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Angus, der Rennfahrer

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Allgemein wird darüber spekuliert, wie der Mensch zurückkehrende Alpträume wirksam bekämpfen kann. Neben Versuchen der Kirche, Dämonen zu vertreiben und einer Kräuterliste von Heilern, zählt die Hinwendung zur sich offenbarenden Gefahr im Traum als geeignetes Mittel. Es gilt zu ergründen, was die Quelle des Alpdrucks ist oder man vernichte sie im Traum. Niemand aber hat erforscht, was mit den Seelen ist, die von ihrem Alptraum eines Nachts aufgefressen werden.

Inferior Globuli: Lex Libre spiriti domini scurrae fatuaquam

Backup: Montag, 16.04.2012, 8 Uhr

6 Tage, 7 Stunden v.d.R.

Der Tag versprach, erneut sonnig zu werden. Die Mitarbeiter der Nachtschicht des technischen Instituts von Prof. Dr. Lambert Flammershausen verließen um 8 Uhr müde das Gebäude und strömten auf den Parkplatz. Sie trugen leichte Kleidung, zumeist weiße, kurzärmelige Business-Hemden, Jeans oder Leinenhosen. Das warme Wetter hielt schon seit Tagen an. Schwüler Wind blies ihnen Staub ins Gesicht, sie blinzelten, wenn sie aufblickten.

Angus rauchte am Portalparkplatz der Werkstätten im Auto seine letzte Zigarette. Einige Mitarbeiter des Instituts trotteten an seinem Wagen vorbei, gebeugt, müde von der Nachtschicht, gedankenverloren, den Blick aufs Telefon. Sie entdeckten ihn nicht. Er blieb in seinem klimatisierten Wagen sitzen, schloss die Augen, schaute auf die Uhr und rauchte weiter. Er blies den Qualm aus, aschte ab; dreiviertel des Stängels war übrig.

Er wartete. Beobachtete den Parkplatz, der nach dem Weggang der Mitarbeiter in ein lebloses Terrain zurückfiel. Ein Anblick, der ihm heute Morgen vertraut erschien. Nicht nur, weil er das Institut schon häufiger besucht hatte. Es rührte von woanders her, ohne, dass er Worte dafür hatte. Er rauchte und bemerkte es unvermittelt. Er wurde von einem Gefühl umgeben und es hielt ihn im Wagen. Wie am Ende einer langen Reise und man kommt nach Hause. Atmet den vermissten Duft der Kindheit ein, der einem gefehlt, ja, den man immer wieder auf seinen Fahrten gesucht hatte.

Angus war ein über 40-jähriger, athletischer Mann ohne überflüssige Kilo, mit schwarzen, buschigen Haaren, braungebrannter, gegerbter Haut, rasiert. Er trug ein legeres Freizeithemd und trotz der Temperaturen eine Lederjacke. Sein Blick vermittelte stets den Eindruck, er lache über die Situation, in der er sich gerade befand. Sei es im Interview oder in einer Steilkurve, die er mit 250 km/h durchfuhr.

Seine dunkelbraunen Augen suchten den Parkplatz weiter ab. Er war nicht der Mann, der sich von Gefühlen beeindrucken ließ. Er schob es auf das Warten, diesem Nichtstun, dass fremde Gedanken in ihm aufstiegen. Er zog erneut an der Zigarette und kratze sich lässig am Kopf, runzelte die Stirn. Die Erklärung reichte nicht. Ihm war unklar, warum sich diese Eindrücke hier einstellten.

Angus war nicht mehr der kleine Junge, der vor 34 Jahren einsam auf dem Spielplatz schaukelte. Hinter ihm lag eine lange Rennfahrer-Karriere, zu der nur noch der Weltmeistertitel fehlte. Es war einer seiner drei Wünsche, die er gegenüber der Grauen Fee ausgesprochen hatte. Neben den, seinen Vater aus dieser Welt mit allen Erinnerungen an ihn verschwinden zu lassen. Ein Siegel des Vergessens lag auf jene Tage. Und während Angus im Wagen saß, rauchte, nachdachte, zeigte dieses Siegel Brüche.

