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Kindl oder Schultheiß?

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Der erste Teilabschnitt der Transitstrecke nach Berlin war geprägt durch allgemeines Schweigen, immer kurz ausgesetzt durch Hilferufe an den Busfahrer, dass er bitte einen Rasthof ansteuern soll, weil viele Blasen aufgrund Überfüllung zu platzen drohten.

Doch der nächste Halt war erst frühestens in anderthalb Stunden zu erwarten.

Ab und zu unterbrach „Jochen, du Spast“ die Stille im Innenraum des Busses.

Die Stimmung war hochexplosiv. Der Busfahrer musste handeln. Er steckte Markus Kassette wieder in das Radio. Vielleicht kann die Musik die Insassen von dem Thema Notdurft ein wenig ablenken. Doch echte Stimmung wollte nicht mehr aufkommen. Weder „Johnny B“ von den Hooters, „La Bamba“ von Los Lobos, noch die Titelmelodie aus der Kultserie „Miami Vice“ konnten an der angespannten Lage noch etwas ändern.

Dann kam Kraftwerks Song „Musique Non Stop“ aus ihrem neuen Album „Electric Café“. Das Lied begann mit dem gesprochenen Dreiklang „Boing Bum Tschak“. Dieser wiederholte sich einige Male. Dann setzte eine Bariton artige Männerstimme ein, die nun den Titel des Songs „Musique Non Stop“ sehr langgezogen sang. Wiederholt wurde diese Textzeile dann noch von einer blechernen, roboterartigen Stimme, die wohl von einem Synthesizer kreiert wurde.

Etwas angewidert und irritiert von dieser musikalischen Darbietung schaute sich Herr Mannheimer im Bus herum, um die Reaktionen der anderen Mitreisenden hierzu einzufangen. Als sein Blick bei Richie stehen blieb, drehte dieser seinen Kopf roboterartig zu ihm um und sang in gleicher Tonlage der Roboterstimme vom Band „Musique Non Stop“.

Herr Mannheimer schaute Richie fassungslos an. Mit einem heftigen Kopfschütteln ging er nach vorne zum Busfahrer und entfernte die Kassette entnervt aus dem Schacht des Autoradios und warf sie in Richtung Richie.

Bis zur geplanten Raststelle war es mausestill. Kaum wurde die Rast angekündigt, löste sich die Stille in heller Freude auf. Wir Jungs freuten uns zusätzlich auf den ersten Besuch eines Intershops, der auch an dieser Raststätte zu finden war. Dort konnte man als westlicher Tourist Westwaren zum Sonderpreis erstehen. Und das mitten in der Ostzone.

Nachdem sich alle erleichtet hatten, gingen viele Teilnehmer der Reisegruppe in den Intershop. Dort entdeckte Markus das Angebot des Monats. Eine Stange PEER Filterzigaretten für nur 18 Mark. West. Bingo. Auf das Spirituosen-Angebot des Monats, eine Flasche Nordhäuser Doppelkorn, verzichtete er gerade noch rechtzeitig. Zum Glück hatte er im Augenwinkel noch Herrn Mannheimer in den Intershop eintreten sehen, bevor er die Flasche der Kassiererin übereichte. Er konnte die Flasche noch unbemerkt an ihre angestammte Position zurückstellen.

Mit entleerter Blase und der Gewissheit in spätestens 2 Stunden in der Berliner Unterkunft anzukommen, stieg die 10 b gut gelaunt in den Bus. Für die letzte Teilstrecke durften die Mädels nochmal für das musikalische Rahmenprogramm sorgen.

Den Jungs war das schnuppe. Denn so langsam zeigte der bereits heimlich konsumierte Alkohol Wirkung. Neben den konsumierten Bierdosen, die sie im Rasthof Rimberg holten, gesellten sich nun auch kleine Fläschchen Wilthener Goldkrone hinzu, einem Weinbrand-Verschnitt, der im Osten damals bei jedem Anlass als Genuss deklariert wurde. Diese Fläschchen holte Jochen heimlich im Intershop. Davon hatte keiner etwas mitbekommen, weder Herr Mannheimer, noch wir.

Selbst bei Nummern wie „Respectable“ von Mel & Kim und „It´s a sin“ von den Pet Shop Boys pfiffen die bereits leicht angetüdelten Jungs mit.

