Читать книгу Katholisch...oder? - Oliver Grudke - Страница 10
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Der Nachmittag verlief schleppend und trotz des Bieres fühlte sich Alex nicht so richtig auf der Höhe. Er hatte den starken Verdacht, dass eine Grippe oder seine jährliche und wirklich verhasste Bronchitis im Anmarsch waren.
Egal, beides wäre nicht gut. Dazu kam, dass er heute wieder keinen Sex haben würde, da er ja noch in eine Kirche musste und sich deshalb nicht verabreden konnte. Zu allem Überfluss hatte Tina heute, gerade heute, eine Stunde früher Feierabend gemacht.
Natürlich hatte sie mehr als genug Überstunden, aber er fühlte sich komisch allein. Die Anliegen der zwei Nachmittagspatienten hatte er gar nicht wahrgenommen und seine Standardsprüche aufgelegt.
Endlich, der Letzte war weg und nun war es sehr ruhig. Zu ruhig für ihn, zumindest heute. Auch war es an einem so trüben Tag bereits nach 15 Uhr dunkel geworden. Er als Psychiater wusste, was dies für die Psyche bedeuten konnte. Trübsal!
Doch eigentlich war er immun dagegen. Doch nicht heute! Es kribbelte ihn am ganzen Körper als versuchte sich sein Geist gegen das drohende Unheil zu stemmen. Melancholisch sah er zur Uhr, welche über dem Arbeitsplatz von Tina bereits 18.05 Uhr anzeigte.
„Gut, dass ich doch die vier Maultaschen genommen habe!“, dachte er, als er sich innerlich von einer guten schwäbischen Vesper verabschiedete. Er warf die Fließjacke über und wollte gerade aus der Praxis rennen, als ihm auffiel, dass er ja das Wichtigste vergessen hatte:
Sein Gotteslob!
Er wollte aus keinem anderen Buch den Lieder folgen, singen konnte man seine Aneinanderreihung von Lauten wahrlich nicht nennen. Dr. Kanst war der Inbegriff eines unmusikalischen Menschen. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, zumindest so zu tun, als sänge er. Aus seinem Buch! Aus seinem weinroten Gotteslob mit Goldschnitt. Auch wenn es diesen ja eigentlich nicht mehr gab, seit es vor vielen Jahren einmal darüber geregnet hatte.
Egal, es war sein eigenes, dass er von seiner Mutter zu seiner ersten heiligen Kommunion geschenkt bekommen hatte. Darin bewahrte er alle Bildchen auf, die man so im Laufe der Jahre, vor allem bei Beerdigungen, als Erinnerung bekommen hatte.
Das Gotteslob lag immer in der obersten rechten Schublade seines Schreibtisches.
„Himmelherr …!“ Gerade konnte er noch einen Fluch unterdrücken. Eigentlich hasste er ja das Fluchen, doch ab und an entglitt auch ihm einer der schönsten schwäbischen Flüche, wofür er sich aber immer sofort danach hasste. Auch wäre ein Fluch vor einem Kirchenbesuch sicher nicht das Richtige.
Kein Gotteslob im ganzen Schreibtisch. Irgendjemand, also Tina, musste mal wieder aufgeräumt haben, und da er dieses Gotteslob ja vielleicht vor, ja sagen wir mal, zehn Jahren gebraucht hatte, war es jetzt „aufgeräumt!“
Sehr missmutig trabte Dr. Kanst am Tresen vorbei, wo die Uhr bereits 18.18 Uhr zeigte, als das Telefon klingelte.
„Geschlossen!“, rief er, als könnte dies der Anrufer hören. Doch das konnte dieser nicht und das Telefon hörte auch nicht auf zu läuten. Tina hatte vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten.
Gut, dann ließe er es halt klingeln, wenn, ja wenn da nicht seine Neugierde wäre:
„Praxis Dr. Kanst!“
„Hallo!“
„Hallo!“
„Du bist ja echt schwer zu erreichen, wo bist du nur?“
„In der Praxis, du hast ja die Nummer gewählt!“
„Ja, ich meine gestern!“
„Nicht in der Praxis, da war ja Sonntag!“
„Ja, aber in Onstmettingen warst du auch nicht, bist ja nicht an das Telefon gegangen!“
„Ich bin in Eile!“
„Immer bist du in Eile! Hast du noch Patienten?“
„Nein, aber …“
„Ja dann hast du doch fünf Minuten Zeit für deine Mutter!“
„Mama, was gibt es?“
„Ich wollte nur fragen, wie machen wir es?“
„Was?“
„Ja, du weißt doch, wie wir es das letzte Jahr gemacht haben, also wie machen wir es dieses Jahr?“
„Wa-as?“
„Na das mit dem Heiligen Abend! Wir wären dann bei deinem Bruder!“
„Gut, dann wissen wir ja jetzt, wie wir es machen!“
„Aber bist du dann nicht allein?“
„Nein, bestimmt nicht!“
„Dann hast du wieder eine feste Freundin, ja! Bringst du diese mit, wenn wir am ersten Weihnachtsfeiertag essen gehen?“
„Wir gehen essen?“
„So haben wir es doch immer gemacht!“
„Gute Nacht, Mama!“ Alex hatte aufgelegt. Die Uhr zeigte 18.38 Uhr.
„Himm … mmmmmmm!“ Dr. Kanst unterdrückte abermals einen Fluch und rannte, da ihm der Glasaufzug zu langsam erschien, die Treppe hoch. Rechts neben der Penthouse-Wohnung befand sich das Archiv. Dort vermutete er sein Gotteslob. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er auch den passenden Schlüssel gefunden und aufgeschlossen.
Da! Da lag es, Gott sei Dank noch nicht archiviert. Jetzt schnell die Praxis schließen und dann los, er musste ja zu Fuß gehen, wegen dem Bier und den Grundsätzen.
Licht aus, Tür zu: Halt! Er hatte mit dem Hauptschalter das Licht in der ganzen Praxis ausgeschaltet, doch etwas leuchtete noch in Blau! Schnell machte er das Licht wieder an und da sah er das Problem. Darth Vader alias Arsi stand auf dem Tresen, umrahmt von fünf blauen Kerzen. Tina hatte vergessen, diese auszumachen, oder?
Stand die Figur nicht noch vorhin hinter dem Tresen unter der Uhr? Und da brannten doch keine Kerzen, oder? Er war nur kurz oben und hatte die Tür zur Praxis offengelassen.
Egal, die Haustür war ein Wunderwerk der Sicherheit. Also löschte er die Kerzen und knipste das Licht aus. Darth Vader ließ er stehen, bis morgen! Dann müsste er darüber diskutieren, was zu tun ist. Er möchte natürlich keine Heiligenfigur auf dem Tresen, aber er respektierte Tina sehr und deshalb wollte er keine Entscheidung über ihren Kopf hinweg treffen.
Es war 18.45 Uhr, als er auf den Kirchplatz durch die große Glasfront des alten Fachwerkhauses trat.
Nebel und ein kalter Hauch, als wäre es der Atem des Todes, schlugen ihm ins Gesicht. Instinktiv zog er den Reisverschluss seiner Fließjacke bis nach oben zu und setzte sich eine Fließmütze auf. Er musste sich jetzt sputen. Rechts am Rathaus vorbei, die Treppe runter, dann kurz am alten Schloss vorbei durch den unteren Turm und dann die Steige hinunter. Als er keuchend an der Johannesbrücke stand, traute er seinen Augen nicht:
Die Spittel Kirche lag im Dunklen!
Dennoch parkten überall, und wie er feststellte kreuz und quer, Autos. Jetzt war er schon fast froh, dass er ein Bier getrunken hatte, sonst wäre er bestimmt auch gefahren. Doch einen Parkplatz hätte er wohl nur in seiner Tiefgarage gefunden.
Dr. Kanst war verwundert: Es war ein Montag in einer normalen Werktagewoche in Hechingen, wo alle „normalen schwäbischen“ Menschen zur Arbeit gingen und danach auf die Couch und hier sah er eine Masse an Menschen in eine dunkle Kirche strömen. Und dass, obwohl die katholische, aber auch die evangelische Kirche ständig über angeblichen Mitgliederschwund klagten. Dies traf jedenfalls nicht auf Hechingen zu.
BB, RV, RT, TÜ, RW, Dr. Kanst las die Autokennzeichen, als er sich durch die parkenden Wagen zwängte.
Fest stand, es waren nicht nur Hechinger in der Kirche, wenn überhaupt. Es musste etwas Besonderes sein. Dr. Kanst blieb stehen und faltete seinen zerknüllten Flyer aus. Dort stand:
„Immer am 23. jeden Monat: ARSI-TAG im Spittel Hechingen - Komm auch DU!“
Das mulmige Gefühl, das ihn schon den ganzen Tag begleitet hatte, wurde stärker. Ob es an der Tatsache lag, dass er Jahre keinen Gottesdienst mehr besucht hatte. Die Heiligen Abende ausgenommen.
Dr. Kanst überquerte die Straße und reihte sich in die kleine Schlange ein, welche sich durch die Seitentür der Kirche zwängte.
Ein sehr dicker Mann mit hochrotem fleischigem Kopf stand wie ein Security-Mitarbeiter an der Tür und hielt diese auf. Offensichtlich kannte er die meisten Besucher, da er fast alle mit einem Handschlag begrüßte.
„Komm schnell rein, gleich geht es los!“ Dr. Kanst bekam auch einen ekligen feuchten Händedruck und einen kleinen Klaps auf die Schulter.
Kannte dieser Mann ihn? Er konnte sich jedenfalls an diesen nicht erinnern, und doch wurde er mit „du“ angesprochen.
Der Innenraum der Kirche war dunkel. Überall auf den Bänken standen kleine blaue Teelichter und auch vorne rechts leuchtete etwas Blaues. Es gab fast keinen Platz mehr und dies unter der Woche!?
Ganz hinten, in der zweitletzten Bank ganz außen rechts bekam er noch einen Platz. Als er sich setzte, bemerkte er, dass es wohl doch eher ein halber Platz war. Die ältere Frau neben ihm kaute und schmatzte an einem Menthol Hustenbonbon herum. Ein ekliger Geruch von Menthol und cremigen Salben benebelte seine Sinne.
Was tat er hier?
„Rita!“, schoss es ihm durch den Kopf und dann trat er auch schon aus der Bank und ging zielsicher auf den Beichtstuhl zu, welcher rechts am Kirchenschiff in die Wand eingelassen war. Wann war er zum letzten Mal bei der Beichte? Bei seiner Kommunion? Wahrscheinlich, ja! Halt, da gab es ja noch etwas …
„Firmung! Genau, dort war ich das letzte Mal!“ Diesen Satz sprach Alex unkoordiniert und schon etwas laut vor sich hin, was ihm ein Allseitiges „Pssssst!“ einbrachte.
