchen. Jetzt hatte ich auf einmal anderthalb Rubel. Ich wusste nicht, wohin damit; ich sagte meinen Eltern nichts, sondern versteckte das Geld, und irgendwann verlor ich es und war beruhigt – lästiger Kram, kann mir gestohlen bleiben und so weiter …

Neun. Seit Neuestem hatten wir ein Auto. Einen alten Moskwitsch. Ans Meer ging es nun nicht mehr in einem mörderisch stickigen, langsamen Bus und auch nicht im kolchoseigenen Pritschenwagen mit den Holzbänken, sondern im eigenen Auto! Ich fand das nicht cool, diesen Begriff gab es damals noch nicht, es war einfach schnell und bequem. Das Spannendste an einem Ausflug ans Meer ist der Moment, wenn man fast da ist und versucht, diesen schmalen Streifen zu entdecken, der sich farblich ein klein wenig vom Blau des Himmels abhebt. Wenn das Auto die letzte Anhöhe nimmt und du es endlich siehst, eine ganz dünne Linie am unteren Himmelsrand – das Meer! Gleich bist du da. Und jetzt schon glücklich.

Zehn. Abend, Dämmerung, die Straße vorm Haus. Wir spielen Verstecken. Jungs und Mädchen. Es ist schon fast dunkel. Bald sieht man gar nichts mehr. Aber noch können wir spielen, ein kleines bisschen noch. So lange es geht. Alle sind da, wir sind mittendrin, alle haben Spaß. Als ich an unserem Gartentor vorbeirenne, weht mir aus der Sommerküche der Geruch von Bratkartoffeln in die Nase – gleich muss ich rein zum Essen, und aus dem Zimmer, in dem unser Fernseher steht, tönt durchs offene Fenster die Anfangsmelodie der Kundschafterserie TASS ist ermächtigt zu erklären … – dann schaffe ich es also nach dem Abendessen noch, ein Stück davon zu sehen.

Es ist das eindrücklichste Bild aus meiner Kindheit, ich muss nur die Augen schließen, dann erlebe ich alles wie damals: die Straße, die Dämmerung, das Spiel, den Bratkartoffelduft, die Musik – am liebsten würde ich den Atem anhalten und bis in alle Ewigkeit genau dort bleiben, obwohl der Moment eigentlich schon die Ewigkeit für mich ist.

Wenn Sie als Kind nie einen Sommer auf dem Dorf verbracht haben, wenn Sie nie in der Dämmerung mit Freunden Verstecken gespielt haben, dann hatten Sie keine richtige Kindheit.

Elf. Unsere Straße: Makar, Sanja, Taxik und ich haben uns mit den Jungs aus der Nachbarstraße zusammengetan: Lelja, Barsuk, Oleg und Belan.

Sommer. Wir spielen Schlag den Zeisig – wir werfen der Reihe nach mit Stöcken, um zwei übereinanderstehende Konservendosen abzuschießen, dann rennen alle los, um sich ihre Stöcke wiederzuholen, der Spielführer bewacht den Zeisig und versucht die anderen mit seinem Schläger abzuwehren. Man kann sich seinen Schläger schnappen und versuchen, den Zeisig zu treffen. Stockschläge auf die Finger – so fühlt sich die Kindheit an.

Lelja ist der Boss, der Anführer, er ist fünf Jahre älter als ich, fast erwachsen – er läuft in Trainingshose und T-Shirt rum, reißt Witze und drangsaliert die anderen; er darf das.

Makar, dick und kräftig, ist mein Nachbar, einer von den Freunden, mit denen man schon im Sandkasten spielt. Er ist vier Jahre älter, und wir sind viel zusammen, deswegen lassen mich die anderen meistens in Ruhe.

Sanja und Taxik gehen in eine Klasse, sie sind ein Jahr älter und wohnen nur drei Häuser weiter, aber auf verschiedenen Seiten.

Barsuk ist der Einzige, der jünger ist als ich, aber er wohnt neben Lelja, deswegen ärgert ihn keiner außer Lelja selbst, aber der ärgert auch alle anderen.

Oleg, auch er viel älter als ich, ist zurückgeblieben, ein debiles Riesenbaby, aber einigermaßen unauffällig und nur selten neben der Spur.

Belan kommt, wie auch Sanja, aus guter Familie, hiesige Intelligenz, mit hohen Posten im Dorf.

Wir waren eine lustige Clique, oder wie man neuerdings sagt, ein krasser Clan. In der Schule hatten wir kaum Kontakt, weil wir in verschiedene Klassen gingen, aber in der Freizeit waren wir fast immer zusammen.

Mit zwölf bekam ich wie fast alle aus unserer Clique ein Fahrrad, und da ging’s los: Attacken auf Erdbeerfelder und Apfelgärten, Verfolgungsjagden mit den Wachleuten, Rallyes über Schnellstraßen, im freien Gelände und durch Wassergräben, ständige Wettfahren und so weiter und so fort … Stürze, Schürfwunden an Ellenbogen und Knien, kaum war eine verheilt, kam die nächste … Warum mussten Sanja und ich auch unbedingt wetten, wer es freihändig und ohne Bremse am weitesten von diesem gar nicht so steilen Berg runter schafft? Sanja verlor, denn er bremste vor einer Schar Gänse. Ich trug eine Verletzung auf der linken Wange davon, deren Spuren noch jahrelang zu sehen waren, eine Gans renkte sich den Flügel aus, und meine Mutter bekam einen leichten Infarkt, als sie mich sah – kurz, so richtig froh war keiner … Aber das gehörte nun mal dazu.

Dreizehn. Fußballfieber. Wir spielten schon seit ein paar Jahren, auch im Frühling und im Herbst, manchmal sogar im Winter, aber der Sommer, besonders dieser, übertraf alles! Mitten in der Wildnis hatten wir zwei Fußballplätze angelegt. Wir spielten Straße gegen Straße. Es gab Siege und Niederlagen und Schlägereien im Anschluss – Mann gegen Mann, alle schauen zu, keiner mischt sich ein.

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