Bei „Caravan of love“ von den Housemartins sangen Markus und Martin sogar lauthals mit.

Bei einen der unzähligen Refrains

„Every woman every man

Join the caravan of love

(Stand up) stand up

Stand up“

schauten die beiden Freunde nach links, wo Richie und Jochen saßen.

Doch was war das? Sie schauten sofort wieder weg. Und wieder hin. Und sich gegenseitig an. Beide glaubten nicht, was sie gerade gesehen haben. Richie trank weiterhin Bier. Aber nicht mehr aus der Dose. Nein. Er benutzte als Transportmittel nun das auf dem Rasthof Rimberg teuer ersteigerte Kondom in Form einer Neandertalerkeule, um sich das Bier munden lassen.

Nachdem sich Martin und Markus nochmal anschauten, brachen beide in ein schallerndes Gelächter aus. Sie prusteten sich und hatten ihre liebe Mühe und Not sich nicht vor Lachen buchstäblich in die Hose zu machen.

„Das arme Mädchen, das nun um die Erfahrung gebracht wurde von einer Neandertalerkeule zum Orgasmus ihres Lebens gebracht zu werden“ prustete Markus. Das war zu viel für Martin. Er verlor seine Beherrschung und ließ seine halbvolle Bierdose auf den Boden des Busses fallen. Zum Glück war sein Lachen so laut, dass niemand den Aufprall der Dose bemerkt hatte.

„Ist alles okay bei euch?“ fragte Herr Mannheimer nach hinten.

„Alles bestens“ konterten die vier Freunde nach vorne.

Mithilfe der Taschentücher, die Markus und Martin von mindestens 10 Mitschülerinnen zusammenschnorrten, konnte die Bierlache trocken gelegt werden und der Schaden begrenzt werden. Richies Deo mit „Moschus“ Duft tötete dann auch noch den Biergeruch komplett.

Beim heimlichen Aufwischen spielte nun das Mixtape „Guten Morgen liebe Sorgen“ vom damals, neben Otto, deutschem Vorzeigekomiker, Jürgen von der Lippe, ab. Wie passend.

Ohne weitere nennenswerte Zwischenfälle und mit ein wenig Schlaf, nahm der Bus die letzte Etappe in Richtung Berliner Stadtgrenze auf.

Die Grenzabfertigung ging sehr schnell und die Reisegruppe kam im Stadtteil Lichtenrade an, wo unsere Jugendpension beheimatet war. Lichtenrade ist der südlichste Ortsteil von Berlin und war vom damaligen Zentrum Berlins, dem Kudamm, 20 km entfernt. Außerdem war rund um Lichtenrade Sperrgebiet, d.h. Ostzone. Aber das war den Freunden egal. Sie waren in einer Großstadt. Und in einer der aufregendsten der Welt.

Die Jugendpension war neu renoviert. Sie bestand aus drei Stockwerken. Im Erdgeschoss war neben dem Frühstücksraum auch ein Gemeinschaftsraum mit Tischtennisplatte. Die beiden weiteren Stockwerke dienten zur Beherbergung der Austauschschülerinnen und – schüler. Für immer jeweils 5 Schülerinnen bzw. Schüler gab es eine 5er Wohneinheit, d.h. ein Dreierzimmer und ein Zweierzimmer, die durch einen kleinen Flur voneinander getrennt waren und der auch zu einer Toilette mit Waschbecken führte. Zu den Sammelduschen gelangte man am Ende des jeweiligen Flures.

Markus, Martin und Jochen bezogen ein Dreierzimmer, das dazugehörige Doppelzimmer Richie und Frank. Sie schmissen schnell ihre Taschen und Koffer auf ihre Betten.

Eine Tasche leerten sie komplett aus und gingen mit ihr nach draußen. Sie hatten bemerkt, dass in der Straße, in der sich die Herberge befindet, auch eine Trinkhalle ist. Die Trinkhalle ist praktisch der Vorgänger der heutigen Spätis, die es damals noch nicht gab. Auch nicht in Berlin.

Markus, Martin und Richie betraten nun die etwas heruntergekommene Trinkhalle. Frank haben sie in der Jugendherberge gelassen, da er mit allen Mitteln versuchen muss Herrn Mannheimer abzulenken. Er durfte auf keinen Fall Kenntnis vom neuen Inhalt von Markus Sporttasche haben bzw. die drei Freunde auf frischer Tat erwischen.