Er folgte mit den Augen dem Flug einer Libelle, die den Hinterleib wie beschwert gesenkt trug und blieb dann bei den tippsigen Sprüngen eines Rotkehlchens hängen, das scheinbar zwischen den gepflasterten Steinen im Schmutz Nahrung auflas.

Dann nahm er wieder das Institut unter Beobachtung. Er suchte die Fenster von Flammershausens Büro, das in etwa der Mitte der Front eingerichtet war wie eine Zentrale. Eine optische Täuschung, rechnete man mit ein, dass hinten weitere Etagen tief einem Abhang herunterliefen. An den Fenstern bewegte sich nichts. Die stillen, dunklen Öffnungen vermittelten den langweiligen Frieden der Forschungsarbeit, für den Angus, wie gegenüber allem Bürokratischen, nur spöttelnde Verachtung übrig hatte. Ein leichtes Ziehen hinter der Stirn verriet aufkommende Kopfschmerzen.

Dem technikbegeisterten Rennpiloten blieb durch die Ödnis des Parkplatzes das Drama verborgen, das sich hinter der leblosen Fassade des Instituts abspielte. Sein Erinnerungsriegel funktionierte nach wie vor zuverlässig genug, dass Angus, selbst wenn er Zeuge des Dramas gewesen wäre, nichts davon verstanden hätte. Seit Freitag Nacht war die, von ihm vor 34 Jahren errettete, Graue Fee Hagen Finwe, von dem überragenden Professor Flammershausen in einer listigen Falle aus Magie und Spucke gefangen. Wie ein Schutzschirm legte sich die Konstruktion des Wissenschaftlers im Hinterzimmer seines Büros um Hagen Finwe und blockierte dessen magische Kräfte. Jene Kräfte, die den Siegellack gossen. Die ungewollt die Erinnerungsriegel in Angus lösten. Die Magie, die den Rennmotor Vlamma T3 im Keller des Instituts zusammenhielt – und zugleich begrenzten.

Vorboten einer sich neuen, etablierenden Macht trieben unbemerkt über den Platz.

Vor den Augen Angus schwappte so ein vergessenes Fragment aus dem Speicher. Eine Szene wie aus einem Traum. Sein Blick aus dem Fenster seines Kinderzimmers. Es dämmerte, der Weg führte in die Stadt und war von Wohnblöcken gesäumt. Eine graue Gestalt, hager, drehte sich auf ihrem Weg aus dem Viertel um, spähte nach Angus, wie er am Fenster stand und winkte.

Er schreckte auf. War er eingeschlafen? Ein lang vergessener Traum, sagte er sich.

Und fixierte erneut das Institut; den scheinbar in seiner Architektur auf einen Nutzbau ohne Raffinesse reduzierten, ausgehöhlten Betonquader, dessen Vorplatz aus dem Material des Gebäudes bestand. Die Morgensonne lud den Parkplatz mit Wärme auf. Der helle Beton reflektierte ein photogenes Streulicht und ließ alles über seinen Wert erstrahlen. Der feine, sandige Wind von Osten strich durch die Anlage und beugte ein paar Bäumchen, die hilflos inmitten dieser Steinlandschaft ihr Leben fristeten.

Die strenge Ordnung der Beete zwischen den Betonkonstruktionen mit Tausendschön, Vergissmeinnicht, Bartnelken und Fette Henne wirkte unnatürlich. Verpackungen von Schokoladenriegeln oder verwehte Tankquittungen, Dosen von Limonaden und Bier waren darin verfangen. An den Stämmchen und kleinen Zweigen der Heckenkirschen sammelte sich ebenfalls Müll. Umrandet von Abfällen wirkten die Pfanzen schmutzig und deplatziert. Seine Augen blieben an den Ästchen hängen, die sich hektisch im Wind regten. All die Rennstrecken, das Institut oder Windkanäle, an denen er wirkte, sie hatten dieses abweisende, geschlossene Klima, in dem nur die Maschinen, ihre Abfallprodukte, sowie die havarierten Rümpfe Platz fanden.

Er war an der Hälfte der Zigarette angelangt und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Verdammt gefährlich, mit der Kippe einzunicken, überlegte er. Dabei hatte er den Eindruck, gar nicht geschlafen zu haben.

