Читать книгу Katholisch...oder? - Oliver Grudke - Страница 9
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Es war sonderbar! Nun war er schon so lange auf und doch hatte es den Anschein, dass er zu spät in seine Praxis zu seinem ersten Termin kommen würde. Hatte er gebummelt?
Nein, wohl eher keine Lust und eigentlich müsste er ja schon lange nicht mehr in die Praxis. Die fallweise Arbeit für die Polizei, seine zahlreichen Publikationen und seine Vorträge an international anerkannten Hochschulen, vor allem in London, hatten sein Konto mehr als dick gefüllt. Doch er war dazu zu sehr Schwabe.
Aber gerade an einem solchen tristen Montagmorgen war er sich sicher, dass die Tage der Praxis gezählt waren. Und vielleicht sollte er auch nicht mehr für die Polizei arbeiten. Bei seinem letzten Einsatz war er doch angeschossen worden und schwebte aus heutiger sich längere Zeit in Lebensgefahr. Nicht durch die Verletzung im eigentlichen Sinne, aber durch die Bedrohung des Mörders.
Egal, das hat das Land Baden-Württemberg eine schöne Summe gekostet. Einige seiner Jahrgänger würden mit so einer Summe ein kleines Einfamilienhaus bauen.
Der neue VW Tiguan fuhr auf die Landstraße in Richtung Hechingen. Lange war er immer den Umweg gefahren, doch nun fuhr er schon einige Monate wieder durch sein Heimatdorf, vorbei an seinem alten Haus aus einem anderen Leben und irgendwie aus einer anderen Zeit.
Es machte Dr. Kanst nichts mehr aus, fast fühlte es sich surreal an, als hätte es diese früheren Leben nie gegeben. Er war anders, schon fast neugeboren worden.
Und doch fand sein Blick nie das alte Haus wieder. Immer suchte dieser etwas zur Ablenkung. Sei es das Radio, sei es der Blick auf ein anderes Haus oder, wie heute, suchte er den Hebel für die Scheibenwaschanlage.
Vor ihm fuhr ein kleines rotes Auto, Dr. Kanst vermutete einen Japaner, doch dies war ja auch nicht wichtig.
Es war nur lästig! Lästig war, wie langsam der oder vermutlich war es eine sie oder am ehesten jemand aus der Gruppe der Senioren fuhr.
Nun hatte er es wieder getan. Er schob Unbekannte in vorgefertigte Schubladen. Genau das war es, was er ablehnte. Eigentlich! Er war ein Verteidiger der Individualität und der Freiheit des Denkens und Tuns eines jeden. Eigentlich! Doch nicht an einem nebligen Montagmorgen. An dem er schon zu spät war und der kleine rote Wagen ihm immer die Frontscheibe vollspritzte.
Plötzlich klingelte sein Handy.
„Kanst!“, sagte er barsch über die Freisprechanlage und hatte schon lange gesehen, dass es die Praxis war, welche anrief, und somit Tina.
„Hi, Chef! Habe die Termine bereits um zwanzig Minuten nach hinten verschoben und Herr Müller mit einem Kaffee und einem Motorradmagazin ruhiggestellt“, sagte Tina.
„Danke, du bist ein Schatz!“, sagte Dr. Kanst.
„Ich weiß, und hoffentlich flüsterst du mir dies bald mal wieder ins Ohr!“, sagte Tina schon fast singend.
„Versprochen!“
„Tschüüüüss!“
Nach zwölf Kilometern öffnete sich das ansonsten so enge Tal und gab den Blick auf Hechingen und seine schöne mittelalterliche Altstadt frei. Aber auch auf die Burg, welche Hechingen und irgendwie die ganze Gegend überthronte.
„Mist!“, murmelte Dr. Kanst und seine Laune war noch etwas tiefer gesunken. Eigentlich wollte er an diesem Morgen nicht hochsehen, und doch hatte er im linken Augenwinkel die Fahne gesehen. Ein Zeichen, dass der Fürst im Hause war und SIE für ihn damit unerreichbar. Immer noch!
Erst jetzt bemerkte er, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit weit überschritten hatte. Dies passierte ihm eigentlich nur selten. Was auch dazu geführt hatte, dass er als Inhaber eines Führerscheines seit 29 Jahren noch nicht einen Bußgeldbescheid für das zu schnelle Fahren bekommen hatte.