Instinktiv senkte er den Kopf, als würde dies ein Zeichen für Reue und Demut sein. Er überlegte, was man wohl bei einer Beichte tun musste. Da gab es Regeln! Ja genau und nun war er schon etwas stolz. Denn in seinem weinroten Gotteslob befand sich noch immer der Beichtspiegel! Ein kleines Heftchen, wo genau beschrieben war, wie eine Beichte abzulaufen hatte.
Jetzt stand er am Beichtstuhl, welcher aber keine Klinke hatte. Sollte er? Konnte er? Was, wenn da noch jemand drin war seine Sünden erklärte. Dr. Kanst suchte die Tür ab nach einem „Frei“- Zeichen oder so was ähnliches. Nichts! „Also dann!“, dachte er und wollte gerade an der Tür ziehen, wo in sehr schlechter Schrift ein Zettel klebte: Heute Beichte“, als er hinter sich wieder ein „Psst“ hörte.
Er hatte ja nichts gesagt also konnte dies nicht ihm gelten.
„Psst, he!“ Er drehte sich um und blickte in die verweinten Augen einer sehr dicken Frau. Diese deutete auf die zweite Reihe vor ihr und flüsterte:
„Hinten anstellen!“
Nun blickte auch der Psychologe in diese Richtung. Meinte die Frau etwa? Nein, dies konnte nicht sein! Sicherlich nicht!
„Entschuldigung, bitte?“ Dr. Kanst hatte sich etwas zu ihr heruntergebeugt und konnte nun schon wieder einen Geruch von Menthol wahrnehmen.
„Hinten anstellen! Zuerst diese Reihe, dann die vor uns und dann die erste!“, zischte nun diese und schaute weiterhin starr an den rechten Rand des Triumphbogens, welcher das Kirchenschiff und den Chorraum trennte.
Dr. Kanst traute seinen Augen nicht. Das mussten mindestens 75 bis 80 Menschen sein, die hier auf die Gelegenheit zum Beichten warteten. Plötzlich bekam er die Tür zum Beichtstuhl in den Rücken gestoßen. Ein älterer weißhaariger Mann zwängte sich mit ebenfalls verweintem Gesicht aus dem Beichtstuhl. Dann wurde er von der Dicken, Alten in die andere Richtung geschubst, als diese sich an ihm vorbei in den Ort der Sündenreinigung zwängte.
„Sehr christliches Verhalten“, dachte noch Alex, als ein lauter Gong durch die Kirche klang und gleichzeitig ein Beamer blaues Licht auf eine Leinwand strahlte.
„Ein Beamer in der Kirche?“
Als das Geräusch verklang, reckten plötzlich alle ihre Arme in den Himmel und in einem dumpfen Dröhnen riefen nun alle: „Aaaaaaaarrrrrrrrsiiiiiiii!“
Und tatsächlich, vorne, wo eigentlich die Statue der heiligen Maria immer stand, protzte jetzt eine lebensgroße Gipsstatue von Darth Vader alias Arsi.
„Komm glei goat´s loß. Do sitz de na. I han dr no an Platz!“, sagte nun der dicke Türsteher auf tiefem Schwäbisch und Alex wurde in die fünfte Reihe von vorne platziert. Direkt am Mittelgang.
Eigentlich hatte er beschlossen, die Kirche zu verlassen. Rita hin oder her. Morgen war ja auch noch ein Tag, aber jetzt wurde es schwer, mitten im beginnenden Gottesdienst demonstrativ die Kirche zu verlassen.
Dafür hatte er nun einen ungehinderten Blick auf die Leinwand, welche Bilder von der „Arsiwallfahrt 2015“ zeigte. Menschenansammlungen, Tränen, Gipsfiguren und jede Menge Priester. Alex Kanst fragte sich, wie man seinen Urlaub an einem solchen Ort verbringen konnte. Die Bilder wurden von melancholischer Musik aus einem CD-Player untermalt.
Am rechten Rand des Triumphbogens rückten nun zwei Musikerinnen, die eine eindeutig eine Asiatin, mit Gitarren ihre Stühle zurecht. Offensichtlich gab es noch Live-Musik, und dies nicht wie üblich von der Orgel.
Eine kleine Glocke über dem Eingang zur Sakristei verkündete den Beginn, und wie üblich in einer katholischen Kirche, standen die Gläubigen auf, auch Alex. Der Priester, oder besser gesagt die Priester, es waren nämlich drei, betraten durch den Eingang der Sakristei das Kirchenschiff und machten vor dem Tabernakel eine Kniebeuge, bevor sie sich alle einen Platz suchten. Es waren zwei Afrikaner und der eine, der am Sonntag bei Alex die Erotik zum Einfrieren gebracht hatte. Ministranten gab es nicht. Sicherlich, die mussten ja zur Schule und sollten jetzt dann bald auch im Bett sein. Plötzlich kam noch einer aus der Sakristei. Dieser Mann war nun schon eher hager, aber größer als die anderen. Er trug eine graue Kutte und hatte seine Schärpe quer über dem Körper.
Nach anfänglichem Geklimper begann nun die Asiatin in fast schreiendem Ton mit Gesang:
„Nur du bist meine Mutter, du, nur du …“, sang diese vor und alle lautstark mit. Der Inhalt der ersten Strophe war mit den drei oder vier Worten schon erledigt, sodass die Strophe immer wieder von Neuem angestimmt wurde. Plötzlich sangen alle in einer fremden Sprache, doch die Melodie blieb gleich.
Dann Stille!
Der weiße Priester nickte dem Mann in der grauen Kutte zu. Andächtig schritt dieser auf den Hochaltar zu, nickte kurz und trat dann an das Ambo.
„Im Namen des Vater, des Sohnes und des Heiligen Geistes!“, begann dieser in das knisternde Mikrofon hineinzurufen.
„Nun ist es schon wieder einen Monat her, dass wir uns hier versammelt haben. Lasst uns nun gemeinsam diesen Gottesdienst feiern. Im Anschluss werden wir noch das Allerheiligste aussetzen und es besteht noch die Möglichkeit, bis 21.00 Uhr im stillen Gebet bei Gott und unserer Arsi zu verweilen.“
„Bis 21.00 Uhr! Ja nie!“, dachte Alex und erwog verschiedene Möglichkeiten, die Kirche zu verlassen.
Das nächste Lied wurde angestimmt und Dr. Kanst bemerkte, dass man heute wohl kein Gotteslob mehr benötigte, denn die Lieder wurden einer Karaoke Box gleich über den Beamer angezeigt.
Der Rest des Gottesdienstes verlief eigentlich so, wie er den Ablauf eines katholischen Gottesdienstes in Erinnerung hatte. Und da er ja ganz außen saß und alle hätten über ihn drübersteigen müssen, und es ja auch nicht schaden konnte, ging er auch zur Kommunion. Im Gegensatz zu Alex nahmen fast alle anderen die Hostie wie in uralten Zeiten mit der Zunge entgegen. Er nahm die Hand: „Alles andere wäre ja ekelhaft!“, dachte Alex.
Alle Gläubigen gingen zur Kommunion und dieses zog sich ewig hin. Damit es nicht so still war, trällerte die Asiatin die ganze Zeit selbsterfundene Lieder von irgendeiner Mutter. Plötzlich berührte ihn eine Hand. Alex blickte auf und schaute in die leuchtenden und funkelnden Augen von Tina. Welche ihm verrieten, dass sie stolz war, ihn auch hier zu sehen.
Nun war alles klar. Das war der Grund - Tina musste zum Arsi-Tag. Und jetzt fiel es ihm auch auf, dass sie jeden Monat einmal früher losmusste. Er hatte dieser Tatsache nie eine Bedeutung beigemessen, doch nun lief es ihm eiskalt den Rücken herunter.
Tina bei der Arsi-Familie!? Warum nicht! Es war etwas sonderbar, aber eigentlich doch nur ein katholischer Gottesdienst. Vielen seiner Patienten, welche allein waren, gab er oft den Rat, Halt in der katholischen Gemeinschaft zu suchen.
Noch wusste Alex Kanst nicht, wie sehr er dies eines Tages bereuen würde!
Die Kommunion war vorbei und eigentlich auch der Gottesdienst, normal. Doch nicht bei der Arsi-Familie. Zwei Männer aus der zweiten Bank traten nun in den Chorraum und verschwanden in der Sakristei. Als diese zurückkamen, trugen sie eine riesige Monstranz. Diese war fast zwei Meter groß und selbst zu zweit schafften sie es nicht.
„In Afrika verhungern Menschen und hier …“, dachte Dr. Kanst, als der Priester eine Hostie in der Größe eines Kuchentellers einlegte.
Alex Kanst stand auf und ohne Wenn und Aber verließ er die Kirche, die Arsi-Familie und den Kuchenteller.
Als er vor die Kirche trat, hatte sich der Nebel verstärkt und da er ja in der Kirche seine Jacke angelassen hatte, begann er zu frösteln.
Still, menschenleer und ruhig sind die Abende im November in Hechingen. Er beschloss, denselben Weg zurückzugehen wie er gekommen war. Dann musste er halt morgen noch einmal in dieses Pfarrbüro. Rita wegen! Er hatte es versprochen. Jetzt war er richtig erschöpft und Heim wollte er auch noch nicht. Zeit für „Jimmy´s Eck“
Warm und heimelig war es, als er die Kneipe im Stile eines englischen Pubs in der Seitenstraße des Marktplatzes betrat. Nur wenige Gäste waren hier, es war ja auch Montag.
„Hey, Alex! Später Feierabend?“, begrüßte ihn Jimmy. Jimmy war Brite durch und durch und vermischte das erlernte Schwäbisch mit einen Oxfordakzent. Er war klein und trug stets eine Fliege. Der Bereich hinter dem Tresen, welcher fast durch die ganze Kneipe ging, war erhöht und so merkte kaum jemand, dass Jimmy so klein war.
„Ja und nein!“, sagte Alex.
„Ha, jetzt du machst mich neugierig, well!“
„Export?“
„Doppelbock!“, konterte Alex, der alle zwanzig Biersorten bei Jimmy liebte.
„Well done! Es muss sein schwer heute!“
„Heute und gestern!“ Alex nahm einen großen Schluck des dunklen Weizenbieres mit 9 % Alkoholanteil.
