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4 999 Tode

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»Wer bezweifelt, was er sieht,

Glaubt euch nie, trotz aller Müh’.

Wär’n Mond und Sonne frei von Zweifeln nicht,

Erlöschte augenblicks ihr Licht.«

Den Rehkopf begrub ich am nächsten Tag auf meinem Friedhof beim Haus. In dieses Erdloch hatte ich fast alles gelegt, was ich aus dem Haus von Bigfoot mitgenommen hatte. Die Plastiktüte, an der noch Blutspuren waren, hängte ich an einen Ast des Pflaumenbaums, als Andenken. Sofort fiel Schnee hinein, der in der Nacht zu Eis gefror. Ich plagte mich lange, um in der gefrorenen, steinigen Erde eine Grube zu graben. Die Tränen gefroren mir auf den Wangen.

Auf das Grab legte ich einen Stein, wie immer. Es gab schon viele solcher Steine auf meinem Friedhof. Hier lag der alte Kater, dessen Leiche ich beim Hauskauf im Keller vorgefunden hatte, die halbwilde Katze, die gleich starb, nachdem sie geworfen hatte, samt ihren Jungen, der Fuchs, den die Waldarbeiter getötet hatten und von dem sie behaupteten, er sei tollwütig gewesen, einige Maulwürfe und ein im letzten Winter von einem Hund totgebissenes Reh. Das waren nur einige der Tiere. Alle, die ich im Wald, in den Schlingen von Bigfoot, tot auffand, brachte ich an einen anderen Ort, damit sie wenigstens irgendwem als Futter dienten. Von diesem hübsch gelegenen Miniaturfriedhof, zwischen einem Teich und einem sanften Hügel, konnte man das ganze Hochplateau überblicken. Hier wollte auch ich einmal liegen und alles in meiner Obhut haben, für immer.

Ich bemühte mich, zweimal täglich einen Rundgang über meine Ländereien zu machen. Ich muss Lufcug immer im Auge haben, daher habe ich mich dazu verpflichten lassen. Der Reihe nach ging ich die von mir betreuten Häuser ab, und zum Schluss stieg ich auf den Hügel, um unser ganzes Hochplateau zu überblicken.

Aus dieser Perspektive konnte ich das sehen, was aus der Nähe unsichtbar war: Die Spuren im Schnee dokumentierten hier im Winter jede Bewegung, und dieser Evidenz konnte nichts entgehen. Der Schnee als sorgfältiger Chronist zeichnete alle Schritte von Tier und Mensch auf, er verewigte auch die wenigen Autospuren. Ich betrachtete aufmerksam unsere Dächer, ob sich nicht irgendwo ein Überhang aus Schnee gebildet hatte, der die Rinne abreißen konnte oder, was noch schlimmer war, beim Kamin hängen blieb. Dort würde er dann langsam schmelzen und Wasser durch die Schindeln nach innen sickern lassen. Ich sah nach den Fenstern, ob sie heil waren, ob ich bei der letzten Visite nichts übersehen und kein Licht brennen gelassen hatte. Und ich inspizierte auch das umliegende Anwesen, die Zäune, die Gartenpforten, die Schuppen und die Holzstapel.

Ich war die Hüterin des Eigentums meiner Nachbarn, während sie ihren Winterarbeiten und ihren Vergnügungen in der Stadt nachgingen. An ihrer statt verbrachte ich hier den Winter für sie, bewahrte ihre Häuser vor Kälte und Feuchtigkeit und kümmerte mich um ihren flüchtigen Besitz. So half ich ihnen an der Finsternis teilzunehmen.

Dummerweise machte mir wieder mein Leiden zu schaffen. Damit musste ich rechnen, Stress und andere ungewöhnliche Ereignisse verstärkten es. Manchmal genügte eine Nacht, in der ich schlecht geschlafen hatte, und alles plagte mich. Dann zitterten meine Hände, und ich hatte ein Gefühl, als flösse Strom durch alle Gliedmaßen, als sei mein Körper von einem unsichtbaren elektrischen Netz umhüllt, und als ob mir jemand wahllos kleine Züchtigungen zufügte. Meine Schultern oder Beine wurden oft von einem unangenehmen, plötzlichen Krampf erfasst. Jetzt zum Beispiel merkte ich, wie ein Bein irgendwie steif wurde, es war ganz taub, und ich fühlte ein Stechen. Beim Gehen zog ich es nach und humpelte. Dazu kam, dass meine Augen seit einem Monat immer wieder plötzlich und grundlos tränten.