Sie wandten sich dem dicken, glatzköpfigen und ungepflegten Besitzer des Ladens zu.

„Wat wollense?“ fragte er desinteressiert in seinem Berliner Dialekt. Er schaute dabei nicht von seiner Lektüre auf, der Berliner Tageszeitung „BZ“, ein regionaler Abklatsch der Bild Zeitung.

„Haben Sie Dosenbier?“ stellte Martin vorsichtig die Gegenfrage.

„Wollen se mir verarsche?“

Nun kam der dicke Ladeninhaber auf Betriebstemperatur. Er warf die Zeitung zur Seite, richtete sich auf, bekam einen puterroten Kopf, ging in Richtung Markus und Martin. Etwa 10 cm vor ihnen blieb er stehen, so dass sie sogar seinen Zahnbelag und Mundgeruch wahrnahmen. Er schrie sie an:

„Ick hab den janzen Scheissladen hier voll mit Bier.“

„Och in Dosen.“

„Prima.“ jauchzte Richie.

Nach dem kurzen Gefühlsausbruch sank der Bierbaron von Lichtenrade wieder in sich zusammen und schaltete wieder in den Langweilermodus um.

„Kindl oder Schultheiß?“ wollte der Ladeninhaber nun der Vollständigkeit halber wissen.

„Wie bitte?“ entgegnete ihm Markus achselzuckend.

„Na, welchet Bier? Kindl oder Schulteiß?“

„Dit sind die beeden bekannten Berliner Biermarken, ihr doofen Wessis.“

Nun stieg der Adrenalinhaushalt des Büdcheninhabers wieder. Aber nur kurz. Er merkte, dass sich die Aufregung nicht lohnte. Diese Jungs sind halt dumme Teenies vom Lande.

„Scheißegal.“ konterte nun Markus mit gleicher Lautstäke und Aggressivität.

Martin stellte sich vor seinen Freund und ergänzte mit beschwichtigender Stimme:

„Wir nehmen jeweils 10 Dosen Kindl und Schultheiß bitte. Können Sie diese bitte in diese Tasche packen. Und bitte noch 4 Dosen Cola. Dankeschön“

Sie bezahlten artig und liefen im Stechschritt wieder zurück.

Zufrieden und voll beladen kamen die drei wieder zurück in die Pension.

Frank hatte Herrn Mannheimer in die Mangel genommen und ihm Löcher in den Bauch zur Geschichte von Berlin gefragt, bis dieser entnervt in sein Zimmer gegangen ist, wo er fürs erste nicht mehr gestört werden will.

Die vier Colas für Frank waren wirklich gut investiert. Markus bedankte sich herzlich bei Frank fürs Schmiere stehen und überreichte ihm seine Prämie.

Doch wie aus dem Nichts nahm Richie ihm eine Dose weg und öffnete sie gleich. Er nahm einen kräftigen Schluck und griff anschließend in die Innentasche seiner Jeansjacke. Es kam ein kleiner Flachmann der Marke Chantré Brandwein zum Vorschein. Er öffnete sie und goss einen Großteil des Fläschchens in die Cola Dose. Dann nahm er einen erneuten Schluck aus der Dose. Der Schluck Cola mit Schuss verursachte ein Glücksgefühl in ihm. Er lächelte die anderen an. Er wandte sich Markus zu, gab ihm die Dose und fügte hinzu:

„Ich wusste ja nicht, dass ihr die Cola pur trinken wolltet“.

Dann ließ er die anderen staunend zurück und ging auf die Toilette.

Richie hat wohl den Zwist zwischen Markus, Martin und dem Trinkhallenbesitzer dazu genutzt, um sich die Taschen im wahrsten Sinne des Wortes mit allen möglichen Dingen, den sogenannten kleinen Freuden des Lebens, voll zu machen.

_______

Mit einem Lächeln wachte Markus 5 Minuten vor dem Wecker auf.

„Kindl ging ja gar nicht. Da war Schultheiß noch das geringere Übel.“

Mit diesem Satz verschwand er in Richtung Badezimmer und ließ eine verdutzte Ehefrau zurück.

Zurückspulen nicht vergessen!

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