„Gestern war Sonntag! Es ist doch dein heiliger Tag!“
„Oh Jimmy, mit heilig kannst du mir gestohlen bleiben!“, sagte Alex, als ihm das blaue Leuchten oberhalb des Schildes für Oxford Pints auffiel. Alex stand von seinem Hocker auf, ging den Tresen entlang und da hing es an der Wand:
Darth Vader oder vielmehr eine weiße Arsi-Figur mit einem blauen LED-Lämpchen beleuchtet.
„Jimmy, was ist das?“
„Ha, meine neueste Errungenschaft. Irgendeine Heilige, müsstest du doch besser wissen. Ich bin ja nicht der Katholik unter uns.“ Jimmy lachte.
„Ja, ich weiß wer das ist, aber warum hast du eine solche Figur hier hängen?“
„Ja wegen dem Dicken, warte, wie heiß der noch?“ Jimmy fingerte an seinem Bierdeckel herum, als wenn dort eine Antwort zu finden wäre.
„Was für einem Dicken?“
„Na dem!“ Jimmy drehte den Bierdeckel von Dr. Kanst um. Dort stand in bunten Buchstaben: Adalbert Werbetechnik.
„Also ehrlich, Jimmy, folgen kann ich dir immer noch nicht!“, sagte Alex und leerte sein Weizenbier in einem Zuge.
„Noch eins?“ Jimmy grinste und Alex Kanst nickte.
„Ja, also von denen habe ich ja alles, mein Schild, die Bierdeckel und auch die Werbung unten am Highway!“
„Gut, viele, ja die meisten sind Kunde bei denen! Ich verstehe nicht, was das mit Darth Vader zu tun hat?“
„Mit Darth Vader?“ Jimmy runzelte die Stirn.
„Hmm, findest du nicht, dass die Figur mit der Kapuze fast so aussieht?“
„Hahahahahah! Ja, jetzt wo du es sagst! Hahahaah!“ Jimmy hatte vor Lachen Tränen in den Augen.“
„Also, die Firma Adalbert hat dir die Figur aufs Auge gedrückt?“
„Hmm, ja, nicht so ganz. Kürzlich war der alte Adalbert hier, und echt, der kann ganz schön was saufen. Und da hat er angefragt, ob er nicht regelmäßig mit einer Gruppe hier aufschlagen könnte. Ja, so alle vier Wochen mit vierzig Leuten. Glaubst du, da habe ich nein gesagt?“ Jimmy zeigte auf die fast leere Kneipe.
„Klar das ist okay! Aber Darth?“
„Ja, das war komisch. Er meinte, er sei sehr gläubig und der Gruppe würde es Halt geben, wenn das da hier hängen würde! Hey Alex, hier hängt so viel, da kommt es darauf nicht an, aber Gäste sichern dir deine Kneipe!“
Alex nippte an seinem zweiten 9-%-Weizen und dachte nach: „Gläubig!?“ Von dem, was er so wusste, ließ dieser Typ nichts anbrennen und zog jeden und alles über den Tisch. Hoffentlich nicht Jimmy.
Auf eine dritte Runde ließ er sich nicht ein, da es ja Montagabend war, noch! Er zahlte und gab Jimmy ein üppiges Trinkgeld. Danach zog er seine Fließjacke an und zog den Reisverschluss bis ganz nach oben zu.
Der Nebel war noch dicker geworden und es hatte begonnen fein zu nieseln. Irgendwie erinnerte dies Dr. Kanst an einen Film von Edgar Wallace.
Langsam und schon leicht beschwipst wankte er durch die Gasse über den Marktplatz. Er würde nun den Seiteneingang mit dem Glasaufzug für Bewohner zu seinem Penthouse nehmen. Als er gerade um die Ecke seiner Praxis bog, blieb er wie versteinert stehen. Im dicken Nebel schimmerte es „Blau!“
Leise fluchte der Psychologe: „Schon wieder Darth!“, dachte er und seine Stirn war schon sehr sorgenvoll. Als er näherkam, begann er laut zu lachen.
Die Hausverwaltung hatte direkt neben dem Seiteneingang bereits einen Christbaum aufgestellt. Natürlich wurde dieser in modischem Blau beleuchtet.
Erst als er die Haustür hinter sich zu fallen gelassen hatte und die automatische Beleuchtung im Flur anging und somit das Blaue vertrieb, bemerkte er, dass ihm Schweißtropfen von der Stirn fielen.
Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Ganz und gar nicht. Er hatte ein Gefühl der Beklommenheit, ja fast schon eine Panikattacke aufgrund blauer Beleuchtung.
Seine Gedanken kreisten und in Verbindung des sehr guten Bieres von Jimmy spielte ihm sein Unterbewusstsein immer das Lied aus der Kirche vor „…. nur du, du, du bist meine Mutter“.
„Ja, seine Mutter! Morgen musste er, ob er es wollte oder nicht, die Weihnachtstermine festlegen!“, dachte Dr. Kanst und merkte nicht, dass ihm sein sehr ausgeprägter Geruchsinn auf einen fremden und sonst nicht anwesenden Geruch im Treppenhaus hinwies.
Er steckte den Schlüssel in den Glasaufzug und schlüpfte dann hinein. Mit sehr leisem Summen stieg er empor zu seinem Penthouse.
Als Alex aus dem Aufzug stieg, meldete sich sofort wieder sein Geruchsinn und dieses Mal drang die Meldung bis zu seinem Gehirn durch. Ein bekannter und doch an diesem Ort fremd wirkender Geruch erfüllte den Flur. Dies war eindeutig ein starker Rosenduft. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich, doch bevor er sich umdrehen konnte, legte sich eine Hand von hinten auf seine Augen.
„Ahhh!“, schrie Alex und drehte sich mit einem wilden Ruck um. Bereit, sich zu verteidigen.
„Hi, Alex! Du bist ja sehr schreckhaft!“, sagte Rita und stand in einem engen roten Mantel, welcher nur kurz über ihre Knie reichte, vor dem Psychologen.
„Rita! Ja, ich, ähm, also heute, wie kommst du herein?“, stammelte Dr. Kanst und wischte sich neue Schweißperlen von der Stirn.
„Butlu, die Putzfrau unten in der Südwestbank, hat mich hereingelassen! Ja, aber sag mal, willst du mich nicht hereinbitten? Hier ist es jetzt doch ziemlich kühl!“
„Ja. Natürlich!“ Alex schloss auf und betätigte gleichzeitig eine Zahlenkombination. Wieder eine Idee seines Elektrikers.
„Bitte!“ Mit einer Geste ließ er Rita den Vortritt. Kaum im großen Wohnzimmer des Penthouses ließ Rita ihren roten Mantel fallen und sie trug darunter nur halterlose Strümpfe, ihren silberfarbenen String und einen in Farbe dazu passenden BH.
„Ich muss mich doch noch bei dir bedanken, dass du mit unserem Pfarrer geredet hast!“ Rita lächelte und Alex schluckte trocken und schloss die Tür hinter sich.
„Mitten unter der Woche?“, sagte Alex verblüfft und öffnete eine Flasche Sekt.
„Mitten unter der Woche! Oder waren wir fertig?“
„Sicher nicht!“ Alex lächelte und küsste Rita auf die Wange.
„Und die Kinder?“
„Sind bei meiner Schwester! Haben eine große Höhle aus all den Bettlaken gebaut!“
„Gut! Dann haben wir Zeit!“
„Bis morgen um 5 Uhr!“ Rita legte ihre Arme um den Hals von Dr. Kanst, als es plötzlich gegen die Wohnungstür hämmerte.
„Erwartest du noch mehr Besuch?“ Rita stöckelte zur Couch.
Besuch? Nachts? In seinem Penthouse? Sicherlich nicht. Alex Kanst schüttelte den Kopf und wollte gerade Rita zur Couch folgen, die es sich dort gemütlich machte.
„Dr. Kanst! Bitte machen Sie auf! Wir wissen, dass Sie da sind! Bitte, es ist sehr dringend!“
„Du scheinst ein sehr gefragter Mann zu sein!“ Rita lächelte und hatte plötzlich ihren silbernen String an ihrem Zeigefinger baumeln.
Missmutig trottete nun der Psychiater zu seiner Tür. Langsam begannen sich nun auch seine Gedanken und ein Gefühl der starken Vorsicht durch die Nebel des von den zahlreichen Doppelbockweizen verursachten Chaos in seinem Gehirn einen Weg zu bahnen.
Jemand war um viertel nach zwei vor seiner Tür. Obwohl das Penthouse schwer gesichert war: Pin und Schlüssel für den Aufzug. Karte für den Eingang an der Seite.
Und doch, da hämmerte jemand an seine Tür. Was ja nicht sein konnte, aber Rita stand ja auch im Treppenhaus.
„Sicherlich Butlu! Morgen musste er unbedingt mit ihr reden. So geht es ja nicht!“, dachte Dr. Kanst und wollte gerade nachsehen, wer da immer noch gegen seine Tür hämmerte. Eine Klingel gab es nur unten am Eingang, natürlich mit Videoüberwachung! Doch jetzt stand er vor einem Riesenproblem. Hier gab es keine Videoüberwachung und er besaß nicht einmal einen Türspion. Natürlich könnte er jetzt auch zur Sicherheit die Polizei holen.
Natürlich gab er dieser Option nicht den Vortritt. Er scheute die Presse ja normalerweise nicht. Doch mit so einer Aktion würde natürlich die Schlagzeile in seiner ansonsten sehr geliebten Hohenzollerischen Zeitung bestimmt auf Seite 1 erscheinen mit Titeln wie: „Nächtlicher Polizeieinsatz bei berühmtem Psychologen“, oder „Versuchter Einbruch bei Dr. Alex Kanst erfolgreich vereitelt!“
Und dazu kam ja noch, dass Rita gerade ohne String nachts auf seiner Couch lag. Und wie Verschwiegenheit bei der hiesigen Polizei aussah, das hatte er ja gerade in diesem Sommer erlebt.
Alex Kanst griff nach dem Schirm, der rechts hinter der Tür stand, atmete tief ein und legte seine linke Hand auf die Klinke, als er plötzlich diesen stechenden Schmerz in seiner Schulter bemerkte. Kurz, doch sehr intensiv, flackerten die Erinnerungen an den Sommer wieder auf und die alte Schussverletzung aus diesem Fall warnte eindringlich zur Vorsicht.
Alex Kanst drückte die Klinke nach unten.
Jetzt war er mit seinen 1,90 m natürlich nicht klein. Ebenso taten die Arbeiten als Forstunternehmer ihr Übriges zu einer passablen Ausstattung mit Muskeln im Oberkörper. Doch all dies würde ja gegen Kugeln nicht helfen.