Ich entschloss mich, heute trotz Schmerzen den Abhang hinaufzugehen und alles von oben zu betrachten. Sicher wäre die Welt noch an ihrem Ort. Vielleicht würde mich das beruhigen und bewirken, dass sich meine Kehle lockerte und es mir besser ginge. Bigfoot tat mir überhaupt nicht leid. Doch immer, wenn ich sein Haus von Weitem sah, fiel mir sein toter Körper ein, der Körper eines Kobolds in einem kaffeebraunen Anzug, und dann fielen mir die Körper aller lebenden Bekannten ein, die glücklich in ihren Häusern wohnten. Auch ich selbst, mein Bein und der magere, sehnige Körper Matogas, alles schien mir durchsetzt mit ungeheurer Traurigkeit, unerträglich. Ich blickte auf die schwarzweiße Landschaft des Hochplateaus, und mir war klar, dass Traurigkeit ein wichtiges Wort bei der Definition der Welt war. Sie liegt allem zugrunde, sie ist das fünfte Element, die Quintessenz.

Die Landschaft, die vor mir ausgebreitet lag, bestand aus schwarzweißen Schattierungen, aus miteinander verflochtenen Baumreihen entlang der Feldraine. Dort, wo das Gras nicht gemäht wurde, bildete der Schnee keine einheitliche weiße Ebene. Die einzelnen Halme stachen durch seine Oberfläche, was von Weitem so aussah, als hätte eine riesige Hand eben begonnen, ein abstraktes Muster zu skizzieren, als übte sie mit kurzen Strichen, zart und subtil. Ich erkannte feine Figuren, geometrische Felder, Streifen und Rechtecke, jedes anders strukturiert, auf eigene Weise schattiert, verschieden geneigt in der eiligen Winterdämmerung. Und unsere Häuser, alle sieben, standen hier hingeworfen wie ein Teil der Natur, als seien sie zusammen mit den Feldrainen gewachsen, ebenso wie der Bach und die Brücke über den Bach. All das schien sorgfältig projektiert und komponiert zu sein, vielleicht von derselben Hand, die hier Skizzen verfertigt hatte.

Auch ich hätte eine Karte dieser Gegend aus dem Gedächtnis zeichnen können. Unser Hochplateau hätte darauf die Form eines dicken Halbmondes bekommen, von einer Seite umgeben von den Silberbergen, einer eher kleinen, niedrigen Bergkette, die halb zu uns, halb zu Tschechien gehört. Auf der anderen, der polnischen Seite standen die Weißen Berge. Dort gibt es nur eine Siedlung – unsere. Das Dorf und die Stadt und alles andere liegen im Tal, im Nordosten. Der Niveauunterschied zwischen dem Hochplateau und dem restlichen Glatzer Kessel ist nicht groß, aber es genügt, um sich hier etwas erhöht zu fühlen und auf alles von oben herabzusehen. Der Weg klettert vom Tal gemächlich, von Norden her eher sanft nach oben, aber die östliche Seite des Hochplateaus ist weiter unten ziemlich steil, sodass die Abfahrt im Winter gefährlich ist. In strengen Wintern leitet die Straßenaufsicht den Verkehr hier um. Wir benutzen den Weg dann unerlaubt, auf eigenes Risiko. Natürlich nur mit einem guten Auto. Eigentlich spreche ich nur von mir. Matoga hat nur ein Moped, und Bigfoot ging zu Fuß. Das steile Stück nennen wir den Steilpass. Unweit davon befindet sich noch ein steiniger Abhang. Wer den für ein Werk der Natur hält, der irrt sich. Es ist nämlich das Überbleibsel eines ehemaligen Steinbruchs, der sich früher einmal in das Hochplateau hineingefressen hatte und es wahrscheinlich irgendwann ganz und gar mit seinen Baggerzähnen verschlungen hätte. Angeblich gibt es Pläne, den Steinbruch wiederzubeleben. Dann werden wir völlig von der Erdoberfläche verschwinden, in den Bäuchen der Maschinen.

