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Identitätsbedürfnis und Empörungskultur

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Das neue Bedürfnis nach Identität ist global. Der moderne Zeitgeist ist pessimistisch, der Weltuntergang wird ständig beschworen. Sei es eine Welle der Überflutung durch schmelzende Eisberge oder eine Flut an Migranten: Die mediale Sucht nach Ängsten, Skandalen und Sensationen wird von sozialen Medien verstärkt, in denen sich vor allem Extrempositionen durchsetzen. Diese neue Empörungskultur ist die Ursache der zunehmenden Polarisierung und Spaltung, welche die offene Gesellschaft bedroht.

Während in der Vergangenheit Veränderungen eher langsam verliefen und den kurzen Lebenszeitraum häufig überschritten, sind die beschleunigten Veränderungen des 21. Jahrhunderts so sicht- und fühlbar für den Einzelnen wie für keine bisherige Generation. Dieses Tempo führt bei Vielen heute vor allem zu einer enormen Verunsicherung. Der Mensch scheint nicht mehr nur Zuschauer und Nutznießer, sondern fühlt sich als Opfer von Veränderungen. Damit steigt das individuelle Unbehagen. Der Mensch lässt sich von negativen Ereignissen stärker beeindrucken als von positiven, die Medien verstärken diesen Eindruck.1 Ist der Mensch emotional etwa noch im Steinzeitalter und hält nicht Schritt mit technologischen und gesellschaftlichen Quantensprüngen?

Der Anstieg an Information sorgt dabei zunehmend für Orientierungslosigkeit statt für mehr Wissen. Die schiere Menge und die dauernde Erreichbarkeit lähmen mehr, als dass sie intellektuell beflügeln. Die Veränderungen im 21. Jahrhundert nehmen zu und beschleunigen sich zugleich. Die Rolle der Vermittlung von Wissen wird wichtiger, die der eigenen Erfahrung dagegen schwindet. Das enorme Potenzial an Informationen, das im Internetzeitalter zur Verfügung steht, überwältigt und -fordert selbst Allgemeingebildete. Was wir über die Welt wissen, wissen wir daher durch die Medien, wie schon Niklas Luhmann zu Recht feststellte. Im Blick auf die politische Landschaft beobachtet er, dass mehr oder minder ungehemmt moralisiert wird. Gerade die Medien tragen dazu bei, „den Eindruck entstehen zu lassen, dass politische Kultur eine Kultur der wechselseitigen Beleidigung ist, die so deutlich gewählt sein muss, dass jeder sie auch ohne besondere Vorbildung versteht“.2

Die Welt dreht sich immer schneller. Seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Durchbruch des Internets kam es nicht zum „Ende der Geschichte“, wie von Fukuyama prophezeit, sondern zu einer Beschleunigung aller Prozesse.3 Globalisierung und Digitalisierung führen heute zu einer Form der ständigen globalen Echtund Gleichzeit. In dieser Welt fühlen sich offensichtlich immer mehr Menschen unwohl und entwickeln ein Bedürfnis nach neuen, klaren Zugehörigkeiten. Die Welt wird unübersichtlicher, das Bedürfnis nach Identität, Sicherheit und Kontinuität wächst. Gleichzeitig hat die Intensität politischer Debatten ohne Zweifel zugenommen. Die bisher bekannte Art der Öffentlichkeit befindet sich ein Stück weit in Auflösung, die gesellschaftlichen Gruppen scheinen langsam zu zersplittern.

Globalisierung bedeutet im Kern, dass Grenzen verschwinden, Grenzen der Entfernung, Grenzen der Kommunikation. In den letzten Jahrzehnten war es vor allem wachsende Mobilität von Gütern, Menschen und Ideen sowie das Internet, die das Zusammenwachsen befördert haben. Insbesondere die Digitalisierung hat die Wahrnehmung von Raum und Zeit grundlegend verändert. Die Welt erscheint dem Einzelnen jetzt instabiler, weil Nachrichten den Einzelnen nun öfter und vor allem viel gezielter und intensiver erreichen, als es früher der Fall war. Flüchtlinge und Terrorismus sind kein neues Phänomen, werden aber auch durch die Digitalisierung globalisiert. Laut Außenminister Steinmeier „gerät die Welt aus den Fugen“4, da die Zahl und Intensität der Krisen zu wachsen scheint. Dass dieser Eindruck vor allem durch mediale Eindrücke entsteht und nichts mit der tatsächlichen Entwicklung von Kriegen, Katastrophen und Krankheiten zu tun hat, geschenkt. Die medial stark verbreitete Verunsicherung hat eben auch etwas mit einer veränderten Medienwelt zu tun. Der Schriftsteller Peter Scholl-Latour nannte sein 2012 erschienenes Buch passenderweise „Die Welt aus den Fugen“. Die Münchner Sicherheitskonferenz 2015 lud ein zum Austausch über „Krisen ohne Grenzen“. Und Martin Schulz sagte Ende 2015: „Ein solches Jahr, das mit Terror startet und mit Terror aufhört, von Angst geprägt ist, von tiefen ökonomischen, sozialen und Arbeitsmarkt-Krisen, von einem Auseinanderdriften der Mitgliedstaaten, wie es noch nie der Fall war, ein solches Jahr habe ich jedenfalls noch nicht erlebt und kann nur hoffen, dass es 2016 besser wird.“5 Krise ist heute gefühlt scheinbar überall. Das schafft Angst, stumpft aber gleichzeitig auch ab. So leben wir heute in einer Zeit der stoischen Dauer-Panik.