„Hey, Alex! Mir wird kalt!“, schrie Rita aus der Couchecke.
Mit einem Ruck war die Tür nun auf und Alex wurde bereits durch einen eintretenden, gut beleibten Mann auf die Seite geschoben. Doch dies war nicht der eigentliche Grund, der ihm fast die Luft zum Atmen nahm. Nein, es war die Kleidung des ungebetenen Gastes.
Eine schwarze Robe mit purpurnen Knöpfen und einer passenden Schärpe. Ebenfalls trug dieser eines dieser komischen purpurfarbenen Caps.
„Na endlich! Kommen wir zum Geschäft!“, befehligte der Mann in kirchlicher Kleidung.
Nun begannen die Gedanken im Gehirn von Dr. Kanst wieder wild zu purzeln.
„Ein Bischoff? Mitten in der Nacht in seinem Penthouse?“
„Iiiiii!“
„Rita!“
Doch Rita war schneller und hatte sich bereits ihren Mantel übergeworfen. Sie hatte einen hochroten Kopf und dennoch war der Blick, den sie Alex beim Hinausstöckeln zuwarf, kühler als die Luft in dieser Nacht auf dem Kirchplatz.
„Melde dich erst wieder, wenn du dein Problem mit der Kirche gelöst hast!“, zischte sie, ohne den Psychiater eines weiteren Blickes zu würdigen. Erst jetzt bemerkte Dr. Kanst, dass sich ein weiterer, sehr dünner Mann in einem Anzug mit römischem Kragen in seine geräumige Penthouse-Wohnung geschoben hatte. In seiner linken Hand hielt er sehr krampfhaft einen schwarzen Lederkoffer umklammert. So fest, dass seine Knöchel des Handgelenkes bereits ganz weiß waren.
Hatte er Probleme mit der Kirche? Gestern Morgen hätte er dies mit einem klaren „NEIN!“ beantwortet. Doch jetzt saß ein Bischof auf seiner Velours Couch.
„Können wir jetzt endlich?“ Dem Befehlston war nun noch eine ungeduldige Note hinzugefügt worden.
Der Bischof winkte dem dünnen Mann und gab gestikulierend den Befehl, sich auch zu setzen.
Dieser versuchte, sich in die sehr niedrig gehaltene Couch zu setzen, was sehr unbeholfen aussah. Plötzlich hielt dieser den silbernen String von Rita in der Hand und grinste über das ganze Gesicht.
Das Fass war voll!
„Also, ich muss doch sehr bitten! Her damit! Wer sind Sie und ich raten Ihnen, dieses schnell zu erklären!“ Der Ton von Alex Kanst war sehr rüde und er hatte unbemerkt den Schirm wie einen Knüppel erhoben.
Das Grinsen aus dem Gesicht des dürren Mannes war nun schlagartig gewichen, während er seine rechte Hand unter sein Sakko schob.
„Gemach, gemach, meine Herren! Natürlich muss ich mich zuerst für mein Eindringen entschuldigen. Aber die dringenden Umstände erfordern ein schnelles Handeln! Dr. Kanst, ich bin Monsignore Alberto Meininger und möchte Sie in einer dringenden kirchlichen Angelegenheit um Hilfe bitten.“
Nun hatte sich auch Dr. Kanst gesetzt, der noch immer eine Hose, aber kein Hemd trug.
„Um Hilfe, mitten in der Nacht? Wir hätten auch morgen in meiner Praxis …“
„Nein, nein! Nicht morgen, jetzt sofort! Dr. Kanst, Sie wurden mir von der Fürstin empfohlen. Sie hatte gesagt, Sie seien einer der Besten!“
Jetzt hatte der Psychiater etwas mehr Haltung angenommen, als hätte das Lob aufputschende Wirkung. Und wenn Sie ihn empfohlen hatte, na dann hatte ja so wieso alles seine Richtigkeit. Und überhaupt war ein Auftrag für die Kirche sicherlich sehr werbewirksam, und auch ertragsreich.
Noch oft würde Dr. Kanst an diese unsägliche Nacht zurückdenken, in der er sich so geirrt hatte!
„Gut, wie kann ich Ihnen helfen, als Psychiater?“
„Dr. Kanst!“ Der Monsignore lächelte. „Sicher sind Sie eine Koryphäe, aber es gibt im Vatikan weit bessere Ansprechpartner für seelische Notstände! Nein, ich brauche Sie als Profiler!“
Nun fühlte er sich etwas gedemütigt. Was sollten das für „bessere Ansprechpartner“ sein, er war der Beste! Natürlich hatte er schon hi und dafür die Polizei gearbeitet und auch einige schwere Fälle gelöst. Man konnte schon sagen, er hatte für solche mysteriösen Kriminalfälle ein Händchen. Jedoch wollte er nicht, dass dies nun zu einem Beruf werden würde. Ziemlich sicher hätte er hier an dieser Stelle das Gespräch beendet und die Herren vor die Tür gesetzt, natürlich vor die Außentür. Aber sie hatte ihn empfohlen. Und sie wollte er unter keinen Umständen enttäuschen.
„Gut, um was geht es denn so Dringendes?“ Alex Kanst stand auf, um sich ein Hemd zu holen, da es ihm jetzt auch kühl geworden war. Erst jetzt bemerkte er, dass Rita wohl die Tür aufgelassen hatte. Als er die Wohnungstür schließen wollte, fiel ihm der Windstoß auf, der durch das Treppenhaus fuhr. War die Haustür auch offen? Nein, diese hatte einen automatischen Schließmechanismus. Dennoch, er sollte nachsehen gehen.
„Dr. Kanst! Bitte!“ Die Stimme des Monsignore überschlug sich fast. Also ignorierte er seine „Innere Stimme!“ und schloss die Wohnungstür.
Der Monsignore war aufgestanden und lief nun sehr aufgeregt vor den Panoramafenstern der Dachterrasse auf und ab. Während sein Begleiter immer noch auf der Couch saß. Seine Knie gingen ihm dabei fast bis zur Brust.
„Es gab heute Nacht einen Vorfall im Pfarrhaus!“
„Im Pfarrhaus? Wo? Hier in Hechingen?“
„Bitte unterbrechen Sie mich nicht dauernd!“
Dr. Kanst nickte.
Der Monsignore tupfte sich mit einem roten Taschentuch die Stirn ab. Er schwitzte, obwohl es nun auch in der Wohnung von Dr. Kanst eher kühl war.
„Also, wo war ich …. ah ja, Vorfall. Die Ermittlungen dauern noch an. Ich muss Sie bitten, äußerst diskret vorzugehen. Bitte machen Sie sich selber ein Bild vor Ort und helfen Sie, den Fall aufzuklären. Damit der römisch-katholischen Kirche kein Schaden entsteht. Giacomo!“ Er winkte seinen Begleiter herüber. Dieser stellte den ledernen Koffer ab und öffnete diesen. Er grinste nun schon wieder richtig unangenehm. Dr. Kanst verschlug es den Atem. Der Koffer war bis an den Rand mit Geldbündeln gefüllt.
„Also, ähm, nehmen Sie es als Anzahlung. Nach Abschluss der Angelegenheit reichen Sie bei der zuständigen Verrechnungsstelle eine Rechnung ein!“
Der Monsignore machte bereits Anstalten, die Penthouse-Wohnung zu verlassen. Sein Bauchgefühl sagte Nein! Und das mit einer sehr lauten Stimme. Doch sie hatte ihn ja empfohlen, und dann das ganze Geld. Und dazu kam noch, dass man für eine sehr anständige Gemeinschaft arbeitete (So dachte er zu diesem Zeitpunkt!). Eigentlich hatte er ja das Geld nicht mehr nötig. Und doch: Seit den großen Problemen in seiner damaligen Forstgesellschaft sah Dr. Kanst die Dinge verkrampft. Jeder Euro sicherte das Überleben. Doch dies war ja alles Quatsch. Er verfügte über mehrere Millionen und könnte gut die Dinge die Dinge sein lassen.
Wäre da nicht der Ruhm und ihre Empfehlung.
„Äh, ja und was soll ich nun bitte tun?“, sagte Alex Kanst, als der Monsignore bereits in der Tür stand.
„Begeben Sie sich in das Pfarrhaus, gegenüber! Buona notte, Dr. Kanst!“ Und die Tür war zu.
„Warten Sie! Was soll ich da um diese Zeit? Monsignore? Hallo?“ Dr. Kanst hatte höchstens zwanzig Sekunden bis in das Treppenhaus benötigt, doch es war leer. Wohin waren die zwei so schnell verschwunden? Eines stand fest: Das Treppenhaus war sehr kalt. Dr. Kanst zog sich einen Pulli an und dann seine graue Fließjacke. Er stieg in den Aufzug, welcher alsbald unten ankam und tatsächlich: Die Tür stand auf!
„Mist, es ist arschkalt!“, brummte Alex und sein schwäbischer Akzent konnte nun nicht unterdrückt werden. Als er in die Seitengasse des Kirchplatzes trat, hatte es noch zu nieseln begonnen. Eines der ekligsten Wetterereignisse, die er sich vorstellen konnte. Eigentlich sollte er ja jetzt gerade mit Rita …
„Scheißglump!“, fluchte er erneut, als er erst nach zwanzig Schritt bemerkte, dass die Tür nicht schloss. Also trottete er zurück und wollte die Tür zuschieben. Doch diese klemmte. Bei genauerem Hinsehen war die automatische Tür mit einem kleinen grünen Plastikkeil verklemmt worden.
Voller Wut kickte er diesen heraus und die Tür schloss sich sofort wieder. Erneut machte er sich auf den Weg zu diesem Pfarrhaus. Oder hieß es nicht mehr Pfarrhaus, sondern Seelsorgeeinheitshaus? Alex musste schmunzeln. Doch dieses verging ihm sofort wieder, als er aus der Seitengasse um das Eck bog und im Dunst des Nebels blaues Licht sah.
„Nein, nicht schon wieder Darth Vader?“, schrie er, doch der Nieselregen in Verbindung mit dem Nebel erstickten den Schall und es hatte sicher niemand gehört.
Erst als er näherkam, sah er, dass das blaue Licht blinkte. Es waren zig Lichtquellen aus unterschiedlichen Fahrzeugen. Drei Polizeiautos konnte er auf Anhieb erkennen, dann den Audi- Notarztwagen mit dem Symbol des Fürstenhauses und zu seinem Schreck ein blaues Magnetlicht auf dem Dach eines Porsche Cayenne.