Über den Steilpass führt ein Feldweg ins Dorf, der nur sommers befahren wird. Im Westen mündet der Weg in einen anderen, breiteren Weg, doch das ist noch nicht die Hauptstraße. Hier liegt ein Landstrich, den ich für mich Transsylvanien nenne, wegen der hier allgemein vorherrschenden Stimmung. Dort gibt es einen Laden, kaputte Skilifte und einen Hort für Kinder. Der Horizont verläuft hier sehr weit oben, sodass dort ewige Dämmerung herrscht. Am hintersten Ende dieses Landstrichs gibt es noch einen Seitenweg, der zu einer Fuchsfarm führt, aber ich vermeide es, in diese Richtung zu gehen.

Jenseits von Transsylvanien, gleich bei der Auffahrt auf die internationale Route, gibt es eine scharfe Kurve, an der es oft zu Unfällen kommt. Dyzio hat sie die Rinderherzkurve genannt, weil er einmal gesehen hatte, wie aus einem Lkw vom Schlachthof eines städtischen Bonzen eine Kiste mit Innereien fiel und die Herzen der Rinder über die Straße kollerten, jedenfalls behauptet er das. Es scheint mir ziemlich makaber, und ich bin keineswegs sicher, ob er sich das alles nur eingebildet hat. Dyzio ist manchmal hypersensibel, besonders bei gewissen Themen. Der Asphaltweg verbindet die Städte im Kessel. Bei gutem Wetter kann man auch von unserem Hochplateau diesen Weg sehen, und die darauf aufgefädelten Städte Kudowa und Lewin, und im Norden sogar, in weiter Ferne, die Orte Nowa Ruda, Kłodzko, zu deutsch Glatz, und Ząbkowice, das vor dem Krieg Frankenstein hieß.

Das ist schon die große weite Welt. Ich fuhr immer mit meinem Samurai über den Steilpass in die Stadt. Nach dem steilen Stück ging es links ab zur launisch gewundenen Grenze, die man bei jedem längeren Spaziergang ganz leicht und unbemerkt überschreiten konnte. Das passierte mir oft aus Unachtsamkeit, wenn ich bei meinem Rundgang so weit kam. Aber manchmal wollte ich sie auch absichtlich überschreiten, hin und her. Zwanzig-, dreißigmal. So amüsierte ich mich eine halbe Stunde mit Grenzüberschreitungen. Es macht mir Spaß, weil es mich an die Zeit erinnert, als es nicht möglich war. Grenzen zu überschreiten gefällt mir.

Meistens kontrollierte ich zuerst das Professorenhaus, mein Lieblingshaus. Es war klein und schlicht. Ein schweigsames, einsames Häuschen mit weißen Mauern. Das Professorenehepaar wohnte selten dort, öfter als sie tauchten ihre Kinder hier mit Freunden auf, und dann trug der Wind ihre lauten Stimmen zu mir herüber. Das Haus mit offenen Fensterläden, hell erleuchtet und voll lauter Musik, schien mir überrumpelt und wie betäubt zu sein. Man könnte sagen, dass es mit den sperrangelweit klaffenden Fensteröffnungen idiotisch aussah. Es kam aber sofort wieder zu sich, wenn sie abreisten. Sein Schwachpunkt war das steile Dach. Der Schnee rutschte von ihm herunter und lag bis in den Mai hinein an der nordseitigen Mauer, und durch diese drang Feuchtigkeit nach innen. Dann musste ich den Schnee wegräumen, eine schwere und undankbare Arbeit. Im Frühling bestand meine Aufgabe darin, den Garten in Ordnung zu halten. Ich pflanzte Blumen und pflegte alles, was auf dem Stückchen Erde vor dem Haus wuchs. Das tat ich gern. Es kam vor, dass kleinere Reparaturen notwendig waren, dann rief ich die Eigentümer in Wrocław an, und sie überwiesen mir Geld auf ein Konto. Damit konnte ich Arbeiter beauftragen und die Arbeiten lediglich beaufsichtigen.