Es wirkte paradox auf Angus, dass ihm an diesem Morgen auffiel, wie wenig freundlich diese Orte waren und wie er sich an sie gewöhnt hatte. Er sah Vertrautes darin. Er war einer jener Menschen, die sich flüssig in den schattigen Nischen des Rennzirkus’ bewegten und gerne am Wagen arbeiteten. Der Wagen, immer der Wagen. Das Setup schneller machen, die Fehler einkreisen, seine verlorenen Sekunden finden. Warum fiel ihm das in diesem Moment ein, überlegte er? Jetzt, in aller Stille. Der anhaltende Wind fegte Erinnerungen auf.

Er blieb weiter im Auto sitzen. Die Blase, zusammengesetzt aus Feenkräften und kindlicher Fantasie, hatte Risse. Sie entstehen, wenn die Hülle den Kontakt zu ihrer Quelle verlor. Die Ritzen eröffnen den Blick auf eine Welt jenseits der Träume. Und sie bändigten nicht mehr die Kraft der Kreaturen, die sie geschaffen hatten – eine Folge der Gefangenschaft Hagen Finwes.

Aber Angus überlegte, womöglich war es der Parkplatz. Er erinnerte ihn an den Block, in dem er von seiner Mutter großgezogen worden war. Ebenfalls eine grasdurchwirkte Steinwüste, in der er herumgestromert war. Plattenbausiedlung, ein wenig Rasen zwischen den Gehwegen, Büsche, alles ähnlich wie hier. Fraglos und unbeholfen eingepasste Natur, die der gewaltigen Wucht der Hässlichkeit des Instituts nichts entgegenzusetzen hatte.

Beim Gedanken an Büsche zog er am letzten Rest der Zigarette und rieb sich nervös die Stirn, fuhr das Fenster herunter, um Wind auf seine Gesichtshaut zu lassen. Wie viele Kilometer war er schon mit Höchstgeschwindigkeit gefahren, wie viel Fahrtwind hatte seine Karosserie umgeleitet. War ihm um den Helm geströmt, hatte er verwirbelt? Doch in diesem feinen Wind, der über den kargen Parkplatz kroch, die hilflosen Pflänzchen wog, etwas Stanniolpapier trieb, in ihm war für Angus unvermittelt die gesamte Erinnerung einer Kindheit aufgehoben. Er fuhr die Seitenscheibe wieder schützend hoch. Hatte lange nicht mehr Gedanken an sein Zuhause verschwendet. Streng genommen, überlegte er, so gut wie gar nicht.

Die Glut seiner Zigarette erreichte jetzt den Filter. Er warf den Stummel in den Aschenbecher und klappte ihn zu. Dass er heute anfing, zu träumen. So kurz vor der wichtigen Rennfahrt. Sonntag würde der neue Motor eingesetzt. Im ersten und einzigen Lauf. Wahnsinn. Ja, Flammershausen war wahnsinnig. Er öffnete die Tür, stieg aus und begab sich auf den Weg. Der Wind zog an seinem Hemd und hob sein volles Haar an, das Rotkehlchen flatterte erschrocken weg.

Im Fahrstuhl bemerkte Angus, dass er seine Gedanken aus dem Fond des Wagens nicht loszuwerden vermochte. Tim Danger war zu ihm gestoßen, sein Cockpitpartner im Team. Alles wirkte seltsam fern. Er erinnerte sich wieder an die Wohnung seiner Mutter. Wie sah es dort jetzt aus, wo er aufgewachsen war? Er griff, ohne Bedürfnis zu rauchen, nach seiner Zigarettenschachtel. Er hatte sie im Wagen vergessen. »Ping« klang der Fahrstuhl und hielt an. Sie waren am Ziel. Tim sprach zu ihm, ohne, dass er zuhörte.

Der Korridor, der sich ihnen eröffnete, war einer jener Räume im Institut, der durch großzügig verglaste Auslassungen im Mauerwerk Sonnenlicht einließen und dadurch nahezu ohne künstliche Beleuchtung auskamen. Angus sah, wie Tim mit einer Halskette mit Kreuz spielte. Christliche Symbole? Was war los mit Tim? Verlor er die Nerven?