Dr. Kanst blieb stehen. „Nein, und nochmals nein! In diesem Jahr möchte ich diese Person nicht mehr sehen!“, brummte er. Doch in seinem Penthouse stand ja noch ein Koffer Geld. Also blieb ihm ja wohl nichts anderes übrig. Sehr missmutig schritt er auf einen der Beamten, die außerhalb eines blauweißen Flatterbandes als Sicherungsposten oder so ähnlich dienten, zu. Das Gute daran war, er kannte diesen. Dies sparte jede Menge an Zeit und Erklärungen: Was er hier zu suchen hatte, oder wer er war, oder dass hier für Gaffer nichts zu suchen wäre.
Das alles konnte er sich sparen.
„Hallo Sie! Ja, Sie da! Bitte gehen Sie weiter! Dies ist eine polizeiliche Ermittlung!“
„Hey Karl! Ich bin es, der Alex!“
„Alex? Ja Mensch, di hon i ja gar itta kennt, do in dr Naaacht! “, sagte nun Karl auf Schwäbisch.
„I di glei!“, antwortete Alex.
„Ja wa willscht du jetzt do in dr Naacht?“
„Ha, di ärgera!“
Beide lachten ausgiebig.
„Ja aber mal im Ernst, was tust du hier?“
„Ich bin hier im Auftrag des Vatikans, oder so ähnlich!“ Alex zeigte eine umfassende Vollmacht, die er von Giacomo? bekommen hatte.
Karl nickte und hob das Flatterband an, sodass Alex, ohne sich zu bücken, hindurch konnte.
„He, pass uff. Die isch gräg druff heit naaacht! “
Alex winkte und betrat das Büro der Seelsorgeeinheit. Das Licht war an und alle Türen standen auf. Stimmengewirr kam aus der Etage darüber. Also folgte er den Stimmen. Das Treppenhaus war schlicht gestaltet, nur in den Nischen hatte man Platz für Kruzifixe mit Kerzen. Als er oben ankam, lag ein langer Gang mit Parkettboden aus Buche vor ihm. Überall brannte Licht und die Stimmen kamen alle aus dem Raum am Ende des Ganges.
Dies waren die Momente, wo er sich grundsätzlich alleine fühlte und wieder den Gedanken eines Assistenten oder einer Assistentin aufgriff. Doch für den Moment war dies nur eine Vision.
„Also, gestehen Sie gleich, dann haben wir es hinter uns!“, sagte eine rauchige Stimme, die er nur zu gut kannte. Gleichzeit durchzog seine Schulter wieder ein stechender Schmerz, der ihn an seine „Lebensretterin“ erinnerte.
„Hallo! Dürfen wir mal durch? Bitte!“, sagte ein sehr junger Mann in einem dunklen Anzug aus Samt, welcher in Begleitung eines anderen einen Blechsarg durch den Gang trug.
Offensichtlich war jemand zu Tode gekommen. In der Nacht, im Pfarrhaus, im schwäbischen Hechingen. Er folgte den Trägern. Noch einmal tief Luft holen, und dann würde er den Raum betreten. Er würde wie eine Maschine umschalten auf Professionalität und Selbstsicherheit, auch wenn er sich seit Sonntag nicht so wirklich selbstsicher fühlte.
„Na, was jetzt? Ich denke, gerade Sie sind ein Mann der Wahrheit, oder irre ich mich da etwa?“
„Guten Abend!“, sagte Alex Kanst und machte einen ausfallenden Schritt in den Raum. Dieser war von einer grellen Neonröhre hell erleuchtet. Die Wände waren weiß, schlicht und nur ab und zu durch ein aufgehängtes Kruzifix oder ein Heiligenbild unterbrochen. In der hinteren Ecke des Raumes stand ein billiger Schreibtisch aus den Sechzigern. Auf diesem leuchtete ein Bildschirm. Der Bildschirmschoner war bereits aktiv und es liefen die Sprüche eines Rosenkranzes in wechselnden Regenbogenfarben über den Bildschirm.
Doch das Schlimme war, dass auf dem Boden eine gekrümmte Leiche lag. Dass es eine Leiche war, sah man daran, dass bereits die Bestatter einen Blechsarg hereingetragen hatten und jemand ein Leichentuch mit der Aufschrift „Kriminalpolizei Balingen“ daraufgelegt hatte. Eines war jedenfalls sehr deutlich: ein immenser Blutverlust. Überall an den Rändern des Tuches sickerte die Flüssigkeit bereits heraus und in den Parkettboden. Sicherlich müsste man diesen austauschen.
„Was das für einen Aufwand auslösen würde!“ Die Gedanken von Dr. Kanst schweiften ab, bis ihn die rauchige Stimme jäh zurückholte.
„Ja wen haben wir denn da? Den Doc! Können Sie nicht schlafen oder was machen Sie mitten in der Nacht in meiner Ermittlung, zudem noch an einem Tatort, der eigentlich abgesperrt sein sollte.“ Kommissarin Jasmin Jemain kam auf Dr. Kanst zu und warf bei ihren letzten Worten einen strengen Blick in Richtung des uniformierten Polizisten, welcher gelangweilt am Fenster stand. Sie trug enge Jeans, die in kniehohen braunen Stiefeln steckte. Dazu eine lilafarbene, enganliegende Daunenjacke, über der sie den Holster für ihre Waffe gezogen hatte. Der silberne Revolver blitze im Schein der Neonröhre. Sie war ja auch ohne Stiefel mit Absätzen schon fast so groß wie Alex Kanst, heute jedoch überragte sie ihn schon fast, was ihr etwas Bedrohliches verlieh. Dies konnten auch ihre kurzen, und heute Nacht noch kürzer wirkende blonden Haare nicht kaschieren. Mit zwei großen Schritten kam sie nun auf Dr. Kanst zu, welcher schon leicht einen, zumindest kleinen, Schritt zurück machte.
„Also: Was-Machen-Sie-hier?“, fragte die Kommissarin und klopfte dabei mit ihrem Zeigefinger sehr energisch auf die Brust von Alex. Erst jetzt fiel dem Psychiater der Pfarrer auf. Dieser saß auf einer schäbigen Couch aus den frühen Siebzigern wie ein Häufchen Elend. Dabei hatte er die Knie angezogen und wippte mit seinem Körper leicht vor und zurück. Sein Blick war starr nach vorne gerichtet und Dr. Kanst erkannte sofort, dass der Leiter dieser Seelsorgeeinheit einen Schock erlitten hatte.
„Hallo, hallooooo! Rede ich undeutlich oder sollte ich es in einer anderen Sprache versuchen?“ Jasmin Jemain war nun sehr ungeduldig.
„Ich bin beauftragt, mich meines Mandanten und Patienten anzunehmen!“ Alex versuchte sehr ruhig zu bleiben.
„Mandant? Patient? Wer? Der da?“ Jasmin zeigte auf den wippenden Pfarrer.
„Genau, hier ist eine Vollmacht!“ Dr. Kanst grinste und hob seine Vollmacht hoch.
Für die Dauer eines Wimpernschlages schien der Kommissarin der Wind aus den Segeln genommen worden sein.
Doch zu schnell war dieser kurze Moment der Überlegenheit vorbei und Jasmin Jemain ließ das Dokument einfach auf den Boden vor die Füße von Dr. Kanst fallen.
„Mir ist egal, was Sie hier wieder für eine Nummer abziehen, aber jetzt verlassen Sie sofort diesen Tatort oder ich werde Sie wegen Behinderung der Kriminalpolizei ebenfalls verhaften lassen.“ Nach diesen Worten schnippte sie mit dem Finger und zwei uniformierte Beamte kamen auf den immer noch wippenden Pfarrer zu. Einer zückte bereits die Handschellen. Jasmin schien den ungläubigen Blick von Alex in den Augenwinkeln bemerkt zu haben und sagte, ohne ihn dabei anzusehen:
„Es besteht dringender Tatverdacht!“
„Chef, Chef, Chef!“ Plötzlich sprintete eine sehr junge Frau (Alex schätzte diese gerade auf Anfang 20) in den Raum. Sie hatte kurze Stoppelhaare, die eine Hälfte pechschwarz, und die andere in pink. Ein Freund von Alex, der bei der Telekom arbeitet, hätte dies eher als Magenta bezeichnet. Sie trug eine gelbe Leggins, braune halbhohe Stiefel und eine olive Bomberjacke. Durch ihre beiden Nasenlöcher war ein Piercing-Ring gezogen.
„Was!“, schrie die Kommissarin die junge Frau an.
„Also, ich habe alle Zimmer überprüft, und … äh hallo!“ Sie lächelte Dr. Kanst an.
„Hallo, Alex Kanst!“
„Lilly! Ähm, also Anwärterin im Kriminaldienst Lilly Baur, ohne E.“
„Angenehm!“ Alex lächelte.
„Vorsicht, Frau Baur! Also weiter bitte!“ Jasmin Jemain schien sehr ungeduldig zu sein.
„Mensch was für a Sauerei!“, sagte nun einer der Bestatter, als er gemeinsam mit seinem Kollegen die Leiche in den Blechsarg legte. Und tatsächlich musste alles Blut aus dem Körper ausgelaufen sein. Dabei konnte Dr. Kanst einen kurzen Blick auf die Leiche werfen. Ein junger Mann Anfang 20, und er kam Dr. Kanst irgendwie bekannt vor.
„Ha, ja also zur Vorsicht kann ich auch nur raten! Wissen Sie, Ihren Vorgänger hat Sie erschossen!“ Dr. Kanst zeigte Jasmin ein sehr überhebliches Lächeln, welches diese mit einem tödlichen Blick zu ersticken versuchte.
„Ja also, alle Zimmer sind, bis auf eines, fast leer, nur gelegentlich alte Möbel darinnen.“
„Und was ist in diesem einen?“
„Das sollten Sie selber sehen!“ Lilly trat einen Schritt zurück und gab somit den Weg in den Flur frei.
Jasmin Jemain atmete schwer ein und trabte los.
„Vorne rechts!“, rief Lilly hinter her.
Alex folgte, da ihn derzeit daran auch niemand hinderte.
Demonstrativ lehnte sich die Kommissarin an den Türrahmen, sodass Alex gezwungen war, unter ihrem Arm durchzusehen. Und irgendwie war es schon ein vertrautes Bild, was er da zu sehen bekam.
„Was ist das? Ein Tempel oder so?“, schrie die Kommissarin lautstark, als hätte einer der Beamten im Hof danach gefragt.