Ich bemerkte in diesem Winter auch, dass in ihrem Keller Fledermäuse wohnten, eine ziemlich große Familie. In den Keller war ich nur deshalb hinabgestiegen, weil ich glaubte, von dort käme das Geräusch tropfenden Wassers. Ein Rohrbruch wäre ein ziemliches Malheur gewesen. Doch dann sah ich die im steinernen Deckengewölbe zusammengedrängte Schar der schlafenden Fledermäuse. Sie hingen bewegungslos dort, und es sah aus, als beobachteten sie mich im Schlaf, als spiegele sich das Licht der Glühbirnen in ihren offenen Augen. Flüsternd verabschiedete ich mich von ihnen, bis zum Frühling. Einen Wasserschaden hatte ich nicht entdecken können, und so stieg ich auf Zehenspitzen wieder nach oben.

Im Haus der Schriftstellerin gab es Marder. Ich gab ihnen keine einzelnen Namen, denn ich konnte sie weder zählen noch unterscheiden. Man sieht sie nur selten, und das ist ihre besondere Eigenschaft, sie sind wie Geister. Sie erscheinen und verschwinden so schnell, dass man nicht glaubt, was man gesehen hat. Schöne Tiere, die Marder. Ich würde sie im Wappen tragen, bei Bedarf. Sie scheinen leicht und unschuldig zu sein, aber der Schein trügt. In Wirklichkeit sind es gefährliche und durchtriebene Wesen. Zwischen ihnen und den Katzen, Mäusen und Vögeln herrscht ewiger Kleinkrieg, und auch untereinander wird ständig gekämpft. Im Haus der Schriftstellerin hatten sie sich zwischen den Dachziegeln und der Wärmedämmung des Speichers eingenistet, und ich habe sie in Verdacht, dass sie dort Verwüstungen anrichten, die Mineralwolle wegreißen und Löcher in die Holzplatten beißen.

Die Schriftstellerin kam meistens im Mai angereist, ihr Auto voll gestopft mit Büchern und exotischen Nahrungsmitteln. Ich half ihr immer beim Auspacken, denn sie hatte eine kranke Wirbelsäule. Nach einem Unfall trug sie eine orthopädische Halskrause. Aber vielleicht war ihre Wirbelsäule auch vom Schreiben kaputt. Sie sah aus wie jemand, der Pompeji überlebt hatte, als sei sie unter Asche begraben gewesen. Ihr Gesicht war fahl, sowohl die Farbe der Lippen als auch die der Augen war grau. Die langen grauen Haare trug sie nach oben gekämmt, auf dem Kopf straff mit einem Gummi gebunden und zu einem kleinen Dutt zusammengedreht. Wenn ich sie nicht so gut kennen würde, läse ich sicher ihre Bücher. Da ich sie aber besser kannte, fürchtete ich mich davor. Vielleicht hatte sie meine geliebten Orte auf eine Art und Weise beschrieben, die ich nicht begriff. Vielleicht waren meine geliebten Orte für sie etwas ganz anderes als für mich. In irgendeinem Sinn sind Personen wie sie, die schreiben können, gefährlich. Sofort drängt sich einem der Verdacht auf, dass sie nicht echt sind, dass so eine Person nicht sie selbst ist, sondern nur das Auge, das in einem fort schaut und das Gesehene in Sätze verwandelt. Auf diese Art raubt sie der Realität das Allerwichtigste, nämlich das Unaussprechliche.

Sie verbrachte hier die Zeit bis Ende September und ging kaum aus dem Haus. Nur manchmal, wenn die Hitze trotz des Windes unerträglich und klebrig geworden war, bettete sie ihren fahlen Körper in einen Liegestuhl und verharrte reglos in der Sonnenglut, wovon sie noch grauer wurde. Wenn ich nur ihre Füße sehen könnte, vielleicht würde sich herausstellen, dass auch sie kein menschliches Wesen war, sondern eine andere Variante des Daseins. Eine Nixe des Logos oder eine Sylphide. Manchmal bekam sie Besuch von einer Freundin, einer dunkelhaarigen starken Person mit grell geschminkten Lippen. Die hatte ein braunes Muttermal im Gesicht, vermutlich ein Zeichen dafür, dass Venus zum Zeitpunkt ihrer Geburt im ersten Haus stand. Sie kochten gemeinsam, als seien ihnen wieder die althergebrachten Familienrituale eingefallen. Im letzten Jahr hatte ich oft mit ihnen gegessen: scharfe Kokosmilchsuppe, Kartoffelpuffer mit Pfifferlingen. Sie kochten gut und schmackhaft. Die Freundin verhielt sich sehr zärtlich zu der aschgrauen Frau, der ich den Namen Grisella gegeben hatte. Sie kümmerte sich um sie wie um ein Kind. Sicher wusste sie genau, was sie tat.