Seine Gedanken schweiften ab zu den vielen Kollegen, die bis zum Krüppel verstümmelt waren. Die alte Garde. Die Rennfahrer hatten doch ein seltsames Ethos. Jede Narbe, jedes Stück verkohlte Haut, veredelte ihren Körper wie Zeichen höherer Vollendung in ihrem Beruf. Male, die von großer Nähe zu den glühenden Motoren berichteten. Spuren maximalen Kontakts. Diese Männer hatten die Grenze überschritten, waren aus dem genau austarierten Verhältnis von Mensch und Maschine kurz ausgeschert und hatten doch überlebt. Ihre Narben erzählten von Mut und Forschungsdrang. Die jungen Piloten von heute waren dagegen makellose Weltmeister, taugliche Werbeträger, Designstudien des Menschen. Milchbubis.

Leute wie er und Tim waren vom alten Schlag. Sie wurden vom brutalen, außer Kontrolle geratenen Schub der Boliden gelähmt in den Sitz gepresst. Sie verschoben sachte die Linie zwischen sich und den Maschinen, um siegreich zu sein. Und eines Tages verfehlen sie vielleicht den Punkt, der noch nicht tödlich war. Das Ende. Und selbst dann, im Tod, würden sie Helden sein. Wie war es dazu gekommen, dass er Rennfahrer werden wollte? Er versuchte sich, zu erinnern. Der Gedanke löste ein Schwindelgefühl aus. Er studierte seine Haut. Er war über die Jahre unversehrt geblieben. Womöglich, überlegte er, sollte er sein Glück nicht weiter herausfordern?

»Alles klar, Angus?«, fragte Tim besorgt, nachdem sie den Konferenzraum betreten hatten. Danger hatte gesehen, wie sich sein Partner immer wieder die Schläfen rieb. Der wackelte mit seinem Kopf, versuchte, etwas abzuschütteln.

»Alles okay. Nette Begleitung, oder?« Er zwinkerte den beiden attraktiven Mitarbeiterinnen des Hauses zu, die sie vom Eingang abgeholt hatten.

Tim lächelte blöd.

»Prof. Flammershausen wird gleich mit Ihnen in Kontakt treten. Wenn Sie noch Wünsche haben, können Sie sie gerne äußern«, sagte eine der zwei Assistentinnen kühl und beide entfernten sich aus der Konferenzsuite, um möglichen Wunschäußerungen nicht zu viel Raum zu geben. Tim schaute ihnen, sich verrenkend, nach und wäre dabei fast vom Stuhl gefallen. Die Tür schloss und er setzte sich seufzend in eine normale Position. Er wirkte auf einen Schlag gelangweilt. Er hätte noch Wünsche gehabt und fummelte wieder an seinem Kreuz.

»Dr. Flammershausen«, seufzte er. »Let the show begin.«

Es gab ein leises, elektrisches Geräusch. Der Monitor wärmte sich auf. Angus, der sich an das merkwürdige Kopfgefühl gewöhnt hatte, begriff, dass sie dem technischen Leiter ihres Rennteams auch wieder nicht persönlich begegnen würden.

Die Augen, das Fenster zur Seele. Es war die bevorzugte Eigenart Flammershausens, den Blick in seine Augen nur durch Kameras zuzulassen. Pixel und Körnchen ermöglichten eine hoch aufgelöste Sicht, die seine Pupille in Fragmente zer- fallen ließen. Den inneren Zusammenhang des medienaffinen Wissenschaftlers setzte so jeder für sich selbst zusammen, was den Mythos ausmachte, den sein Namen mitschwingen ließ.

»Angus. Tim. Danke für euer Kommen. Der Motor ist fast fertig. Wir haben lange gebraucht, aber wie mir Watanabe mitgeteilt hat, sind die wichtigsten Prüfungen des Labors abgeschlossen. Das Aggregat wird bald initialisiert. In knapp einer Woche ist das Rennen der Saison. Normalerweise würden wir den Motor auf einer Rennbahn testen, aber wir sind unter Zeitdruck. Wir werden den Motor sofort einsetzen.«

Rennbahn, dachte Angus. Wer sagt heute noch Rennbahn?