Dr. Kanst bremste seinen Tiguan herunter, bis die Tachonadel die vorgeschriebene Geschwindigkeit von 100 km anzeigte.
Er hatte seine innerliche Beherrschung verloren. Doch dazu hatte er nach seiner eigenen Überzeugung auch allen Grund. Fast ein Dreivierteljahr konnten sie sich nicht mehr treffen. Immer war dieser Fürst auf seinem Schloss.
Nicht einmal mehr an ihren Duft konnte er sich noch recht erinnern. So konnte es nicht weitergehen.
Montage waren einfach nicht seine Sache.
Vielleicht etwas zu schnell war er in die Fußgängerzone eingebogen. Natürlich musste sofort einer diese komplett in orange gekleideten Bauhofmitarbeiter ihm einen sehr energischen Blick zuwerfen und eine beschwichtigende Handbewegung hinterherschieben.
Der ganze Marktplatz wimmelte von Leuten in orange.
„Was machten die an einem so trüben Tag hier?“, fragte sich Alex Kanst und sogleich bekam er die Antwort, als einer dieser Typen in orange einen Fichtenbaum an seinem Tiguan vorbeizog.
Natürlich wurde bereits die Weihnachtsdekoration aufgestellt. Jedes Jahr früher. Sicher würden die es früher oder später gleich im September aufbauen, so konnte man die Stimmung länger halten oder aber sie völlig ruinieren.
Plötzlich fiel ihm das Schild Katholisches Pfarramt auf.
Oh ja, dass musste er auch noch erledigen. Irgendwie war es ja wichtig und er hatte es Rita versprochen. Also am besten gleich und jetzt.
„Mist!“ Natürlich gab es keinen freien Parkplatz und Alex Kanst fuhr komplett durch die Fußgängerzone, vorbei am Stadtschloss und zurück zur Einfahrt der Fußgängerzone. An guten Tagen konnte man so Stunden verbringen, ohne zu einem Parkplatz zu kommen.
Nicht er und nicht heute! Quietschend kam er direkt vor dem Eingang des Katholischen Pfarrbüros auf einem Behindertenparkplatz zum Stehen.
Sportlich schwang er sich aus seinem Sitz und bemerkte die eklige nasskalte Luft, welche ihm entgegenströmte.
Solche Tage hatte er auch schon in seiner beruflichen Tätigkeit als Forstingenieur nie leiden können. Doch seit diese Tage vorbei waren, kam es ihm so vor, als würde er diese Art von Wetter immer schlechter ertragen können.
Doch es gab eben nicht nur sonnige Tage.
Er würde nur ein paar Minuten brauchen, und dann schnell in die Praxis. Tina konnte seine Patienten ja nicht unbegrenzt umschichten.
„Aua, was für eine Sche…!“ Dr. Kanst unterdrückte das Fluchwort und rieb sich die Stirn. Das würde sicherlich eine dicke Beule geben und bestimmt der Auslöser für einen Migräneanfall sein.
Dr. Kanst war mit voller Wucht auf die geschlossene Tür des Katholischen Pfarramtes aufgeschlagen.
Geschlossen? Alex Kanst schaute auf seine Uhr. Es war viertel nach neun. Schon sehr spät für seine Patienten. Sicherlich müsste Tina einigen absagen. Dazu nahm er immer die, deren Termin in der Mitte des Tages lag, so gab es kein totales Durcheinander.
Vielleicht war es ja nur ein Irrtum. Sanft drückte er noch einmal gegen die Tür. Geschlossen!
Erst jetzt lachten ihn einige freundliche Gesichter an.
Das Büroteam der Seelsorgeeinheit Hechingen ist gerne für Sie da. Täglich von 11.05 Uhr bis 11.35 Uhr
Gerne? Täglich? Dr. Kanst merkte, wie in ihm die Empörung stieg! Was waren das für Bürozeiten?
Vermutlich so angelegt, dass erst gar niemand kommen wollte.
Aber er musste, heute, und er musste es persönlich erledigen. Eigentlich war er ja ein Fan der Mail, aber in diesem sehr sensiblen Falle musst er es persönlich erledigen und die Schweigepflicht oder wie es ja bei der Katholischen Kirche heißt das Beichtgeheimnis in Anspruch nehmen.