Das kleinste Haus am feuchten Waldrand hatte vor Kurzem eine lärmende Familie aus Wrocław gekauft. Sie hatten zwei halbwüchsige, dickliche, verzogene Kinder und ein Lebensmittelgeschäft in Krzyki. Das Haus sollte umgebaut und in einen polnischen Gutshof verwandelt werden – es sollten Säulen und eine Galerie angebaut werden, und auf der Hinterseite sollte es einen Swimmingpool geben. Das erzählte mir der Vater. Vorerst wurde alles mit einem aus Beton gegossenen Zaun eingefasst. Sie zahlten großzügig und baten mich, täglich zu überprüfen, ob niemand eingebrochen sei. Das Haus selbst war alt und kaputt, es sah aus, als wollte es in Ruhe gelassen werden, um friedlich in die Zukunft zu bröckeln. In diesem Jahr stand ihm jedoch eine Revolution bevor. Es wurden Berge von Sand geliefert und vor dem Tor abgeladen. Der Wind verwehte ständig die Abdeckfolie, und diese Folie wieder zu richten kostete mich viel Anstrengung. Auf ihrem Grundstück befand sich eine kleine Quelle, und dort wollten sie Fischteiche anlegen und einen Grill mauern. Sie hießen Studzienni. Ich überlegte lange, ob ich ihnen einen eigenen Namen geben sollte, doch ich kam zu der Erkenntnis, dass es einer der beiden Fälle war, wo der Name bereits perfekt zum Menschen passte. Es waren wirklich Brunnenmenschen – wie Menschen, die vor langer Zeit in einen Brunnen gefallen waren, sich nun am Brunnengrund ihr Leben einrichteten und dabei glaubten, der Brunnen sei die ganze Welt.

Das letzte Haus, das schon ganz nah am Weg lag, war zu vermieten. Meistens waren es junge Eheleute mit Kindern, die am Wochenende hier die Natur suchten. Manchmal Verliebte. Es kam auch vor, dass verdächtige Typen sich dort einmieteten, die sich abends volllaufen ließen, die Nacht mit ihrem betrunkenen Gegröle erfüllten und dann bis mittags schliefen. Sie alle huschten wie Schatten durch unser Lufcug. Für eine Stippvisite. Das kleine, unpersönlich renovierte Haus gehörte dem reichsten Menschen in der Gegend, dessen Besitztümer in jedem Tal und auf jedem Hochplateau verstreut waren. Der Typ nannte sich Wnętrzak – und das war eben der zweite Fall, in dem der Name ganz von selbst zu seinem Träger passte. Angeblich hatte er das Haus wegen des Grundstücks gekauft, auf dem es stand. Angeblich kaufte er Grundstücke, um später einmal einen Steinbruch daraus zu machen. Angeblich war das ganze Hochplateau für einen Steinbruch geeignet. Angeblich leben wir hier auf einer Goldgrube, und das Gold heißt Granit.

Ich musste mich wirklich anstrengen, um den Überblick über das Ganze hier zu behalten. Dazu kam noch die kleine Brücke, ich musste nachsehen, ob sie noch in Ordnung war und ob das Wasser nicht die Stützen unterspülte, die bei der letzten Überschwemmung dazugebaut worden waren. Ob keine Hohlräume entstanden waren. Wenn ich meinen Rundgang beendet hatte, blickte ich mich noch einmal nach allen Seiten um, und eigentlich sollte ich froh sein, dass es das alles hier gab. Es hätte ja auch einfach nicht da sein können. Es hätte nur das Gras da sein können, große Büschel windgepeitschtes Steppengras und die Rosetten der Silberdisteln. So hätte es auch aussehen können. Oder überhaupt nichts – eine große Leere im kosmischen Raum. Vielleicht wäre das für alle sogar besser gewesen.