»Das ist doch Wahnsinn«, unterbrach Tim den Wissenschaftler. »Ohne Test gleich auf die Strecke? Wer hat sich das denn ausgedacht? Normalerweise werden die ersten 10 Rennen gebraucht, um überhaupt in der Führungsrunde anzukommen. Und dieses Jahr haben wir nur das eine Rennen.«

Es war eine besondere Rennsaison. Die Formula Alpha reformierte sich. Um trotzdem den Zuschauern etwas zu bieten, wurden nicht die üblichen 20 Rennen in der Saison angesetzt. Es gab die eine Austragung, Auftakt und Höhepunkt des Rennjahres zugleich. Der Sieger würde Weltmeister werden. Kein Raum für Experimente.

»Tim, hier ist Vertrauen gefragt. Ich sage euch: Es ist ein außergewöhnlicher Motor, wirklich: ein außergewöhnliches Aggregat. Ich erwarte nicht weniger, als die Weltmeisterschaft mit ihm zu gewinnen, obwohl wir sofort mit ihm starten. Wir haben alle Möglichkeiten durchgespielt, kennen kaum Schwachstellen. Ich bin sicher, wir schaffen das.«

Die beiden Fahrer schauten sich erstaunt an. Angus’ Kopfschmerz war mittlerweile so ausgeprägt, dass er nicht richtig verstand. Doch er hörte Tim nachfragen.

»Im ersten Rennen?«

»Im einzigen Rennen. Ganz genau, Tim. Der Motor hat das Potential. Ich bin sicher, die Konkurrenz hat nichts zu bieten, was vergleichbar ist. Der einzige Faktor, der diesem Ziel entgegenzuwirken vermag, ist allein der Mensch.«

Eine kurze Denkpause, dann hakte Tim Danger nach:

»Also wir?«

»Genau. Streng genommen Angus, denn wir haben nur einen Motor, Tim.«

In Angus’ Kopf dröhnte ein Wasserfall, die Erinnerung spülte Bruchstücke aus der zurückliegenden Saison hoch. Ein ungetesteter Motor war das Letzte, was ihnen in diesem Jahr helfen würde. Er hatte noch damit gerechnet, den Vorjahresmotor einzusetzen, dessen Macken sie kannten. Für das eine Rennen wäre es gegangen. Doch die Gerüchte stimmten. Der Professor hatte etwas Neues erschaffen. Er protestierte nicht. Im Moment drückte ihn sein Kopfschmerz. Er hätte gerne gefragt, welche Vorbereitungen der Wissenschaftler für das Rennen getroffen hatte. Doch er wahrte die Haltung. Bemerkenswert, überlegte er, dass sein sportliches Schicksal ausgerechnet von Flammershausen abhing. Er hoffte, der pfiffige Watanabe würde für die Strategie zuständig sein.

»Das müsst ihr für den Lauf nächsten Sonntag wissen«, sagte der Wissenschaftler und Chefingenieur des Teams Rorick, dessen Stimme seltsam verzerrt aus dem kleinen Monitor plärrte. Dann vermittelte er beiden das erste Mal die Details über den erstaunlichen Motor.

Nachdem Flammershausen 85 Minuten später seine Unterrichtung beendet und sich abgeschaltet hatte, atmeten Angus und Tim tief durch. Einerseits war es Erleichterung, die verwirrende Präsenz des Professors nicht mehr zu ertragen, andererseits eine Reaktion auf den enormen Wissensstrom, den aufzunehmen sie verpflichtet waren. Stimmte nur die Hälfte dessen, was ihnen im Vortrag mitgeteilt worden war, besser gesagt: Wäre es umsetzbar – dann hätten die Piloten das Privileg, den Motor der nächsten Jahrzehnte zu fahren. Den Vlamma T3. Doch Versprechungen waren das Eine, die Realität auf der Rennstrecke das Andere. Beide schätzten, eine Menge Arbeit würde vor ihnen liegen, um den Motor in so kurzer Zeit optimal an die Rennbedingungen anzupassen, weswegen ihr Enthusiasmus nicht in den Himmel wuchs.