Mit noch schlechterer Laune trottete er zu seinem Behindertenparkplatz zurück und was er da sah, war das erste Erfreuliche an diesem trüben Montag. Lange, sehr lange blonde Haare, welche fast bis an den Poansatz reichten, entfernten sich gerade von seinem Auto.
„Schön!“, dachte Alex und merkte, wie er dem Drang, diese Frau anzusprechen, völlig erlag.
„Guten Morgen!“, rief er den blonden Haaren hinterher, so laut, dass die Frau sich umdrehte.
Doch das war nun nicht so schön. Denn das Gesicht, welches zu den schönen blonden Haaren gehörte, war versteinert und sehr ernst. Auch zeigte es Spuren von starkem Alkoholkonsum.
„Sie parken auf einem Behindertenparkplatz! Das kostet 50 Euro! Zahlen sie bar oder mit EC-Cash?“
Dr. Kanst war noch immer geschockt von der unnatürlichen Verbindung so schöner Haare und eines so hässlichen Gesichtes, dass er nicht sofort antwortete.
„Natürlich können sie den Betrag auch auf das Konto der Stadtkasse einbezahlen. Hier haben Sie einen Überweisungsträger. Und eigentlich sollten Sie sich schämen. Ein gesunder Mann stiehlt den Behinderten ihren Platz. Wünsche einen guten Tag!“
Mit diesen Worten war das hässliche Gesicht hinter dem nächsten Fahrzeug verschwunden. Dr. Kanst stand noch immer wie ein begossener Pudel da und hielt seinen Überweisungsträger als sei es ein Glückslos.
Nun war er sich sicher! Er sollte wieder in sein Bett in seinem neuen Haus. Was war eigentlich los? Kein Sex, schlecht geschlafen, zu spät zur Arbeit und dann noch der erste Strafzettel in seinem Leben. Und schuld daran war dieser Priester. Leider konnte er sich dafür nicht erkenntlich zeigen, denn er benötigte ja in Sachen Rita noch dessen Wohlwollen.
Hoffnung keimte auf, als er bemerkte, wie spät es war. So lange würde es Herr Müller nicht in seinem Wartezimmer aushalten. Dann hatte er diesen Typen wenigstens wieder für eine Woche von der Backe.
Alex Kanst stieg in den verglasten Aufzug und steckte den Schlüssel bei seinem Stockwerk rein. Ein individueller Aufzug nur für die Eigentümer. Nun machte sich die Müdigkeit aus der letzten Nacht doch schon sehr bemerkbar, aber man ist ja pflichtbewusst und erinnert sich an Tage, da das Portemonnaie leer war. Deshalb die Pflicht und deshalb auch die Arbeit. Wenn man dies einmal erlebt hatte, dann steckte dies in allen Knochen und man wird arbeiten, egal wie dick das Bankkonto ist.
Mit einem leichten Gong öffnete sich die Tür und Dr. Kanst eilte am Empfangstresen und der dort brennenden Kerzen mit einem leichten Gruß vorbei direkt in sein Büro.
„Morgen!“, brummte der Psychologe.
„Morgen Chef! Drei Termine abgesagt, einen verschoben und Herr Müller wäre dann jetzt soweit!“ Tina stöckelte auf ihren neuen Plateaustiefeln aus grauem Wildleder, welche über ihre Knie reichten, in einem schwarzen Strickkleid mit Zopfmuster hinter ihrem Chef her.
Alex Kanst seufzte. Er war sich sicher, diesen Müller nicht mehr sehen zu müssen. Doch wenn es erst mal nicht sein Tag war, dann war es halt so.
„Na gut, aber um 11 Uhr 5 muss ich noch einmal kurz weg!“
„Um exakt 11 Uhr 5?“ Tina lachte.
„Ja, so ist es und ich brauche einen sehr starken Kaffee. Ach ja, hier wäre noch eine Art Quittung, die bezahlt werden muss!“ Alex Kanst übergab sein Knöllchen an Tina.
„Ja Chef, ein Strafzettel, von unseren Stadtscheriffs! Was ist bloß los?“ Tina schien sich köstlich zu amüsieren.