Der Terror kommt gefühlt näher, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden, gering ist. Global betrachtet gibt es nicht viel mehr Flüchtlinge, sie kommen heute nur auch nach Europa. Es gibt nicht mehr Kriege, aber deutlich mehr Berichte und Bilder. Persönliche Betroffenheit ist die Grundbedingung für die neue Empörungskultur. Der Soziologe Frank Furedi vertritt in einem Aufsatz in dem Sammelband „Die sortierte Gesellschaft“6 die Auffassung, dass Identitätspolitik heute das öffentliche Leben in westlichen Gesellschaften bestimmt. Ihr bestimmendes Merkmal sei dabei das Kultivieren einer gruppenspezifischen Opferhaltung.7

Interessant ist die geografische Aufteilung der populistischen Bewegungen in Europa. Im Norden Europas dominiert eher der Rechtspopulismus: Schwedendemokraten, Fortschrittspartei in Norwegen, Wahre Finnen, Dänische Volkspartei, AfD, UKIP, SVP, FPÖ. Im Süden Europas überwiegt dagegen der Linkspopulismus: Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien und La France insoumise. In Italien gibt es mit Lega Nord und der 5 Sterne Bewegung dagegen beides. In Osteuropa sind es dagegen die, noch relativ jungen, Volksparteien, die sich typisch populistischer Methoden bedienen (siehe Grafik S. 83).

Im Norden Europas ist die Flüchtlingskrise als Katalysator für diese Entwicklung zu sehen, wo es im Gegensatz zum Süden einen ausgeprägten Sozialstaat gibt, der teilweise auch für Migranten offensteht. Südeuropas Populismus speist sich dagegen vor allem aus den sozialen und ökonomischen Verwerfungen der Wirtschafts- und Eurokrisen. In Osteuropa wiederum sind es die Globalisierung und kulturelle Veränderungen, die eine Mischung aus Umverteilungs- und Sozialpopulismus hervorbringen. Ob rechte Parteien wie Fidesz in Ungarn, die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen oder, wie in Rumänien und der Slowakei, durch die linke PSD (Sozialdemokratische Partei) oder SMER.

Identitätspolitik hat häufig einen Hang zum Extremen. Gleichzeitig sind die zugrundeliegenden Probleme heute so virulent wie lange nicht, immer neue Konfliktlinien entstehen: oben gegen unten, Männer gegen Frauen, jung gegen alt, Inländer gegen Ausländer. Je egalitärer die Gesellschaft wird, desto empfindlicher reagiert sie auf selbst kleine Unterschiede. Dieses Paradoxon ist zentral für das Verständnis aktueller Konflikte.

Die dauerhafte Vernetzung führt zur permanenten Konfrontation und Empörung, da sowohl medial als auch verstärkt in sozialen Medien die Emotion die Ratio übertrumpft. „Empörung ist negativer Narzissmus“, meint die französische Psychoanalytikerin Julia Kristeva.8 In sozialen Medien wie Twitter, Facebook und Co. regiert die Empörungskultur. Der Journalist Wolf Lotter verdeutlicht in seinem Essay „Empörung ist keine Lösung: Entpört euch!“ das panisch-exzessive Verhalten totalitärer Denkweisen, gerade im digitalen Raum. Andersartige Meinungen verstummen aus Angst vor Repressalien, in Konsequenz wird das Internet immer mehr zur digitalen Echokammer und zum digitalen Pranger zugleich.