Das Zimmer war in blaues Licht getaucht, welches aus diversen Deckenstrahlern strömte, die auf eine dunkle Figur am Ende des Zimmers gerichtet waren. Die Figur stand auf einer Treppe aus Holz. Dahinter waren überall blaue Tücher, welche recht stümperhaft mit Reisnägeln befestigt waren.
„Darth!“
„Was!?“
„Na das da. Das ist Darth Vader, oder?“ Alex lächelte.
„Verarschen kann ich mich selber, Doktorchen! Ich werde den da jetzt verhaften und wenn Sie nicht augenblicklich das Haus verlassen, Sie auch.
„Ich denke, dass Sie jetzt den Rettungsdienst rufen und den Herrn Pfarrer zuerst einmal in eine Klinik bringen. Von mir aus auch mit Bewachung.“
„So denken Sie! Herr Müller, bitte verhaften Sie diesen Mann hier!“ Jasmin Jemain schnippte mit den Fingern.
„Aber Sie möchten doch nicht, dass ich die neue Staatsanwältin Bettina anrufe. Jetzt um diese Zeit. Ähm, ich meine natürlich Frau Balk!“ Alex grinste.
Nachdem der alte Staatsanwalt nach einem Pornoskandal verhaftete wurde, war gerade vor zwei Wochen eine Frau neu in dieses Amt eingeführt worden. Darüber hatte er natürlich in der Hohenzollerischen Zeitung ausführlich online gelesen. Zu seinem Bedauern hatte er die recht hübsche Frau noch nicht kennengelernt. Doch dies wusste ja Jasmin Jemain nicht, und sein Ruf in Sachen Frauen ging Dr. Kanst voraus. Demonstrativ zückte er sein Smartphone.
Jasmin runzelte die Stirn.
„Sie kennen Frau Balk, und haben ihre Nummer!?“
Dr. Kanst grinste über beide Backen.
„Chef, ich denke auch, dass der Pfarrer zuerst zu einem Arzt sollte. Also ich habe da mal von einem Fall gehört, natürlich auf der Uni, und da …“
„Genug, Frau Baur! Rufen Sie den Sanitäter, oder einen Arzt. Wird ja noch einer draußen rumrennen, oder?“
„Eine gute Entscheidung!“, sagte Dr. Kanst sehr siegreich.
Jasmin Jemain drückte erneut ihren Zeigefinger auf die Brust von Alex.
„Halten Sie sich bloß hier raus. Sonst geht es dieses Mal nicht so glimpflich aus für Sie!“, zischte die Kommissarin und stapfte die Holztreppe hinunter.
„Ja dann, äh, bis bald!“ Lilly Baur lächelte, obwohl ja die Situation alles andere als lustig war.
„So, wir müssen jetzt auch mal durch!“, sagte nun einer der Bestatter und obwohl der Gang recht breit wirkte, brachten die Bestatter den Sarg nur schwer hindurch.
„Irgendwoher kenne ich das Opfer!“, sagte Alex.
„Ja klar, das ist der junge Giehr, Max oder so!“, antwortete nun der hintere Träger.
„Giehr? Etwa der von dem Medizin-Guru?“
„Ja genau. Hat nur einen Sohn, da möchte ich auch nicht hin, um ihm die frohe Botschaft zu überbringen, also Tschüss dann!“
„Der Sohn von Albert Giehr!“ Die Gedanken begannen langsam zu kreisen. „Mitten in der Nacht bei einem katholischen Pfarrer!“
„Wumm!“ Die Bestatter oder einer der uniformierten Beamten hatte die Tür zugeschlagen. Jetzt war alles ganz still. Zeit, um sich selber ein Bild von allem hier zu machen. Das war seine beste Eigenschaft. Nicht umsonst war er einer der besten Profiler in Europa, auch wenn dies noch niemand so genau bezeichnet hatte.
Doch leider hatte Lilly recht. Es gab kaum etwas zu untersuchen, oder zu entdecken, da fast alle Zimmer leer waren. Nur das Andachtszimmer mit der heiligen Arsi gab es. Irgendwie musste hier ein neuer Kult am Entstehen sein. Als ob es nicht schon genug Heilige gab.
In einem Zimmer stand noch ein frisch bezogenes karges Bett. Vermutlich war dies für Gäste gedacht. Das Blut war nun schon in den lackierten Parkett aus Buche eingesickert und färbte diesen fast schwarz.
„Schade!“, brummte Alex, der genau wusste, dass dieser doch schon alte, aber sehr wertvolle Parkett nicht mehr zu retten war. Er machte einen großen Ausfallschritt, um jeden Kontakt seiner Schuhsohlen mit Blut auszuschließen. Der Schreibtisch war leer, fast. Nur am rechten Rand lag ein Terminplaner mit christlichen Symbolen darauf. Alex war erstaunt, dass noch jemand seine Termine in Schriftform in einen Kalender eintrug. Er blätterte.
Zuerst fiel ihm nichts auf, doch dann wiederholten sich Termine. Wöchentlich. Alex wurde es ganz schlecht.
„Oh nein, bitte nicht!“, flüsterte er zu sich selbst.
In jeder Woche gab es einen Termin bei Frau Piffpaff. Er würde dieses, ob er wollte oder nicht, überprüfen müssen.
Bei Frau Gertrud Piffpaff.
Resigniert stand er auf, als ihm der Bildschirmschoner wieder auffiel, welcher noch immer Sprüche aus dem Rosenkranz über den Bildschirm laufen ließ.
„Ob der Computer wohl gesichert ist?“
Alex hatte Pech! Er war passwortgesichert. Also waren Pfarrer doch nicht immer so altmodisch wie er dachte. Gelangweilt tippte er Wörter ein und …
„Ping!“
„Ha!“, rief Alex „Das war ja einfacher als gedacht!“ Mit Arsi, seiner zweiten Wahl, hatte er sich Zugang zum Computer verschafft. Leider war er in diesen Computerdingen kein Profi, doch er kannte einen. Fatman! Und deshalb hatte er immer an seinem Schlüsselbund einen Megastick, welcher einmal eingesteckt binnen Sekunden alle Daten kopierte.
„So!“ Alex war zufrieden, denn mehr gab es fürs Erste einmal nicht zu tun. Jetzt war es aber echt Zeit für das Bett. Und das Problem mit Rita hatte sich nun sicherlich auch gelöst. Im Zustand des Pfarrers hatte der nun andere Sorgen als außereheliche Aktivitäten seiner Schafe. Gleich Morgen würde er Rita die gute Nachricht übermitteln, und dann dort weitermachen, wo man vorher aufgehört hatte.
Gerade als er die Wohnung verlassen wollte, fiel ihm im Andachtsraum, fast nicht sichtbar, eine kleine Holztür auf. Das wollte er nun genauer wissen. Und tatsächlich, als er diverse blaue Vorhänge beiseitegeschoben hatte, war da eine kleine Tür, offensichtlich eine Abstellkammer. Sie war nicht verschlossen. Und fast voll. Lauter Pakete!
Alex öffnete eines davon. Darin befand sich ein lederner Koffer mit Zahlenschloss. Alle Pakete waren gleich. Er schätzte den Inhalt des Raumes auf 12 bis 14 Koffer.
Kopfschüttelnd ging er die Treppe hinunter und wollte endlich in die kühle, nasskalte Luft des nächtlichen Hechingen treten. Doch die Tür war abgeschlossen. Gerade als er zu einem ausgedehnten Fluch Konzert anlegen wollte, fiel ihm wieder der Ort ein. Also unterdrückte er seinen inneren Drang.
„Das hat diese Jemain absichtlich getan!“, knurrte er. Alex stapfte nun den Gang entlang, drückte die Klinke nach unten und stand im Büro der Seelsorgeeinheit.
„Na also!“ Dass die Tür hier offen war, das glaubte er nun doch nicht. Aber durch eines der Fenster konnte man leicht auf die Straße klettern.
Könnte man, doch als er eines der Fenster geöffnet hatte, starrte Alex Kanst auf weiße Gitterstäbe. Fassungslos schloss er das Fenster wieder.
Jetzt war er mitten in der Nacht, oder war es nun schon bald Morgen, im Büro der Seelsorgeeinheit eingeschlossen, wie ein Gefangener im Knast.
Alex war nun müde, hatte keinen Sex seit einer unheimlich langen Zeit (zumindest für ihn) und wollte eine heiße Dusche.
Was sollte er nun tun, warten, bis die absolut hübschen Bürodamen erschienen? Die Polizei rufen?
Nein und nein!
Er würde hier ausbrechen! Jetzt erst recht, dann würde die Jemain dumm gucken morgen! Genau, so müsste es gemacht werden, die wartet doch bloß darauf, dass sie ihn morgen hier abholen kann.
Doch leider waren alle Fenster im Parterre vergittert.
„So eine elendige …!“ wieder unterdrückte er einen sehr schwäbischen Fluch. Plötzlich fiel ihm ein, dass zur Münzgasse ja eine Garage war. Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen (er war in einem kleinen Saal, in einer Teeküche, im Heizraum) stand er in der Garage, wo mindestens vier Autos Platz hatten. Doch da stand nur ein Porsche Cayenne. Wobei das Wort „nur“ ja echt fehl am Platze war.
Ungläubig schüttelte Dr. Kanst den Kopf. Hatte das Jesus vorgegeben? Lebt bescheiden und kauft einen Porsche? Oder folgt mir nach … im Porsche!?
Wohl kaum.
Doch nun zum eigentlichen Problem: Er musste das Tor öffnen.
Und hier machte man es ihm ja leicht, es gab einen elektrischen Öffner.
Plötzlich und ohne Vorwarnung öffnete sich das Tor, und Alex war sich sicher, den Schalter noch nicht berührt zu haben. Instinktiv machte er einen Schritt zurück. Einen zu viel und er stolperte rückwärts über eine Holzkiste und fiel danach in einen Haufen mit blauen Müllsäcken.
Seine rechte Hand schmerzte wie Feuer und dennoch blieb er liegen, denn er hörte Stimmen.
Durch einen Lücke in den Säcken konnte er die Garage genau im Blick behalten. Ein dunkler Kleinbus mit getönten Scheiben fuhr in die Garage. Eine bekannte Stimme im Befehlston gab Anweisungen. Leider auf Italienisch und Dr. Kanst sprach außer Schwäbisch nur noch Englisch einigermaßen akzeptabel. Die Stimme gehörte zum dürren Begleiter seines Auftraggebers.
Aus dem kleinen Bus stiegen drei Personen, welche in Schutzanzüge gehüllt waren und diverses Putzwerkzeug dabeihatten.