„Tina, bezahlen und Herrn Müller!“
„Klaar! Hihihi!“
Frank Müller war mindestens zwei Meter groß. Schlank, schlaksig und hatte irgendwie das Mitgefühl von Alex Kanst. Insgeheim bezeichnete er ihn als den armen Kerl, der für vier Kinder nur zweimal Sex hatte.
Tatsächlich hatte die kleine, sehr pummelige Frau von Frank ihm gleich zweimal Zwillinge geschenkt. Frank mochte diesen Passus wohl eher nicht, aber im Rahmen der Gespräche nutze Dr. Kanst öfters den Passus, um die eigentliche Situation von Frank Müller etwas in ein besseres Licht zu rücken.
„Herr Doktor, das Wochenende war die Hölle! So kann ich nicht mehr weiterleben!“ Frank Müller zitterte am ganzen Körper. Dies tat er heute, und eigentlich an jedem Montagmorgen. Die Aufgabe von Alex Kanst bestand darin, ihn in einer Sitzung wieder fit für die Woche zu machen. Meist gelang ihm das, vor allem, weil Frank sich während der Woche überwiegend von seiner Familie fernhielt.
Er ging morgens um 5 Uhr aus dem Haus und kam erst wieder um 21.00 Uhr. Mittag aß er bei seiner Mutter im Nachbardorf. Dort verbrachte er auch seinen Feierabend.
Nur am Wochenende klappte dies natürlich nicht und seine Frau verlangte vollen Einsatz bei der Betreuung von vier Kindern. Sex gab es keinen mehr, was Dr. Kanst eher erfreute, wie schnell waren ohne Kondom aus vier sechs geworden. Die Frau von Frank war seine erste und einzige und vermutlich letzte Freundin und Frau!
Also lag Alex Kanst wohl bei zwei zu vier richtig!
„Na, so schlimm kann es ja nicht gewesen sein!“, sagte der Arzt und dachte dabei an sein schlimmes und Sex loses Wochenende.
„Doch doch, es hat ja fast immer nur geregnet und deshalb musste ich das ganze Wochenende mit Bauklötzen und blöden Puppen auf dem Boden liegen!“
„Gut, das Wetter macht uns allen einmal einen Strich durch die Rechnung. Aber gab es nicht auch Momente, die sie berührt haben. Lachende Kinderaugen, ein dankbarer Blick?“
„Ja, ja schon! Aber meine Frau, glauben Sie mir, die stinkt! Ich denke, die wäscht sich nicht mehr, ganz bestimmt!“
Solche ekligen Details mochte Dr. Kanst nicht und heute schon gar nicht.
„Sehen Sie, ein lachendes Kinderauge gibt einem doch sehr viel zurück. Nun liegt ja eine entspannte Woche vor Ihnen und das nächste Wochenende soll noch einmal sehr sonnig werden. Dann können Sie hinaus auf Ihren Spielplatz und die Meute rennen lassen!“, log Dr. Kanst und war bereits aufgestanden, um Herrn Müller zu verabschieden.
„Gut, wenn Sie meinen. Ich fühle mich auch schon besser. Jetzt hatte ich ja fast den ganzen Morgen Zeit für mich: Übrigens, Sie haben tolle Magazine in Ihrem Wartebereich!“ Frank Müller drückte sehr innig die Hand von Alex Kanst. Eine Verspätung war wohl die beste Therapie für den jungen Familienvater.
Alex Kanst desinfizierte seine Hände, schließlich möchte ja keiner die Keime der unteren Bevölkerungsschicht an den Händen oder sonst wo haben. Als er in den Flur schaute, ob bereits der nächste Patient wartete, bemerkte er erneut die brennenden Kerzen auf dem Tresen. Eigentlich waren diese ihm ja schon beim Hereinkommen aufgefallen. Doch erst jetzt weckten diese blauen Kerzen seine Neugierde.
Natürlich war nächste Woche der erste Advent, doch selbst im Advent brannten nie Kerzen auf dem Tresen von Tina.
Tina saß mit dem Rücken zum Tresen und war in den Tiefen des Webs gedanklich verschwunden. Alex Kanst sah nun drei blaue Kerzen auf seinem Tresen. Nun, der Advent benötigte vier und man nahm ja auch eher die roten oder goldene. Natürlich wusste er nichts über den aktuellen Modetrend in Sachen Weihnachten. Er erinnerte sich, als seine Cousine ihm einmal grüne Christbaumkugeln geschenkt hatte. Grüne Kugeln an einem grünen Baum. Ein Trend, der sich nicht durchsetzte. Alex lachte.