Wenn ich auf meinen Rundgängen über die Felder und das Brachland gehe, dann stelle ich mir gerne vor, wie das alles in einer Million Jahren aussehen wird. Wird es dann noch die gleichen Pflanzen geben? Und die Farbe des Himmels, wäre sie noch genauso wie heute? Werden sich die tektonischen Platten verschoben haben, und wird sich hier eine hohe Bergkette auftürmen? Oder würde hier ein Meer entstehen, sodass man in den träge schwappenden Wellen gar nicht mehr von einem »Ort« sprechen könnte? Eines ist sicher – die Häuser hier wird es nicht mehr geben. Meine Bemühungen hier sind so gut wie nichts, sie haben auf der Spitze einer Stecknadel Platz, so wie auch mein Leben. Das muss ich mir vor Augen halten.

Ein Stück weiter, wenn man unsere Umzäunungen hinter sich gelassen hatte, erschien die Landschaft wie verändert. Hier und dort ragten Ausrufezeichen in die Luft, wie eingeschlagene spitze Nadeln. Wenn mein Blick an ihnen hängen blieb, zitterten meine Lider, das Auge verletzte sich an diesen Holzbauten, die auf Feldern, auf Lichtungen und an Waldrändern in die Höhe schossen. Auf dem ganzen Hochplateau gab es acht Stück davon, ich kannte sie alle genau, denn ich tat mit ihnen dasselbe, was Don Quichotte mit den Windmühlen getan hatte. Sie waren aus über Kreuz genagelten hölzernen Bohlen zusammengezimmert, sie bestanden quasi aus lauter Kreuzen. Diese klobigen Gebilde hatten vier Beine, und auf diesen stand eine Hütte mit Luken oder Fenstern, aus denen geschossen wurde. Kanzeln. Schon immer hatte mich dieser Name irritiert und geärgert. Was für Lehren werden denn von diesen Kanzeln verkündet? Welches Evangelium? Ist das nicht der Gipfel des Hochmuts? Ist es nicht ein teuflischer Einfall, den Ort, von dem aus gemordet wird, Kanzel zu nennen?

Wenn ich eine von ihnen vor mir sehe, schließe ich die Lider so fest, dass die Umrisse verschwimmen oder das ganze Gebilde fast verschwindet. Das tue ich, weil ich ihre Gegenwart nicht ertrage. Doch es stimmt, dass einer, der begehrt und nicht handelt, die Pest brütet. Das sagt unser Blake.

Wenn ich so mit zusammengekniffenen Lidern vor einer Kanzel stehe, kann ich mich jederzeit umwenden, um die zackige, scharfe, haarfeine Linie des Horizonts zu sehen. Um über sie hinauszusehen. Dort ist Tschechien. Dorthin flüchtet die Sonne, wenn sie die Schrecknisse hier gesehen hat. Dort zieht meine Göttliche ihre Nachtbahn. Ja, so ist es, die Venus geht in Tschechien schlafen.

Die Abende verbringe ich so: Ich setze mich in der Küche an meinen großen Tisch und widme mich meiner Lieblingsbeschäftigung. Auf dem großen Tisch steht der Computer, den ich von Dyzio bekommen habe und in dem ich vorwiegend ein Programm benutze. Ich brauche dazu die Ephemeriden, einen Notizblock und einige Bücher. Dazu etwas Trockenmüsli, das ich bei der Arbeit esse, und ein Kännchen Schwarztee, der einzige Tee, den ich trinke.

Eigentlich könnte ich alles von Hand berechnen, und es tut mir sogar ein bisschen leid, dass ich es nie getan habe. Doch wer benutzt heute noch einen Rechenschieber?

Wenn ich jedoch einmal in der Wüste irgendein Horoskop berechnen müsste, ohne Computer, ohne Elektrizität und ohne irgendwelche Geräte, dann könnte ich das. Ich bräuchte dazu nur meine Ephemeriden. Sollte mich also je einer fragen (leider wird es niemand tun), welches Buch ich auf eine unbewohnte Insel mitnähme, wäre meine Antwort: Die Ephemeriden der Planeten. 1920–2020.

Es interessiert mich, ob man aus dem Horoskop eines Menschen sein Sterbedatum ersehen kann. Der Tod im Horoskop. Wie er aussieht. Wie er in Erscheinung tritt. Welche Planeten spielen die Rolle der Moiren? Hier unten, in der Welt des Urizen, gilt ein Gesetz. Vom Sternenhimmel bis hin zum moralischen Gewissen. Es ist ein strenges, erbarmungsloses Gesetz, das ausnahmslos gilt. Wenn es eine Ordnung der Geburten gibt, warum soll es dann nicht auch eine Ordnung des Todes geben?