„Morgen gut?“, sagte nun ein kleiner indischer Mann in einer braunen Kutte zum dürren Mann. Dieser nickte und der Inder setzte ein zufriedenes Lächeln auf. Dann verschwanden alle im Pfarrhaus.
„Höchste Zeit abzuhauen!“, brummte Alex und als ihm ein stechender Schmerz durch das Handgelenk fuhr, hatte er schon wieder einen Fluch auf den Lippen.
Im Schutze der Dunkelheit schlich er sich auf den Parkplatz der Münzgasse und dann langsam die Treppen hinauf in Richtung seines Penthouses. Kurz bevor er in die Seitengasse vom Marktplatz abbog, drehte er sich wieder um. Das Pfarrhaus lag in tiefer Dunkelheit. Und dies, obwohl gerade jetzt mindestens fünf Personen sich darin aufhielten.
Überwacht wurde dies alles von einem Streifenwagen, der direkt vor dem Pfarrhaus auf dem Behindertenparkplatz parkte.
„Die dürfen das!“, knurrte Alex, der über seinen Strafzettel noch immer nicht richtig hinweg war.
Oben in seiner Wohnung angekommen leuchteten ihm die grellen Buchstaben seiner futuristischen Uhr am Herd entgegen und konfrontierten ihn mit der nackten Wahrheit.
Es war 5.29 Uhr.
Dienstag (4. Tag ohne Sex!!)
Die heiße Dusche tat gut. Doch der Gestank war hartnäckig, erst nach dem vierten Mal einseifen wurde es besser. Alex beschloss, alle Kleidungsstücke der Nacht zu entsorgen. Seine rechte Hand war geschwollen und heiß.
Er überlegte, doch die Apotheke war zu. Noch! Er könnte Maria anrufen, vielleicht hatte sie ja Frühdienst, andererseits war sie ja seit dem Sommer recht schlecht auf ihn zu sprechen und damit sich ihr Ehemann wieder beruhigt, hatte sie ja eine Pause vereinbart.
Galt dies auch für Notfälle? Sicher nicht und wenn er sich seine Hand so ansah, dann war dies ein Notfall.
Natürlich hätte er auch in die Notaufnahme des neuen fürstlichen Krankenhaus in der Weilheimer Straße fahren können, oder wenn es nicht ging sogar laufen.
Doch das kam nicht in Frage. Er mochte keine Krankenhäuser, ja er hatte sogar panische Angst davor. Seine Mutter meinte, dies rührte von einem größeren Aufenthalt als Dreijähriger. Egal, eine andere Lösung musste her.
Sein Hausarzt Dr. Prank. Es hieß, es wäre ein junger kompetenter Arzt. Dr. Kanst wusste es nicht, er hatte diesen noch nicht kennengelernt. Der langjährige Vorgänger war in der Affäre um den Staatsanwalt Habermann im Sommer unter der Verstrickung eines hiesigen Profilers verhaftet worden. Zwei Wochen später hatte sich der Arzt in seiner Zelle erhängt.
In circa einer Stunde kam Tina, dann würde sie wissen, was zu tun wäre. Also beschloss er, zuerst einmal zu warten. Mit seiner Linken schaltete er das Morgenmagazin ein.
Der Anblick erheiterte den Psychologen. Eine neue Moderatorin mit langen blonden Haaren lächelte in sein Penthouse. Nun machten sich aber schon wieder die Hormone bereit.
„Heute Nacht muss ein Date her“, beschloss der Arzt.
Vor Müdigkeit war ihm nun ganz schlecht. Also beschloss er, einen extrem starken Kaffee zu machen. Er hatte ja einen dieser sündhaft teuren Vollautomaten.
„Bitte Bohnen einfüllen!“, leuchtete am Display.
„Herrschaftszeiten!“, fluchte er nun, da er sich in seiner eigenen vier Wänden befand. Hier war Fluchen erlaubt.
„Aaaaaaa!“ Der Versuch, die Tüte mit den Bohnen aufzureißen, war ein Fehlschlag. Nun schmerzte seine Hand umso mehr. Irgendwo gab es einen Medizinschrank.
Rot und mit satinierter Scheibe, und gefüllt. Tja, er war ja auch ein Arzt. Es gab alles, Pflaster, Mullbinden, Schmerztabletten, Nasenspray, seine Sinupret und neu im Sortiment Bronchipret. Er hatte ja jedes Jahr einmal eine Bronchitis. Aber es gab keine Zerrsalbe.
Aber er war sich sicher, er hatte eine. Sogar der Name fiel ihm wieder ein: Reparil. Dies fand er ganz lustig: Reparil repariert deine Knochen.
Die Tube ließ sich auch mit aller Kraftanstrengung nicht öffnen. Sicher lag dies auch daran, dass er ja nur die linke Hand benutzen konnte. Es half nichts oder vielmehr nur noch rohe Gewalt.
Mit einem Küchenbeil, das in der Komplettausstattung einer Luxusküche dabei war, aber nie benutzt wurde, haute er die Tube in zwei Teile. Einer der Teile schoss durch die ganze Küche, doch das war egal. Endlich die heilende Salbe, oder?
Der Inhalt der Tube war schon eher eine feste Masse, alles andere als eine Salbe. Auch konnte man das Zeugs nicht irgendwo draufschmieren.
Erst beim Aufheben des weggespritzten vorderen Teiles der Tube fiel der Blick von Alex auf das Haltbarkeitsdatum, welches 1995 bereits abgelaufen war.
„Mist, elender!“, fluchte er nun schon wieder, als ihm einfiel, dass ja Schnaps auch Schwellungen und Entzündungen heilen kann. Also zum Schrank im Wohnzimmer.
Bier mochte Alex ja schon gerne, aber bei Schnaps war er vorsichtig und er stellte fest, dass keiner mehr da war. Als junger Forstingenieur hatte er einst eigenen Schnaps hergestellt. Der bei so einem Brant zwangsläufig entstehende Vorlauf war hochprozentig und durchaus geeignet, Entzündungen zu heilen, und auch Zerrungen oder Prellungen zu kühlen.
Bei seinen Eltern! Ja, dort stand noch jede Menge davon. Aber um diese Zeit dort anzurufen, und dann würde gleich die Frage nach dem „Warum“ kommen, und dann würde seine Mutter keine Ruhe geben, bis er im Krankenhaus vorstellig werden würde.
Nein!
Aber es gab noch eine Möglichkeit, sein Blick war auf eine Flasche mit brauner Flüssigkeit gerichtet. Zirbenschnaps!
Eine Seltenheit und Rarität, er hatte diesen bei seinem letzten Südtirol Urlaub, gefühlt um 1995, mitgebracht. In einem Seitental des Schnalstales auf einer Alm, dort hatte er diesen erstanden. Und Schnaps blieb haltbar, da war er sich sicher.
Als er zitternd mit seiner Linken den Inhalt vorsichtig über seine Rechte träufelte, war diese durch das Herumgehampel bereits dick angeschwollen.
Zuerst kühlte der Alkohol, doch der Zirbenschnaps war schon eher ein dicker zäher Likör und träufelte leider auf den weißen flauschigen Teppich vor dem Kamin.
„So eine elendige …!“ Fluchend rannte er in das Bad, um den Rest des Zirbenschnapses abzuwaschen, was ihm leider nicht gelang. Seine Hand hatte nun echt eine eklige braunrote Farbe und tat umso mehr weh.
Also was nun wirklich half, war Ablenkung: 6.30 Uhr und er ging in die Praxis.
Alex Kanst konnte sich nicht erinnern, jemals so früh in der Praxis gewesen zu sein. Als Erstes stieß er sich den Kopf, als er gegen die geschlossene Eingangstür rannte.
Normalerweise war ja Tina vor ihm da und die Tür geöffnet.
Nicht heute!
Wie schwer es war, eine Tür nur mit der Linken zu öffnen, das wusste Alex jetzt, und obwohl es im Flur recht kühl war, schwitzte er bereits wieder vor Schmerzen.
Da stand er nun im Eingangsbereich seiner Praxis. Es war still und dunkel und das flaue Gefühl, welches er seit Sonntag verspürte, machte sich plötzlich umso stärker bemerkbar. Alex spürte eine drohende und sich langsam steigernde Gefahr herannahen, fast so, als käme im Sommer ein Unwetter heran. Kurz vor dem ersten Donner war es still und ruhig, ja fast friedlich.
So wie jetzt in seiner Praxis.
Doch etwas kam näher, etwas Unheimliches und Gefährliches.
Um die Dämonen zu vertreiben, schaltete er das Licht ein und schrie auf!
„Na warte, Tina, das ist echt gegen die ausdrückliche Anordnung deines Chefs!“, sagte er zu sich selber und unterdrückte ein Lächeln, als er die Arsi-Statue wieder vom Tresen in die hintere Ecke neben dem Drucker stellte.
„Jetzt bin ich 46 und werde morgens um halb sieben von Darth Vader erschreckt! Ha!“ Doch das mulmige Gefühl blieb beharrlich und er wünschte sich, dass endlich Tina da wäre.
Einsamkeit machte ihm nichts aus, im Gegenteil! Oft benötigte er die Ruhe und Einsamkeit, um wieder klare Gedanken fassen zu können oder sich von den Strapazen der Arbeit zu erholen. Leute, die mit der Einsamkeit und Stille nicht umgehen können, sind für den Forstdienst nicht geeignet. Und im Grunde und ganz tief im Herzen war er immer noch ein Förster.
Doch heute, oder in den letzten Tagen war es anders geworden.
Alex schaltete alle Lichter in der ganzen Praxis ein, sogar auf den Toiletten.
Vielleicht lag es an den kürzer werdenden Tagen, dem trüben Wetter und der Tatsache, dass er nun doch schon 46 war. Er wusste es nicht.
Auch hatte er noch nie über einen Partner oder eine Hilfskraft in der Praxis nachgedacht. Tina verkörperte ja zumindest einen Teil davon. Und dies schon so viele Jahre.
Alex legte seine Hand in Schonhaltung auf den Schreibtisch und schaltete seinen Laptop mit der linken ein. Dies funktionierte recht gut.
Doch schon näherte sich das nächste Problem: Das Führen der Maus mit der Linken.
Unmöglich!
Langsam, für seine Ungeduld zu langsam, surfte er durch das Netz. Keine Einträge über die Geschehnisse der vergangenen Nacht. Nicht einmal die findigen Lokalreporter von der HZ hatten die News. Und dies war eine News: Stadtpfarrer wegen Mordes verhaftet.
Dann gab er den Namen „Max Giehr“ bei der Suchmaschine ein und hatte sofort 1.000 Treffer.