„Na, ist Blau der Trend in diesem Jahr für die weihnachtliche Dekoration überall?“
Tina blickte verdutzt auf, erst dann sah sie ihren Chef auf die Kerzen zeigen. Lächelnd stand sie auf.
„Aber nein! Sieh mal, Chef!“ Voller Stolz zeigte Tina auf eine 30 cm hohe Statue aus Gips, welche sich neben dem Faxgerät befand. Links und rechts der Statue ebenfalls zwei blaue Kerzen. Die Statue trug eine schwarze Kutte, welche fast alles überdeckte, sodass man kein Gesicht sehen konnte.
„Ha, was ist das, Darth Vader?“
„Aber nein, das ist die heilige Arsi, Chef. Dass du das nicht weißt?“
„Die heilige … was?“
„Arsi!“
Dr. Kanst war katholisch und in seiner Kindheit natürlich auch Messdiener. Später unterstützte er noch die Katholische Gemeinde in seinem Heimatort als ehrenamtlicher Pfarrgemeinderat.
In seinem alten Leben, in einer anderen Zeit.
Dennoch hatte er noch nie etwas von einer heiligen Arsi gehört.
„Komm, du verkaufst mich für dumm!“ Dr. Kanst lachte und bemerkte plötzlich, wie sich das Gesicht von Tina verfinsterte.
„Nein, bestimmt nicht! Das ist die hl. Arsi aus Slepvice. Das ist ein Ort in Bosnien. Dort erscheint die Heilige jeden Monat einem emeritierten Priester in einer Höhle. Sie beschützt uns und hält die bösen Mächte von uns fern! Du musst ja nicht daran glauben, aber so lange fünf blaue Kerzen brennen, ist sie in demselben Raum zugegen!“ Tina stöckelte an dem verdutzten Dr. Kanst vorbei und rief den nächsten Patienten auf.
Eine Mitarbeiterin des Landratsamtes hatte einen Burn-out. Ein Routinefall, doch Dr. Kanst konnte sich nicht konzentrieren.
„Die hl. Arsi!???“, ging dem Psychologen nicht aus dem Kopf. Tina arbeitete nun schon fast acht Jahre bei ihm. Man konnte alles mit ihr durchstehen, doch gläubig war sie nie und auch bestimmt kein Kirchgänger. Er beschloss, alles über diese Figur aus Gips herauszufinden, denn in seinem Magen machte sich ein mulmiges Gefühl breit.
„11.03 Uhr!“ Tina hatte kurz die Tür aufgestoßen und schon eher schnippisch Alex Kanst an seinen so wichtigen Termin erinnert!
„Ich habe doch recht, oder? Herr Doktor?“, sagte die leicht übergewichtige kurzhaarige Mittfünfzigerin, welche auf dem schwarzen Ledersofa im Behandlungszimmer von Alex Kanst saß.
„Ja, natürlich! Das sehe ich genauso!“, bestätigte Dr. Kanst. Doch um was es eigentlich ging, konnte er nicht sagen, da er überhaupt nicht zugehört hatte. Auf seinem Block stand: Magarete Blümle, 54, fühlt sich gemobbt. Sachbearbeiterin im Umweltamt Referat 21 des Zollernalbkreises. Also alles in allem ein Routinefall für den Psychologen. Alex Kanst gingen immer noch die blauen Kerzen auf seinem Tresen im Kopf herum. Er lächelte Frau Blümle an.
„Deshalb sehe ich schon bald eine Lösung in Ihrem Problem!“ Dr. Kanst stand auf und streckte Frau Blümle seine Hand entgegen. Doch Frau Blümle war verdutzt und blieb sitzen.