Über die Jahre hinweg hatte ich eintausendzweiundvierzig Geburtstage gesammelt und neunhundertneunundneunzig Todesdaten. Und ich führe weiterhin meine kleinen Untersuchungen durch. Ein Projekt ohne EU-Gelder. Ein Küchenprojekt.

Ich dachte immer, Astrologie soll man durch Praxis lernen. Sie ist eine exakte Disziplin, in hohem Maße empirisch und genauso wissenschaftlich wie etwa die Psychologie. Sie erfordert die genaue Beobachtung einiger Personen in ihrer Umgebung und die Verknüpfung gewisser Momente in ihrem Leben mit der Stellung der Planeten. Man muss auch die Ereignisse, an denen verschiedene Menschen teilgenommen haben, überprüfen und analysieren. Ganz schnell wird man merken, dass ähnliche astrologische Muster ähnliche Ereignisse beschreiben. Das sind die Momente, in denen es zur Initiation kommt. O ja, eine Ordnung besteht und sie ist zum Greifen nahe. Sie wird von den Sternen und Planeten gebildet, wobei der Himmel die Schablone ist, die das Muster unseres Lebens vorgibt. Nach längeren Studien kann man hier auf der Erde aus kleinen Details die Lage der Planeten am Himmel herauslesen. Das Gewitter am Nachmittag, der Brief, den der Postbote in den Türspalt geklemmt hat, die kaputte Glühbirne im Badezimmer. Nichts kann sich der Ordnung entziehen. Auf mich wirkt das wie Alkohol oder wie eines dieser neuen Rauschgifte, die, so stelle ich es mir vor, den Menschen in pure Verzückung versetzen.

Man muss Augen und Ohren aufsperren, die Fakten miteinander verknüpfen. Man muss Ähnlichkeiten dort erkennen, wo alle anderen diametrale Unterschiede sehen. Man darf nicht vergessen, dass manche Dinge auf einer ganz anderen Ebene geschehen, oder anders gesagt, dass viele Ereignisse nur Aspekte ein und derselben Sache sind. Die Welt ist ein großes Netz, eine Ganzheit, und es gibt nichts, was nicht dazugehört. Auch das allerkleinste Stückchen Welt ist mit anderen verbunden, durch den komplizierten Kosmos der Korrespondenz, der mit normalem Verstand nicht leicht zu ergründen ist. So funktioniert das. Wie ein japanisches Auto.

Dyzio, der sich gerne weitschweifig über die seltsame Symbolik bei Blake auslässt, hat meine Leidenschaft für die Astrologie nie teilen können. Das kommt daher, dass Dyzio zu spät geboren ist. Seine Generation hat Pluto in der Waage, was ihr Gespür dafür etwas schwächt. Diese Menschen versuchen ein Gegengewicht zur Hölle zu sein. Ich glaube nicht, dass ihnen das gelingen wird. Vielleicht können sie Projekte und Anträge verfassen, aber die meisten von ihnen haben kein Gespür mehr.

Ich bin in einer schönen Epoche groß geworden, die leider schon vergangen ist. In ihr herrschte sowohl enorme Veränderungsbereitschaft als auch das Vermögen, revolutionäre Visionen zu entwickeln. Heute wagt es niemand mehr, etwas Neues zu denken. Alle sagen nur pausenlos, wie es ist, und spinnen die alten Gedanken weiter. Die Realität ist alt und mürrisch geworden, schließlich unterliegt sie definitiv den gleichen Gesetzen wie jeder lebendige Organismus – sie altert. Ihre kleinsten Bestandteile – die Sinne – unterliegen der Apoptose ebenso wie die Körperzellen. Die Apoptose ist ein natürlicher Tod, der durch Materialermüdung und -abnutzung entsteht. Im Griechischen bedeutet das Wort das »Abfallen der Blätter«. Der Welt sind die Blätter abgefallen.

Doch danach muss etwas Neues kommen, so ist es immer gewesen – ist das nicht ein komisches Paradoxon? Uranus steht in Fische, und wenn er in den Widder wechselt, dann beginnt ein neuer Zyklus und die Realität wird wiedergeboren. Im übernächsten Frühling.