Die Frauen strömten in den Raum zurück und Tim wurde aufmerksam. Sie baten die beiden Rennfahrer, ihnen in die Kathedrale zu folgen, wie die unterirdische Halle im Institut genannt wurde. Dort sollten sie dem Motor der Zukunft das erste Mal begegnen.

Ihre skeptische Stimmung änderte sich, nachdem Watanabe sie in die Kathedrale eingelassen hatte. Dort war er, das Spekulationsobjekt der letzten Wochen. Der Vlamma T3, aufgebahrt in der Vertiefung des Labors. Der glänzende, blankpolierte Körper, durchbrochen von Einlassungen, Ventilen und Schlauchführungen, der das halogene Licht der Lampen vielfach spiegelte. Tim berührte ihn, fuhr mit der Hand über das kühle Metall. Er überlegte, dass dieses Triebwerk nicht nur existierte, um Geschwindigkeit für seinen Boliden zu produzieren. Die Gewalt aus dem verbrennenden Treibstoff zu bündeln. Kraft zu regulieren. Er spürte schon beim Betreten der Kathedrale, dass eine Grenze gefallen war. Er erschauerte und griff wieder an seine Kette.

Der ungeschützt wirkende Motor rührte Angus. Er hatte etwas Hilfloses, das er schon einmal gesehen hatte. Dass ich dafür empfänglich bin, wunderte er sich. Ein aufgebockter Metallklotz. Das beunruhigte ihn. Genau wie sein Kopfschmerz.

»Angus?«

Die Stimme drang von innen. Es war in Sprache gewandelter Schmerz. Er bewegte sich nicht, rollte die Augen vorsichtig von links nach rechts, hoffte auf Menschen, die er bisher übersehen hatte. Er sah nichts Neues. Die Stimme, die er hörte, war männlich. Wild. Sie war in Rage und schien nicht von einem zu stammen, der andächtig im Labor herumstand.

»Angus?«

Der Kopfschmerz nahm ab. Er umlief den Motor und berührte das erste Mal mit der Hand das Metall, war beiläufig interessiert, um nicht aus der Rolle zu fallen. Er schaute sich weiter um, suchte nach der Quelle der Stimme. Seine Hand zuckte zurück. Er starrte auf das Ausstellungsstück und versuchte, zu verstehen.

»Alles in Ordnung mit dir? Vielleicht solltest du besser im Auto warten und ich fahre dich nachher nach Hause!«

Das war klar Tims Stimme, deutlich von außen, das bekannte Muster, der vertraute Singsang und weiche Inhalt.

»Schon gut. Lass’ nur, Tim. Frag’ nicht noch einmal, ja?«

»Okay, kannst dich drauf verlassen.«

»Danke.«

Stille umschloss Angus. Nur die elektronischen Leuchtmittel und Kontrollkonsolen summten. Es war ein eintöniges Geräusch von hintertriebener Präsenz, das immer lauter zu werden schien. Angus hörte nicht mehr sein Blutrauschen, seinen Atem oder das Rascheln der Kleidung. Entsetzt klopfte er auf seinen Rumpf, spürte den Schlag, nahm ihn aber nicht mit den Ohren wahr. Er starrte auf seine Hände und schnipste mit den Fingern. Er fühlte das kurze Wutschen an den Fingerspitzen, blieb aber taub. Nur das Summen wurde intensiver.

Er rief, doch hörte er die Stimme nicht, bemerkte nur die Vibration seiner Stimmbänder, das Kratzen im überanstrengten Hals. Panik überkam ihn. Er versuchte, die Tonhöhe des Summtons zu überschreien. Es gelang nicht.

Abrupt stoppte das Summen. Stille. Eine von ihm nie wahrgenommene Lautlosigkeit macht sich breit. Er stieß beim Versuch, sich festzuhalten, ein Werkzeug von der Werkbank, sah es vom Boden abprallen, mehrfach aufschlagen. Es wirkte tempoverzögert, er hörte es nicht. Watanabe sah besorgt zu ihm herüber.