„Ja, … aber, ich meine … sind wir schon fertig?“
„Für heute, wir werden natürlich noch die eine oder andere Sitzung benötigen. Lassen Sie sich am besten gleich einen neuen Termin geben. Frau Flammer ist am Empfang!“ Dr. Kanst hatte bereits die Tür zu seinem Sprechzimmer geöffnet und die immer noch verdutzte, aber mittlerweile aufgestandene Frau Blüm sachte in den Korridor geschoben. Dann griff er nach seiner grauen Fließjacke. Eine neue Anschaffung aus dem Forstfachkatalog. Noch immer könnte er eigentlich alles aus diesem Katalog brauchen, und doch benötigte er eigentlich nichts mehr in seinem neuen Beruf. Er versuchte, sich seine Eile nicht anmerken zu lassen und ging betont und ruhig am Tresen vorbei, wo gerade Tina Frau Blümle einen neuen Termin im neuen Jahr schmackhaft zu machen versuchte. Tina sah nicht auf.
„11.18 Uhr!“, zischte es schadenfreudig hinter dem Tresen hervor.
Alex Kanst nahm die Treppe, nicht den Aufzug. Er war sich sicher, wenn er zwei Stufen auf einmal nehmen würde, dann würde er schneller als der hochmoderne Aufzug sein. Als er über den Kirchplatz rennen wollte, kam gleich eine ganze Kolonne von Autos und keines hielt an, obwohl dies eine Fußgängerzone war und eigentlich nur Anlieger durchfahren dürfen. Kurz dachte er an die so nette Frau vom Ordnungsamt, ob diese sich auch den so netten Autofahrern widmete oder nur einigen Falschparkern.
Jetzt schlug die Glocke der Hechinger Stiftskirche 11.30 Uhr. Dr. Kanst rannte, doch bremste noch einmal kurz vor der Tür des Büros der Seelsorgeeinheit ab. Noch einmal wollte er sich nicht den Kopf anschlagen.
Er hatte Glück, denn es war noch geöffnet. Als er den Raum betrat, fiel ihm als Erstes der modrige Geruch nach abgestandener Luft auf.
„Also, eigentlich haben wir schon geschlossen!“, krächzte eine Stimme aus der dunklen hinteren Ecke. Diese gehörte zu einer blassen dürren Frau um die 60, welche mit einem unheimlichen Aufwand an schwarzer Farbe und Lockenwicklern versucht hatte sich eine Frisur anzueignen.
„Zuerst einmal grüß Gott! Was können wir denn für sie tun?“, sagte nun eine Stimme direkt vor ihm hinter einem billigen Tresen aus weißem Pressspanholz. Sowas wäre ja gänzlich unter seiner Würde. Sein Tresen am Empfang war natürlich aus 300-jährigem Eichenholz gezimmert.
Erst jetzt blickte er in das Augenpaar, das zu der Stimme gehören musste. Die Frau war aufgestanden, denn sonst hätte sie aufgrund ihrer Größe keine Möglichkeit gehabt, den Besucher zu sehen.
„Ja, ich würde gerne den Pfarrer sprechen!“, sagte Dr. Kanst mit belegter Stimme, dem seine Mission nun umso lästiger und peinlich erschien.
„Hmm, ja zu welchem möchten Sie gerne?“, fragte die pummelige Frau mit rundem Gesicht.
„Wieso? Gibt es mehrere?“
„Ja, also wir haben den Kaplan Müller, dann den Vikar Dr. Amuso, dann den Pastoralreferenten Röricht und …“
„Also er war ungefähr so groß und hatte einen Kinnbart!“, unterbrach Dr. Kanst und merkte, wie ihm plötzlich immer heißer wurde.
„Ja du, Myriam, der meint doch den Pfarrer!“, sagte nun die Schwarzhaarige. Dr. Kanst atmete tief ein: Hatte er was anderes gesagt.
„Ach so, sie wollen zum Leiter der Seelsorgeeinheit, Herrn Kinder!“, sagte nun die Pummelige.
Aber genau das wusste er nicht, er hatte ja nicht nach dessen Namen gefragt, aber ein Leiter war immer der Chef und der würde diese lästige und peinliche Situation schon in den Griff bekommen.
„Ja, aber doch nicht an einem Montag!“, krächzte jetzt wieder die Schwarzhaarige. Alex Kanst war verwirrt. Doch er wollte, und zwar heute, jetzt also halt an einem Montag.
„Ich möchte den Herrn Pfarrer nur kurz in einer privaten Angelegenheit …“
„… Beerdigungen können wir diese Woche keine mehr annehmen, alles voll. Und überhaupt, waren sie schon beim Bestatter? Weil der eigentlich alles direkt mit uns abstimmt, wissen sie!“, krächzte nun schon wieder die Schwarzhaarige!