Das Netz verschärft und beschleunigt die Spirale der Empörung. Der damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, kritisiert bereits 2012 diese vom Internet befeuerte Empörungskultur und sieht die Netz-Anonymität mit Skepsis. An Empörungszyklen und raschen Schuldzuweisungen gebe es keinen Mangel, monierte Schneider in seiner Osterbotschaft.9 Über soziale Netzwerke verbreite sich Empörung in Minutenschnelle. „Viel zu viele schließen sich ohne Überprüfung oder Nachdenken an.“ Schneider sagte zudem der Münsterschen Zeitung, die Anonymität des Internets verlocke dazu, Hemmungen aufzugeben.10

Das Problem lässt sich hier recht einfach benennen. Der liberalen Gesellschaft fehlt in der Anonymität des Virtuellen ihre wichtigste Grundlage: die Haftbarkeit des Einzelnen. Denn die Erfindung des Individuums als haftbare, sein eigenes Handeln verantwortende Person war die Voraussetzung für die Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer großen Errungenschaften: Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde. Die anonymen Massenaufläufe im Internet entheben den Einzelnen aus der bürgerlichen Verantwortlichkeit und führen zurück in Richtung Anarchie.

Dafür braucht es eine möglichst große Beteiligung, möglichst viel Engagement. Gerade „große“ Themen wie das Klima und Flüchtlinge ziehen Menschen an. TAZ-Chefreporter Peter Unfried bezeichnet diejenigen Aktiven als „Beifang-Opportunisten“. Ob der Einsatz selbstlos oder karrierefördernd motiviert ist, wird dabei häufig nicht klar.

Die wissenschaftliche Grundlage für dieses Verhalten liefern Forscher der US-Universität Stanford. In einer Serie von Versuchen konnten sie nachweisen, dass Menschen teils gezielt aufnahmefähig für Empörung und andere starke Emotionen waren. Je wütender der Proband sein wollte, desto eher nahm er auch Impulse von außen auf. In einer weiterführenden Untersuchung zum Verhalten in den Sozialen Medien konnten die Forscher dieses Schema wiederfinden. Auch hier reagierten wütende Nutzer besonders eingängig auf eskaladierende Impulse.11

Das Internet ist ein Stück weit auch ein Vereinfachungsapparat. Moderne, digitale Kommunikation liefert heute in Echtzeit Bilder für alle erdenklichen Angstmacher: Unfälle, Terror, Katastrophen ohne Ende, von denen der Mensch früher nie oder nur zeitlich versetzt und häufig versachlicht erfahren hätte. Permanent mit den Befindlichkeiten, Eitelkeiten und unerbetenen Meinungsbekundungen Anderer konfrontiert zu sein, wie es heute häufig der Fall ist, hat Folgen für uns, schreibt auch der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.12

Als wesentliche Ursachen dieser Gereiztheit sieht Pörksen das „Wegbrechen ziviler Diskursfilter“ und die mediale Demontage von Autoritäten. Ganze Gesellschaften würden in Dauererregung, Hysterie-Spiralen und Orientierungslosigkeit getrieben, weil sie „ungefiltert der Gesamtgeistesverfassung der Menschheit oder den Einfällen eines delirierenden amerikanischen Präsidenten ausgesetzt“ würden.

Auf beiden Seiten des politischen Spektrums wird der Schuldige jeweils mechanisch auf der anderen Seite gesehen. Stefan Zweig schrieb: „Rechts ist Übertreibung und links ist Übertreibung, rechts Fanatismus und links Fanatismus.“ Er hat das in seinem Essay „Triumph und Tragödie des Erasmus von Rotterdam“13 geschrieben, 1934, als Österreich aufhörte, eine Demokratie zu sein.

Historische Analogien hinken immer. Aber der Blick zurück zeigt, dass Differenzierung und Vielfalt sowie Toleranz Grundlage der Demokratie und offener Gesellschaften sind. Wo Menschen in Extremen denken und reden, gilt der Satz, der in Zweigs Erasmus die prominenteste Rolle spielt: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Diese Form der kompromisslosen Haltung hört sich auf den ersten Blick für viele sympathisch an. Politische Alternativlosigkeit, mangelnde Kompromissfähigkeit und irrationale Übertreibung sind aber kein Nährboden, auf dem die liberale Demokratie gedeihen kann. Der Populismus dagegen lebt auch allein von Heilsversprechungen gut, auch wenn diese realpolitisch quasi nicht umsetzbar sind. Der Populist behauptet, im Namen des Volkes, des Klimas oder einer anderen metaphysischen Größe zu sprechen. Er suggeriert einen systemischen Mangel, den nur er beheben kann. Der realistische und sachliche Politiker sieht Handlungszwänge und realistische Optionen und ist damit immanent langweilig. Max Weber sprach auch „vom ständigen Bohren dicker Bretter“.14 Da hier die Gefahr eines reinen Verwaltens droht, kann der Populismus auch ein Korrektiv sein, das zum Handeln zwingt. Es ist zu hoffen, dass die Korrektur dann noch helfen kann.

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