Wie leicht war doch die Arbeit eines Profilers geworden seit dem Internet, und doch für die entscheidenden Zusammenhänge hatte es oft keine Antworten und Lösungen bereit.
Max Giehr war tatsächlich der Sohn, der einzige Sohn von Albert Giehr. Giehr besaß alle in Hechingen ansässigen Firmen in der Medizinbranche und bestimmt auch noch welche darüber hinaus.
Auf allen Bildern posierte Albert immer sehr smart mit Sohn Max, welcher, da bestand kein Zweifel, die Firmen alle einmal übernehmen sollte. Für Hechingen war Giehr Medical sehr wichtig, war dies doch zu 99 % der einzige Arbeitgeber, seit die Textilindustrie zusammengebrochen war. Auch der Bruder von Alex, Tore, arbeitete dort. Irgendwo im Konzern.
Max war auch in den sozialen Medien sehr beliebt, und noch immer in Tübingen beim Studieren. (Wenn er mal nicht mit Vater posieren musste!)
Also, was tat ein so junger Mensch nachts in der Wohnung eines Pfarrers? Was lag auf der Hand? Genau das, was Alex so lange fehlte:
Sex!
Die häufigste Verfehlung der heiligen und so keuschen Männer. Man hätte dies ja schnell unter den Teppich kehren können, und schwule Pfarrer sind ja nicht gerade selten. Weshalb wurde er mit den Ermittlungen beauftragt?
Und was sollte er ermitteln, es könnten ja nur noch schlechtere Dinge zum Vorschein kommen und das will die gute Kirche ja nicht.
Also warum er, der ja einen der besten Rufe hatte, Dinge ans Licht zu bringen, und nicht unter den Teppich zu kehren!
Er gab den Namen „Alberto Meininger“ in die Suchmaschine ein.
Dieses Mal waren es nicht so viele Treffer. Doch einer leuchtete schon förmlich heraus:
>11.09.2012 Ernennung von Alberto Meininger durch Papst Benedikt dem 16. zum Apostolischen Protonotar.<
„Ein Protonotar, kein Bischoff!“, schrie er durch die ganze Praxis, als aus dem Eingangsbereich ebenfalls ein Schrei zu hören war. Alex stand auf und wäre an seiner Bürotür fast mit Tina zusammengestoßen.
„Aahhh!“, schrie er.
„Iiiii!“, schrie Tina.
„Ja sag mal, Chef, warst du die ganze Nacht hier?“ Alex schüttelte den Kopf.
„Du siehst aber schlimm aus!“
„Kannst du mir einen Kaffee machen und zwei Schmerztabletten dazulegen!“ Er drückte Tina einen Kuss auf die Wange.
„Hee, für was war das?“
„Dafür, dass du immer da bist!“
„Da…danke!“ Tina lächelte.
„Kaffee kommt, aber wieso Schmerztabletten. Hast du Migräne?“ Alex versuchte seine rechte Hand hinter seinem Rücken zu verstecken, doch vor Tina konnte man nichts verstecken.
„Ja, wenn ich dich nicht schon so lange kennen würde … zeig mal die Hand! Die andere!“ Alex versuchte einen sehr alten, aber auch sehr dämlichen Trick und streckte Tina die gesunde Hand hin.
„Aaaaah! Was in Gottes Namen hast du angestellt?“
„Ich bin gestürzt!“
„Hier im Büro?“
„Nein, unten am Parkdeck der Münzgasse!“
„Wann?“
„Was wird das jetzt? Ein Verhör?“
„Also ich werde ja mal noch fragen dürfen! Und es sieht ziemlich entzündet aus. Da musst du in die Ambulanz!“
Die Ambulanz! Also Klinik! Also Ärzte! Der Albtraum schlechthin für Alex. Seine Mutter behauptete, er hätte da einen Knacks weg, seit er als Dreijähriger mit einer Knochenmarksentzündung monatelang in Tübingen lag. Damals wäre fast sein Fuß amputiert worden. Alex wusste es nicht, ob dies der Grund für seine absolute Phobie vor Krankenhäusern war, jedoch würde er wegen so einer blöden Verstauchung nicht in die Klinik fahren. Nie!
„Das ist nicht entzündet!“, sagte er barsch.
„Wohl! Schau dir die Färbung deiner ganzen Hand an!“
„Hmmm! Glaub mir, das ist nur Zirbe!“
„Was?“
„Ich habe Zirbenschnaps draufgeschüttet … und die Farbe geht nicht mehr ab.“
„Soso, Zirbenschnaps also!“ Tina glaubte Alex kein Wort. Ihr „Soso“ findet Alex ja immer richtig erotisch, doch gerade überwog der Schmerz.
„Ich mach dir jetzt einen Verband drauf, und dann gehst du gleich in die Notaufnahme!“ Tina stellte ein Glas Wasser und zwei Schmerztabletten auf den Schreibtisch von Alex.
„Notaufnahme!“ Kalter Schauer lief über Alex Rücken. „Ja nie und nimmer!“, dachte er.
„Gleich geht nicht! Wir haben wieder einen Fall und du musst zuerst einmal bis auf Weiteres alle Termine verschieben oder halt in Gottes Namen an die Konkurrenz abgeben.“
Tina schaute nun von ihrer Arbeit des Verbindens eines mit Zirbenschnaps gefärbten Handgelenkes auf.
„Einen Fall?!“
Alex nickte.
„Einen neuen Kriminalfall?“
Alex nickte.
„Ein Auftrag der Polizei?“
„Alex schüttelte den Kopf.
„Nein, ein Auftrag des Erzbistums!“, wobei sich Alex hier nicht sicher war. War es nun ein Auftrag des Bistums, oder gar direkt von Rom oder war der Protonotar selber an der Aufklärung des Mordes interessiert. Warum sonst sollte das Geld nun in bar in einem Koffer in seiner Registratur stehen. – Das Geld!
Bei dem Gedanken schoss der Schmerz wieder in die Hand von Alex und ihm wurde schwindelig. Mit 46 war man es doch nicht mehr so gewohnt, die Nacht zum Tage zu machen. Besorgt stützte Tina ihren Chef.
„Na, da ruf ich doch gleich ein Taxi und sag die Termine ab.“ In diesem Moment ertönte die kleine Glocke, welche Tina am Tresen stehen hatte mit der Aufschrift „Wenn keiner da - bitte läuten!“
„Abwimmeln!“, befahl Alex und hielt sich schmerzverzerrt die Hand.
„Abwimmeln und ein Taxi bestellen!“, konterte Tina, doch so weit kam es erst gar nicht, da Margarethe Blümle bereits im Büro von Dr. Kanst stand. Genauer gesagt stand sie zitternd und tränenüberströmt da.
„D…ddddd…die…hbm mmm ich entlassen!“, stammelte Frau Blümle. Tina begleitete diese sofort zum ledernen Sofa und versprach, einen Kaffee zu besorgen. Dr. Kanst schloss kurz die Augen, als könnte er dem bevorstehenden Moment dadurch entfliehen, was jedoch aussichtslos erschien. Er holte tief Luft und stand auf, um einen Stuhl näher an das Sofa und somit auch näher an Frau Blümle zu schieben. Jetzt war seine Professionalität und seine unschlagbare Ader zu improvisieren gefragt.
„Aber Frau Blümle! Nun beruhigen Sie sich doch!“
„Beruhigen? Beruhigen, ja wie! 26 Jahre, ohne dass ich einmal krank gewesen wäre. Was nicht heißt, dass ich das nicht gewesen wäre, aber hin bin ich trotzdem. Und jetzt entlassen die mich einfach so fristlos! Was soll ich denn jetzt tun, was soll ich bloß machen, was soll ich nun tun!“ Gebetsmühlenartig wiederholte Frau Blümle die Sätze.
„Damit kommen die nicht durch!“, sagte Alex sehr betont ruhig.
„Ja meinen Sie!“ Schon etwas ruhiger nippte Margarethe Blümle an ihrer Tasse.
„Ja, und da arbeitet meine Praxis ja mit den besten Rechtsanwälten zusammen!“
„Och Dr. Kanst, Sie sind der Beste! Ein Schatz!“ Instinktiv schob Alex den Stuhl, auf dem er saß, an welchem zum Glück Rollen angebracht waren, dezent zurück. Er wollte nicht Gefahr laufen, dass Frau Blümle in ihrer Euphorie versuchte, ihm einen Kuss aufzudrücken. Dafür waren ja all die anderen, und Tina.
„Leider habe ich heute nicht so viel Zeit! Aber meine Mitarbeiterin wird einen neuen Termin mit Ihnen vereinbaren!“ Mit diesen Worten war Alex bereits, noch kurz die Hand zu einem Gruß erhoben, aus dem Büro in den Flur geflüchtet. Den Leuten die Hände zu schütteln, das hatte er sich schon lange aus Angst vor Keimen abgewöhnt. Nicht immer konnte er sich der Situation entziehen, hatte jedoch immer desinfizierende Tücher dabei.
Tina hatte ihm noch einen sehr ernsten Blick zugeworfen, war sie es nun, die der armen Frau Blümle einen neuen Termin auf das Auge drücken musste. Aber erst nach Abschluss des Falles. So lief es ja immer. Tina wusste auch nicht, warum Alex noch immer die Praxis aufrecht hielt. Eigentlich würden die Unsummen an Honorar als bester Profiler Europas ja mehr als ausreichen, und doch schien Alex eine beängstigende Angst davor zu haben, dass sein Bankkonto leer sein würde.
Was nicht mehr geschehen konnte.
Natürlich konnte es auch sein, dass er die Praxis nur für sie weiterführte. Er wusste, dass sie diesen Job sehr dringend brauchte. Tina lächelte. So war Alex: durch und durch auf das Gute aus und absolut hilfsbereit. Auch wenn einige der Menschen ihn für unnahbar und manchmal sehr missmutig hielten, war er doch im Kern ganz anders. Natürlich hatte er ein ungesundes Verhältnis zu Sex und allen schönen Frauen der Umgebung, doch das war auch der Reiz, der es ausmachte, für diesen Chef zu arbeiten.
Immer wenn es wieder einen Fall gab, so wurde es in der Praxis ruhig. Tina konnte sich dann bezahlt freinehmen und sich ihrer kleinen Familie widmen. Nachdem Frau Blümle gegangen war, jetzt etwas geknickter als vorher, da ein neuer Termin noch nicht feststand, holte Tina in der unteren Schublade am Tresen, hinter dem Kopierpapier, eine neue blaue Kerze hervor.
„Schön! Dann kann ich ja die Nachtwache zusagen!“, dachte sie und verneigte sich vor Arsi.