Das wusste Alex Kanst natürlich nicht, aber er war ja auch noch nicht beim Bestatter, sondern wollte nur den Pfarrer wegen Rita sprechen.
„Also es geht nun wirklich nicht um eine Beerdigung, sondern …“
„… Und Hochzeiten gehen erst wieder ab Mitte März bis zur Karwoche! Dann erst wieder ab …“
„Ich möchte auch nicht heiraten! Sondern nur kurz den Herrn, ähm Kinder sprechen! Mein Name ist Alex Kanst, Dr. Alex Kanst.“
„Uah!“, schrie nun die Pummelige plötzlich auf. Dr. Kanst wusste nun nicht, ob sein Name der Grund gewesen war oder ob diese Pummelige nun an einem Herzinfarkt herunterging. „Ist der Herr Pfarrer krank?“ Dr. Kanst atmete tief ein und wollte gerade zur Erklärung übergehen, als die Tür zum Büro erneut aufging und eine Frau um die Sechzig eintrat.
„Gelobt sei Jesus Christus!“, rief diese in den Raum, ohne dabei jemanden anzusehen. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Prospektzettel von einem Discounter.
„In Ewigkeit, amen!“, antwortete das Büroteam im Chor. Dr. Kanst sagte nichts, wurde aber auch demonstrativ von der Frau als störender Faktor ignoriert.
„Also, ich will nur kurz dem Herrn Pfarrer den Prospekt geben. Bald ist Weihnachten und diese Woche gibt es billige Christbaumbeleuchtung bei einem Discounter. Mir ist es ja auch egal, man kann ja auch noch die alte nehmen.“ Die Frau legte den Prospekt auf den Tresen und verließ grußlos das Büro.
Die Pummelige griff sich den Prospekt und legte diesen in ein Fach.
„Tja, also noch einmal zu meinem Anliegen, es ginge da um etwas, das ich unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit dem Herrn Kindler besprechen möchte!“ Alex Kanst setzte sein besonders gutes Lächeln auf und ließ sein Augenbrauen dabei tanzen.
Jetzt bekam die Pummelige rote Bäckchen. Ein Zeichen für seinen Erfolg.
„Gott sei Dank, dann ist er nicht krank! Aber heute geht das nicht. Montags hat der Pfarrer immer frei. Also wenn Sie morgen wiederkommen wollen.“ Sie lächelte leicht schüchtern.
„Aber Myriam, heute ist doch der 23.!“
„Ah ja, der 23. Ja dann!“ Freudig lächelte die Pummelige nun wieder Dr. Kanst an. Dieser kullerte mit den Augen und sagte leise: „Ja, es ist der 23. November!“
„Ja, und an jedem 23. wird doch die Messe von der Arsi-Familie gelesen. Und das macht er immer, auch wenn er frei hat. Da können Sie natürlich zur Beichte gehen. Da beichten alle! Warten Sie, ich gebe ihnen den Flyer!“ Die Pummelige drückte Dr. Kanst einen Flyer in die Hand und schob ihn leicht zur Tür hinaus.
„Der Gottesdienst beginnt um 19.00 Uhr in der Spittel Kirche. Aber schon vorher kann man beichten und sich eine Inspiration abholen!“
Nun stand er wieder auf dem Kirchplatz, und seine Mission war immer noch nicht erledigt. Doch er hatte nun einen Flyer von der „Arsi-Familie“? Alex Kanst war es ganz schummerig und die Stiftskirche schlug 12 Uhr mittags.
„Zeit zum Essen!“, dachte Dr. Kanst. Vor 14 Uhr gab es keine weiteren Termine. Tina fuhr in der Zeit immer zuerst in die Grundschule und dann nach Hause, um mit dem zehnjährigen Sohn zu essen. Anschließend fuhr sie diesen zu seiner Oma, um dann pünktlich um 13.45 Uhr die Praxis wieder zu eröffnen.
Dr. Kanst beschloss, es sich heute wenigstens zum Essen gut gehen zu lassen. Langsam ging er in Richtung des Obertorplatzes, wo er eine sehr gute Gaststätte kannte und dort schon fast als Stammgast bezeichnet werden konnte.