Er musste bewusst Luft einsaugen. Ganz ruhig, Angus, dachte er. Das wird sich alles klären.

Und wenn es nur ein Traum ist?, versuchte er zu sagen. Er vermochte die Worte zu artikulieren, merkte die Kehle und die sich formenden Lippen. Doch prallten sie wie gegen einen gläsernen Widerstand direkt vor ihm ab und schlugen zurück in den Rachen. Wie wenn er mit dem Mund Luft gegen Fensterglas presste, das Hindernis nicht sah und zu durchdringen vermochte. Er verschluckte sich, formte die Worte, kaute fast daran, bis er – geschult, bei Gefahr die Nerven zu behalten – die Idee bekam, zu schlucken.

Und wenn ich nun sterbe?, fragte er sich. Die Frage drang immer mehr in sein gefahrengeschultes Bewusstsein. Sie wiederholte sich. Nahm erst langsam Fahrt auf wie ein Windchen, das die Tischdecke im Garten leicht an ihren herunterhängenden Enden bewegt. Um dann von kräftigen Böen zu einem Sturm in seinem Kopf zu werden, die das Deckchen über den Rasen treiben. UND WENN ICH NUN STERBE?

Rennfahrer sind den Tod im Kopf öfter durchgegangen. Man stellt sich unter Umständen ein aggressives Ringen in einer Feuerwalze vor, das überraschende Versagen tragender Teile des Boliden bei Hochgeschwindigkeit. Ein trockenes Knacken, ein leichtes, aber Anormalität signalisierendes Schwingen, dann der kurze, explosionsartige Ausbruch des Hecks und der Einschlag. Es würde nach der Kollision im Publikum, den Tausenden von Zeugen des möglichen Untergangs, Schweigen folgen. Ehrfurchtsvoll würden sie den Unfall verfolgen, der für sie den Geschmack von Bestimmung auf die Zunge brächte. Einen Sinn im Tod, wenn er sich so öffentlich vollzieht.

Aber in der Einsamkeit eines Labors? Überrascht vom Versagen des Körpers, der immer alles ertragen hatte? Stumm und ohne Zeugen, ohne technische Erklärung für den Niedergang? An einem Morgen im Frühling, an dem man sich an seine Kindheit erinnerte? Mit weibischem Kopfschmerz? Neben einem Teampartner, der anfängt, ein Kreuz zu tragen? Da stirbt doch ein Rennfahrer seines Kalibers nicht! Und insbesondere nicht vor einer Kurzsaison, die den Weltmeistertitel versprach.

Er fasste die Möglichkeit ins Auge, doch nicht im Feuerball verglühend zu sterben. Ohne den kurzen Augenblick des Erschreckens das Ende zu finden. Nach plötzlichem Stillstand aus 400 km/h in der Mauer. Vielleicht würde er noch aus der havarierten Funkanlage besorgte Anfragen der Box zu hören vermögen. Signale, die mit seinem Entschwinden aus dieser Welt langsam schwächer werden würden.

Ach, wäre es doch zumindest an einer Bar passiert, wenn schon nicht im Rennen. Aber in diesem nichtssagenden Raum? Wie steril es hier war! Nicht mal die Assistentin war da, um ihn sterbend zu halten und womöglich schon zu beweinen. Vielleicht hätte er noch Kraft für bedeutende Worte gefunden, um sie zu trösten. Und immer wieder fragte er sich: Und wenn ich nun sterbe?

Erneut brachen die Instinkte des Rennfahrers durch, der der Gefahr ins Auge schaut und – schon seines Atems beraubt – noch Handgriffe kennt. Die Brücke, auf der geschützt die wichtigsten Funktionen zusammenkamen und die bis zum Ende in Betrieb blieb. Von dort entfuhr aus einer Vielzahl von widersprüchlichen, panischen und aberwitzigen Theorien, die pfeilschnell durchspielt und verworfen, geprüft und neu überdacht wurden, plötzlich ein Gedanke. Denke laut, dachte der Gedanke. Denke laut und bewusst. Spreche es aus, auch wenn du es nichts hörst. »Hilfe«, sagte er, taub seiner eigenen Worte. Dann wurde er bewusstlos.

Watanabes Tod

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