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Im Wettlauf mit dem Krieg I. Dün – gestern

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Neunzehn Grad unter null. Über die steif gewordenen Finger gleiten Ströme von Februarluft und trocknen gnadenlos meine seidige Haut zu rissigem Pergament. Wir bewahren nur mühsam das Gleichgewicht auf der vereisten Straße und halten an einem niedrigen Haus mit erleuchteten Fenstern.

Ein stämmiger Mann in einer dunklen Jacke tritt ans Tor.

„Guten Tag“, grüßt er freundlich auf Russisch und streckt mir warm seine Hand entgegen, damit ich nicht falle. Jasim. Jasim Jasinowytsch Iskondarow ist der Älteste der Türkischen Meschetischen Gemeinde im Dorf Wasjukiwka, in der Nähe von Bachmut. Er begleitet die unerwarteten Gäste ins Haus, lädt uns ein ins Wohnzimmer. Seine Familie lebt seit achtundzwanzig Jahren in der Region Donezk. Hier fand Jasim auf der Flucht vor den Pogromen in Usbekistan Zuflucht, wohin seine Eltern 1944 nach der Deportation aus Meschetien in Georgien zogen. Dieses Haus wurde das Zuhause seiner drei Kinder und fünfzehn Enkelkinder.

In der Küche herrscht leichte Aufregung. Jasims Frau Marpula, 58, bindet sich ein kariertes Taschentuch um den Kopf und bringt Tee und Süßigkeiten ins Zimmer. Wir setzen uns nach türkischer Tradition mit gekreuzten Beinen an einen niedrigen Tisch – Suffra – mit dem Bild des Mondes und der Sterne auf rotem Grund. Von Zeit zu Zeit kommen junge Frauen aus der Familie zu uns.

„Meschetien“, beginnt der Mann die Geschichte und hält einen Moment den Atem an. „So heißt unser Land.“

Die kulturhistorische Region an der Grenze zwischen der Türkei und Georgien ist seit jeher zwischen den beiden Staaten aufgeteilt. 1921 unterzeichneten die armenischen, aserbaidschanischen und georgischen Sowjetrepubliken einerseits und die Türkei andererseits das sogenannte Abkommen von Kars, bei dem ein Teil des armenischen Territoriums an die Türkei abgetreten und fünf türkische Regionen Teil Georgiens wurden.

„Ja, meine Eltern wurden in Meschetien, bereits Georgien, geboren“, erzählt Jasim, „aber 1944 wollte Stalin uns vertreiben, weil der Verdacht bestand, dass wir mit der Türkei zusammenarbeiten könnten.“

Er vertrieb sie.

Aufgrund des Beschlusses des Staatlichen Verteidigungskomitees vom 14. November wurden Jasims Leute in Güterwagen getrieben und über den Ural transportiert.

„Sie haben sie vierzig Tage lang nach Zentralasien gebracht.“ Jasims Augen schimmern schwärzer als die Erde. „In diesen Wagons starben Menschen. Die Kinder weinten. Wie viele Menschen starben? Niemand weiß es oder hat gezählt. Einige sagen einhunderttausend, andere einhundertzwanzigtausend.“

Diese Geschichte wird von Kindern und Enkeln in jedem Haus erzählt.

„Möchten Sie nach Meschetien zurückkehren?“, frage ich.

„Ja, mein ganzes Leben lang!“, antwortet Jasim ohne zu zögern. „Und meine Eltern wollten ihr ganzes Leben lang, dass wir dorthin zurückkehren. Ich erinnere mich, dass mein Onkel 1966, als ich sieben Jahre alt war, nach Georgien nach Tiflis ging, aber weiter durfte er nicht gehen. Er wollte seine Heimat sehen. 1989 wurde die Rückkehr der türkischen Mescheten in Moskau ebenfalls nicht berücksichtigt. Letztes Jahr fuhr mein Bruder in die Türkei und dann in die Gegend, in der unsere Eltern geboren wurden. Zweiundsiebzig Jahre später ... Mein Vater erzählte uns: Am dritten Haus von der Schule gab es einen Garten ... In dem Dorf, in dem meine Eltern geboren sind, ist jetzt der Grenzkontrollpunkt, der Übergang in die Türkei.“

Heute ist schon alles anders.

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