Nachdem sich die automatische Tür geöffnet und gleich hinter ihm wieder geschlossen hatte, wurde er von überall her freudig begrüßt. Ein „Hallo“ hier, ein „Grüß Gott“ dort. Noch gab es etwas Platz und er setzte sich in den hinteren Raum, welcher durch die große Glasfront nicht so einsehbar war. Beim Essen will man ja nicht beobachtet werden. Jetzt fiel ihm wieder die junge und gutaussehende Bedienung auf. Offensichtlich war er länger nicht mehr hier. Denn die Haare der jungen Frau hatten für seinen Geschmack nun wieder eine passable Länge angenommen. Wie hieß sie gleich noch? Dr. Kanst fiel es nicht ein.
„Irgendwas mit der Raumfahrt!“, dachte er, doch ein Ergebnis wurde daraus nicht.
„Darf ich etwas zum Trinken bringen?“ Die junge Frau hatte ein kleines Tablet und einen Stift gezückt.
Routiniert und noch in Gedanken sagte er:
„Klar, ein Hefe!“
„Klasse, kommt sofort!“ Noch ein Lächeln und die Speisekarte wurde Alex Kanst in die Hände gedrückt. Jetzt bemerkte er seinen Fehler: Ein Bier am helllichten Tag und dabei hatte er ja noch zu arbeiten. Geschweige denn von dem Problem mit der Kirche. Also dies ging nun wirklich nicht. Was war heute mit ihm los? Alles war aus den Fugen geraten, wie konnte er nur jetzt ein Bier bestellen? Er musste es rückgängig machen!
Sehr smart winkte er der Bedienung, als sie gerade Flädlesuppe am Nachbartisch verteilte.
„Das Hefe kommt gleich!“ Sie lächelte und verschwand in Richtung Theke. Und schon stand ein frisch gezapftes Hefeweizenbier 13 Minuten nach 12 Uhr vor Dr. Kanst. Wegschütten konnte er es ja auch nicht, also …
Dazu bestellte er sich vier Maultaschen geschnitten und mit Ei überbacken. Eine echte Monsterversion, aber seinen Nerven tat dies gut.
So langsam füllte sich auch die Gasstätte. Viele Büros und vor allem das Gericht machten erst um 12.30 Uhr Mittagspause. Gerade als er darüber nachdachte, was die Gasstätte hier wohl für eine Goldgrube wäre, huschte ein Schatten an ihm vorbei und setzte sich plumpsend neben ihn an seinen Tisch.
„Entschuldigung!“, drang es etwas entrüstet aus ihm heraus, als er bemerkte, dass es Frau Rieger, seine Rechtsanwältin war. Frau Rieger war etwas klein und schon sehr pummelig, aber eine Powerfrau, wenn es um Dinge ging, die man erstreiten sollte.
„Oho, Alkohol schon zu Mittag, also Alex, wo sind die Prinzi pien?“
„Heute kurz ausgesetzt!“, sagte der Psychologe etwas barsch.
„Und die gute Laune auch?“, wollte nun Frau Rieger wissen.
Alex Kanst atmete tief ein.
„Nein eigentlich nicht, es ist nur so, dass ich da gerade einen komplizierten Fall habe, bei dem ich, naja, nicht so richtig weiterkomme!“
„Also, wenn ich da behilflich sein kann, jederzeit!“ Frau Rieger bestellte ein Wasser medium.
Frau Rieger ließ nicht eine Möglichkeit vorbeiziehen, um Werbung für die Kanzlei zu machen. Diese war erst kürzlich in das neue alte Haus, welches sein Steuerberater Sepp Birkner erworben und renoviert hatte, eingezogen. Alles neu und offensichtlich teuer, also benötigte man viele oder wenige, aber dafür ertragreiche Aufträge. Alex Kanst überlegte kurz und beschloss dann doch dankend abzulehnen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als heute im Penthaus zu schlafen und in die Unterstadt zu laufen, um an einem Gottesdienst teilzunehmen. Mit einem Bier im Blut würde er nicht mehr Auto fahren.
Ein weiteres Prinzip, das er nicht auch noch zu brechen gedachte. Und dann benötigte er noch unbedingt Sex. Sein Blick blieb am Po der Bedienung haften.
„Ein anderes Mal vielleicht!“, dachte er und winkte diese zu sich, um zu bezahlen.