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2. Geschichtsschreibung der Lyrik

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Gesamtdarstellungen

Eine aktuelle, umfassende Geschichte der deutschen Lyrik von einem einzelnen Verfasser liegt nicht vor. Eine kurze Gesamtdarstellung hat Dirk von Petersdorff unter dem Titel Geschichte der deutschen Lyrik vorgelegt. Sie nennt die wichtigsten Autoren und Epochen und liefert zahlreiche Stichworte, die einer weiteren Beschäftigung mit dem Thema als Anhaltspunkte dienen können. Veraltet in mancher Hinsicht ist Johannes Kleins voluminösese Geschichte der deutschen Lyrik aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Viele ihrer Einzelergebnisse müssen inzwischen als überholt gelten; ihr ‚einfühlender‘ Ansatz, der erkennbar von der werkimmanenten Interpretation geprägt ist, genügt den aktuellen wissenschaftlichen Standards nicht mehr. Eine Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart bietet ein von Walter Hinderer herausgegebener Sammelband, dessen 20 Aufsätze in chronologischer Reihenfolge Epochenüberblicke leisten. Deutlich verschieden setzen die Verfasser ihre Schwerpunkte, was dem Band, je nach Blickwinkel des Betrachters, Abwechslungsreichtum, Methodenvielfalt oder Uneinheitlichkeit beschert. Konsultieren wird man Hinderers Aufsatzsammlung vor allem, um sich einen ersten Eindruck von einer der vorgestellten Epochen zu machen. Empfehlenswert ist die Geschichte der deutschen Lyrik eines Autorenteams, das aus den Literaturwissenschaftlern Franz-Josef Holznagel, Hans-Georg Kemper, Hermann Korte, Mathias Mayer, Ralf Schnell, Bernhard Sorg besteht. Ihre einbändige Geschichte der deutschsprachigen Lyrik vom Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart (so der Untertitel) setzt mit dem Sachverstand der ausgewiesenen Experten plausible Schwerpunkte und bietet anschauliche Analysen. Doch wie Hinderers Band leistet sie keine konzeptuell geschlossene Darstellung der Lyrik und ihrer Entwicklung.

Zwei Gruppen von Lyrikgeschichten

Hans-Georg Kemper

Gerhard Kaiser

Alle anderen Untersuchungen können in zwei Gruppen eingeteilt werden: erstens Studien zur Lyrik einzelner Epochen und Strömungen, zweitens Untersuchungen zur historischen Entwicklung bestimmter Aspekte der Lyrik (wie Vers, Metrum, Rhythmus) und einzelner Gattungen. Unter den Epochen- und Strömungsdarstellungen sticht Hans-Georg Kempers Buchreihe zur Deutschen Lyrik der frühen Neuzeit hervor. In zehn Bänden, erschienen zwischen 1987 und 2006, legen sie die Geschichte der Lyrik von der Reformationszeit bis zum Sturm und Drang dar. Kemper folgt keiner übergeordneten Geschichtstheorie, sondern gliedert sein Material teils nach Epochenbegriffen wie Barock, Aufklärung und Empfindsamkeit, teils nach problemgeschichtlichen Kriterien. Kempers Großprojekt kann gewissermaßen als Ergänzung zu Gerhard Kaisers Geschichte der deutschen Lyrik betrachtet werden, die in zwei Teilen die Zeit von Goethe bis Heine und von Heine bis zur Gegenwart behandelt. Sie setzt damit genau an der historischen Schnittstelle ein, an der Kemper seine Untersuchungsreihe beendet. Kaiser gliedert seinen Aufriss nach verschiedenen Komplexen (Sprechweisen, Gattungen, Themen, ‚Selbstreflexion‘ des Gedichts etc.), die das Kernthema: das Ich, seine Subjektivität und Individuation, umkreisen, dessen Entwicklung in vielen genauen Einzel- und Vergleichsinterpretationen verfolgt wird. Der Anspruch einer geschlossenen Geschichtsschreibung treibt zur thematischen Konzentration, und zugleich verhindert der werkästhetische Ansatz eine Fokussierung einzelner Autoren und ihrer Programme, die sonst oft dafür verantwortlich ist, dass Literaturgeschichten zu Collagen notdürftig zusammengeleimter Kleinstaufsätze geraten.

Einzelne Epochen

Geschichte einzelner Gattungen

Geschichten der Prosodie, des Metrums und des Verses

Interpretationssammlungen

Zu einigen Epochen der Lyrik liegen ebenfalls Monographien vor, die nicht selten Einführungscharakter besitzen. Hierzu gehören Urs Herzogs Deutsche Barocklyrik, Thomas Gräffs Lyrik von der Romantik bis zur Jahrhundertwende, Hermann Kortes Lyrik des 20. Jahrhunderts (1900–1945) und Lyrik nach 1945 und Dieter Hoffmanns Arbeitsbücher zur Deutschsprachigen Lyrik. Daneben enthalten die meisten Epochendarstellungen, die alle Gattungen übergreifen, Kapitel zur Lyrik. Auch zu einzelnen Gattungen liegen monographische Studien vor. Zu nennen sind etwa die Arbeiten zum Epigramm von Peter Hess (1989), Das Gelegenheitsgedicht von Wulf Segebrecht (1977), Das europäische Sonett von Friedhelm Kemp (2002), Das Lehrgedicht der Aufklärung von Christoph Siegrist (1974) und Beatus Ille von Anke Lohmeier (1981). Dass die Gattungsgeschichten vornehmlich die früh-neuzeitliche Lyrik behandeln, ist kein Zufall, denn die Bedeutung der Gattungsdifferenzierung hat nach 1800 merklich nachgelassen. Viele Einführungen in die Lyrik-Analyse versuchen in einzelnen Abschnitten, die Form- an die Inhaltsanalyse zu koppeln. Kaum jemand unternimmt hingegen den Versuch, auf dieser Kopplung eine monographische Studie aufzubauen. Stattdessen scheint sich wie von selbst die Analyse der Formen an die Geschichtsschreibung der Lyrik zu binden, erstens wohl, weil sie hier ihr Belegmaterial sammelt, und zweitens, weil sie mit der Ordnung der geschichtlichen Verhältnisse eine Aufgabe erhält, die reichhaltigere Resultate hervorbringt als jede andere Anwendung. Die Arbeiten dieser Sparte sollen hier nicht besprochen werden, weil auf ihre theoriegeschichtlichen und systematischen Überlegungen im vierten Kapitel ohnehin eingegangen wird. Wenigstens erwähnt werden müssen an dieser Stelle jedoch Sammlungen von Gedichtinterpretationen, die zwar im engeren Sinn nicht als Literaturgeschichtsschreibung gelten können, aber für erste Annäherungen an eine Epoche nützlich sind, wie z.B. die mehrbändige Reclamreihe Gedichte und Interpretationen.

Einführung in die Lyrik-Analyse

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