Ich habe immer sehr gerne die Horoskope studiert, selbst dann, als ich die Ordnungen des Todes entdeckte. Die Bewegung eines Planeten hat etwas Hypnotisches und Schönes, man kann sie weder anhalten noch vorantreiben. Es ist gut zu denken: Diese Ordnung geht über die Zeit und den Ort von Janina Duszejko hinaus. Es ist gut, sich vollkommen auf etwas verlassen zu können.

Also: Um den natürlichen Tod zu bezeichnen, überprüfen wir die Position des Hyleg, also desjenigen Himmelskörpers, der für uns aus dem Kosmos die Lebensenergie zieht. Bei tagsüber stattfindenden Geburten ist es die Sonne, bei Nachtgeburten der Mond, und in einigen Fällen regiert der Aszendent den Hyleg. Der Tod tritt üblicherweise dann ein, wenn der Hyleg einen radikal unharmonischen Aspekt vom Herrscher des Achten Hauses oder des darin liegenden Planeten erreicht.

Wenn ich an die Bedrohung durch einen gewaltsamen Tod denke, muss ich den in diesem Haus platzierten Hyleg, sein Haus und seine Planeten in Betracht ziehen. Ich achte dabei darauf, welcher der schädlichen Planeten – Mars, Saturn oder Uranus – stärker ist als der Hyleg und mit ihm zusammen einen ungünstigen Aspekt bildet.

An diesem Abend setzte ich mich an die Arbeit und zog das zerknüllte Blatt Papier aus der Tasche, auf das ich mir die Daten von Bigfoot notiert hatte, um zu überprüfen, ob sein Tod ihn zur rechten Zeit heimgesucht hatte. Als ich sein Geburtsdatum eingab, bemerkte ich, dass ich dieses auf ein Blatt aus einem Jagdkalender geschrieben hatte. Die Seite hieß »März«, und in einer Tabelle waren darauf die Figuren der Tiere gezeichnet, die man im März jagen durfte.

Auf dem Bildschirm vor mir sprang das Horoskop auf und fesselte meinen Blick eine ganze Stunde. Zuerst besah ich mir den Saturn. Der Saturn im fixen Zeichen weist nicht selten auf einen Tod durch Ersticken, Erwürgen oder Aufhängen hin. Zwei Abende lang plagte ich mich mit dem Horoskop von Bigfoot. Dann rief Dyzio an, und ich musste ihn davon abbringen, mich zu besuchen. Sein alter, wackerer Fiat polski wäre in dem Schneematsch stecken geblieben. Nein, Dyzio, diese Seele von Mensch, sollte bei sich daheim im Arbeiterwohnheim Blake übersetzen. Er sollte in der Dunkelkammer seines Geistes polnische Sentenzen aus englischen Negativen hervorholen. Es wäre besser, wenn er am Freitag käme, dann könnte ich ihm alles erzählen und ihm zum Beweis die präzise Ordnung der Sterne präsentieren.

Ich muss aufpassen. Inzwischen wage ich es, zuzugeben: Ich bin keine gute Astrologin, leider. Mein Charakter hat einen Schwachpunkt, der das Bild der Planeten verschleiert. Ich betrachte sie durch meine Angst hindurch, obwohl es den Anschein hat, als sei ich ein heiterer Mensch, was mir von den Leuten naiv und einfältig attestiert wird. Ich sehe alles wie in einem schwarzen Spiegel, wie durch eine beschlagene Scheibe. Ich betrachte die Welt so wie andere Menschen eine Sonnenfinsternis betrachten. Dabei sehe ich eine Erdfinsternis. Ich sehe, wie wir blind im ewigen Dunkel herumtappen, wie Maikäfer, die von einem grausamen Kind in einer Schachtel gefangen gehalten werden. Es ist leicht, uns Schaden und Leid zuzufügen, unser kunstvoll zusammengefügtes, wunderbares Dasein in Stücke zu schlagen. Das alles ist in meinen Augen anormal, schrecklich und bedrohlich. Ich sehe nur die Katastrophen. Doch wenn schon am Anfang der Untergang steht, kann man dann noch tiefer fallen?

Jedenfalls kenne ich das Datum meines eigenen Todes, und daher fühle ich mich frei.

Gesang der Fledermäuse

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