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Die neuen Antipoden: It’s the identity, stupid!
ОглавлениеDer Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital dominierte lange die politische Agenda. Mindestens seit der Industriellen Revolution galt er als Kernthema moderner Gesellschaften. Für Bill Clinton war im Präsidentschaftswahlkampf 1992 noch klar „It’s the econonomy, stupid!“. Aber nicht nur der Blick auf die neue politische Landkarte verrät, dass es heute nicht mehr klassische ökonomische Debatten, nicht mehr Sozialismus und Liberalismus sind, die Debatten bestimmen. Kultur- und Identitätsfragen bestimmen die Agenda.
Ob Brexit, Trump, der Aufstieg der AfD oder der grüne Hype 2019 (vor allem im deutschsprachigen bzw. nordeuropäischen Raum, was es später zu erklären gilt): Die neuen gesellschaftlichen Bruchlinien sind nicht ökonomischer, sondern kultureller Natur. Von einer Klassengesellschaft kann trotz berechtigter Kritik an sozialen Missständen keine Rede mehr sein. „Die Politik war während beinahe des gesamten 20. Jahrhunderts geprägt von wirtschaftlichen Themen“, schreibt Francis Fukuyama in einem Essay im Magazin „Foreign Affairs“.1 „Heute hingegen ist sie weniger von ökonomischen oder ideologischen Sorgen bestimmt als von Fragen der Identität.“ In einer materiell halbwegs saturierten Gesellschaft nimmt Unzufriedenheit scheinbar nicht mehr ab, sondern zu. Kann es also sein, dass je größer der Wohlstand der Allgemeinheit wird, sich der Einzelne umso schlechter fühlt?
Der Sozialpsychologe Steven Pinker zeigt, dass das Leben der Menschen auf dem Planeten in der Summe sehr viel besser geworden ist. „Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt“ – der Untertitel seines lesenswerten Buches „Aufklärung jetzt“ spricht Bände. Mit zahlreichen Statistiken stellt er nachvollziehbar dar, was sich für die Menschen verbessert hat: Die Lebenserwartung ist massiv gestiegen, die Arbeitszeit gesunken, die Zahl der Demokratien gestiegen, Krankheiten wurden eingedämmt oder ausgerottet. Pinker erklärt in seinem Buch aber auch, wieso der offensichtliche Fortschritt nicht gewürdigt wird: Die Gegner der Aufklärung mobilisieren Wut und Zukunftsangst, starke Emotionen. Ob autoritäre Populisten oder andere „Schwarzmaler“, er attackiert rechte und linke Fortschrittsfeinde. Er warnt vor dem Klimawandel und setzt auf Kernkraft und Innovation.
In den USA, der einzigen demokratischen Weltmacht unserer Zeit, sind bereits zwei politische Parallelwelten entstanden. Obwohl beide bereits lange Bestand haben, besteht heute ein scheinbar unüberbrückbarer Unterschied zwischen einem ländlichen, von weißen Männern geprägten, Amerika und einem eher städtischen, multikulturell, feministisch und eher linksalternativ geprägten Milieu. Ein Blick auf die politische Landkarte in Deutschland verrät, dass AfD (ländliche Gebiete im Osten) und Grüne (Städte im Westen) ähnliche Milieus in Deutschland vertreten und dabei eine Art kultureller Hegemonie für diese entwickelt haben.
Nachdem die AfD in der Anfangsphase zunächst primär eine direkte Reaktion auf die Euro-Rettungspolitik von Angela Merkel schien, war schnell zu beobachten, dass kulturelle Fragen immer dominierender wurden. Nation und Identität, die Angst vor Fremden und vor drohender Überfremdung. Gleichzeitig die radikale Gegenbewegung und das Ablehnen aller so gearteten Sorgen.
Je stärker die AfD, desto stärker die Grünen und umgekehrt. Die Parteien der Mitte, die sich in dem identitätsgetriebenen Diskurs nicht in ein schwarz/weiß-Schema einordnen lassen, verlieren relativ an Bedeutung.
Die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich ist ein weiteres spannendes Beispiel für die neue Brisanz des Populismus. Sie belegt die neue Sortierung des politischen Diskurses jenseits des klassischen Rechts-Links-Schemas. Ähnliches gilt auch für das Brexit-Votum im Vereinigten Königreich. Klassische parteipolitische Linien lösen sich länderübergreifend auf und neue politische Antipoden entstehen.
Identität ist der zentrale politische Gedanke, um den das Denken und Handeln der grünen und linken Bewegung auf der einen, aber auch das Denken der neuen Rechten zentral kreist. Der amerikanische Philosoph Rorty sprach von der „kulturellen Linken“2, die sich mehr mit Fragen von Geschlechtern und Ethnien als sozialer Ungleichheit befasste. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht von der „Kulturalisierung der Politik“.3
Die neue Identitätskultur bestimmt den öffentlichen Diskurs links und rechts der Mitte. Das Kultivieren von Unterschieden, die radikale Abgrenzung zur anderen Seite und ein hohes Maß an Selbstfixierung kennzeichnen die Identitätspolitik, die in unterschiedlichen Maßen ein Stück Abkehr von freiheitlichem Denken bedeutet. Politische Diskurse werden moralisch aufgeladen und aggressiv geführt.
Auf der einen Seite steht dabei die urbane, linksalternative Elite. Sie nutzt Identitätspolitik, etwa durch ein hohes Maß an politischer Korrektheit, um ein Stück weit kulturelle Hegemonie über ihre Mitmenschen zu erlangen, da eine Unterscheidung durch Konsum, wie früher, heute nicht mehr möglich ist. Weite Teile der Medien, die ebenfalls dieser Klientel zugerechnet werden müssen, unterstützen dies öffentlichkeitswirksam. Der ökologisch korrekte Konsum und die politisch korrekte Lebensführung sorgen dann für einen permanenten Rechtfertigungszwang für all jene, die sich anders verhalten.
„Emotio schlägt ratio“. Das Problem der klassischen Volksparteien ist, dass der Ausgleich der Interessen, das abwägende Element, in einer solchen neuen Konstellation nicht mehr gefragt ist. Nicht mehr das große Ganze, sondern die eigene homogene Gruppe, steht im Vordergrund.
Der Liberale hat es in einem solch moralisch aufgeladenen, aggressiven Diskurs besonders schwer. Wer sachlich und nüchtern argumentiert, wirkt für viele nicht kompetent, sondern unsympathisch. Der kühle Kopf wird im Auge des Betrachters oft zum kalten Herz. Wer moralisch argumentiert, ist im Vorteil. Wer nüchtern abwägt, wirkt nicht engagiert und emphatisch.4
Das zeigt sich am Beispiel des Klimaschutzes. Dieser ist keine Sachfrage mehr, sondern auch ein Stück Identitätsfrage geworden. Nicht die rational beste Lösung, sondern das unbedingte Glaubensbekenntnis zur drohenden Apokalypse und die gesinnungsethisch naheliegende Lösung dominieren weite Teile des Diskurses.
„Wir müssen unbedingt davon wegkommen, uns über Identitätspolitik zu streiten. Stattdessen müssen wir hin zu Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Da muss die SPD unbedingt ihren Beitrag leisten. Unter gar keinem Fall darf sie die Polarisierung in kulturellen Fragen befeuern“, meint der Politologe Timo Lochocki, Politikprofessor in North Carolina: „Die Grünen sind nicht das Vorbild.“ Ganz im Gegenteil, sie tragen kräftig zur Polarisierung bei.5