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Timeline: Mittwoch, 18.04.12, früher Morgen

4 Tage, 7 Stunden v.d.R.

Zwei Tage nach Angus’ Zusammenbruch schaute Watanabe am Ende seiner Nachtschicht durch das kleine Guckloch in der Stahltür zur Kathedrale. Eingebettet im Betonfundament ruhte Vlamma T3 und verbrauchte leise Energie. Erhellt vom sanften Licht der kreisförmig an den Wänden der Halle verbauten Workstations, von denen Zahlen und Graphiken auf kleinen Monitoren leuchteten. Auch, wenn niemand in der Halle war, ebbte der überbordende Strom an Daten nicht ab, erzeugt von der automatisierten Motorüberwachung. Die Temperatur in der Kathedrale war in den letzten Stunden angestiegen.

Watanabe schwitzte, sein Blick war gehetzt. Das bläuliche Licht der Bildschirme in der Überwachungszentrale fiel auf fahle Haut, das warme Oberlicht reflektierte von seinem weißen Kittel orange. Watanabe schwitzte, weil ihn Angst gepackt hatte.

Lag es an den Nächten, allein mit dem Motor, lag es an den Tagen isoliert zu Hause? An der sich immer mehr verdichtenden Arbeit an Vlamma T3, der mit dem Start der Initialisierungsphase heute Nacht kurz vor seiner Vollendung stand? Oder am baldigen Renneinsatz – der Nagelprobe? Seine Nerven waren angespannt. Sein Puls hoch und er atmete schnell. Dieser ehrgeizige Plan, schon Sonntag den Motor einzusetzen! Wahnsinn.

Es war ein merkwürdiger Gegensatz, der sich da in den Tiefen des Instituts von Prof. Dr. Flammershausen in Szene setzte. Der kalte, unbewegliche Motor, der vor sich hinsummte, und der nervöse Japaner, der hinter der Tür alarmiert die Halle beobachtete. Denn er nahm Gefahr wahr, die Zeugen der Szene verborgen bleiben würde. Aber Watanabe war ja allein.

Nein, ganz stimmte das nicht. Es gab einen Beobachter der Szene. Eine Stimme, ein Auge, ein Geist, dessen Präsenz niemand erwartet hatte. Seine Gegenwart erklärte Watanabes instinktive Furcht vor dem Nichtgreifbaren. Sein Schaudern vor der täuschenden Ruhe in der Kathedrale.

Menschen hatten schon früher für solche uneindeutigen Phänomene Begriffe erschaffen. Dämonen, Geister, Überwesen. Manifestationen. Erklärungen, die genauso fehlerhaft wie richtig waren, um ein Ereignis zu beschreiben, das sich in den Alltag der Menschen nicht einpassen ließ. In ihre Nahrungssuche, ihrem Erfolgsstreben und das Bedürfnis, sich zu paaren. Ihren unerklärlichen, irrationalen Drang, über den Alltag hinauszugehen, der zu überragenden kulturellen Leistungen geführt hatte. Aber ebenso zu entsetzlichen Kriegen und Ungerechtigkeiten, zu Denkmälern der Kunst sowie tiefen und langanhaltenden Schmerzen.

Watanabes Zustand war in der gestiegenen, furchtsamen Aufmerksamkeit durch die Begegnung mit dem energetischen Überschuss begründet, den man ehesten (und doch reichlich ungenau) mit dem Wort von der Seele erfasst. Eine Konfrontation, für die der Mensch üblicherweise vorbereitet ist – einerseits. Andererseits ist er unerfahren, begegnet, nein, spürt er fremde Seelen. Wie die eines Rennmotors. So, wie Watanabe es seit den frühen Morgenstunden dieses Mittwochs erfuhr.

Vielleicht stimmt es, dass nicht alle Menschen zu so einer Wahrnehmung befähigt sind. Der japanische Techniker aber war durch seine Familie mit einer Sensibilität ausgestattet worden, die ihn die Allgegenwart seiner verstorbenen Vorfahren vor Augen hielt und zu diversen glücksbringenden Ritualen verleitete. Seine Großmutter Yuna Watanabe hatte im Verlauf seiner Erziehung darauf geachtet, diesen Aspekt des Daseins nicht zu vernachlässigen. Sein Leben war davon bestimmt, verborgene Gottheiten zu besänftigen. Das gestaltete er mehr mit zum Aberglauben tendierenden Praktiken als mit denen einer Amtskirche. Aber sein Geist war, wie man sagt, geöffnet.

Das allein versetzte den Techniker nicht in nervöse Stimmung. Er hatte durch seinen Beruf schon früh eine spezielle Beziehung zu Maschinen und Computer entwickelt, die für ihn nicht auf Automaten reduziert geblieben waren. Sie hatten in seiner Welt ein Eigenleben, Charakter, verfügten über die Gebrauchsanweisung hinausgehende Zugänge, die er humorvoll nutzte, um seinen Frieden mit der ewig fehleranfälligen Technologie zu machen.

Aber bei Vlamma T3 war es anders. Watanabe hatte große Teile der Entwicklungsarbeit an dem Motor begleitet. Einem Produkt, das Prof. Dr. Flammershausen scheinbar in einem Zustand tiefgreifender Selbstentfremdung zusammen mit dem seltsamen grauen Mann, der nur nachts kam, konstruiert hatte. Häufig sträubten sich ihm die Haare, da der Professor weder die Konstruktion von Komponenten erläuterte, noch einzelne Arbeitsschritte plausibilisierte. Das vertiefte sich, nachdem Flammershausen sogar spirituelle Unterstützung angerufen hatte und Würdenträger unterschiedlicher Glaubensrichtungen, zumal Naturreligionen, beim Bau hinzuzog.

Der spirituelle Watanabe hatte recht damit, dass etwas nicht stimmte. Die Gegenwart eines unsichtbaren Beobachters war das, was die Szenerie in der Kathedrale bestimmte. Aber es gelang dem Japaner nicht, seine Eindrücke zu begründen. Denn es war nicht sein Computer, ein Überwachungsterminal oder etwa sein Handy, es war Vlamma T3 selbst, der durch die von ihm gehackten Überwachungskameras die Szenerie aufnahm, dessen wachsendes Bewusstsein Raum ergriff. Und was er beobachtete, missfiel Vlamma. Er sah Watanabe, der auf seine Gegenwart reagierte.

Natürlich waren für Watanabe die empfangenen spirituellen Störungen für die Arbeit nicht relevant. Alarm vermochte er nur geben, wenn etwas mit den Daten nicht stimmte. Sie wiesen gegebenenfalls objektiv und spekulationsfrei ein Problem beim Motor nach. Immer wieder verließ der Japaner das Beobachtungsfenster und las neu ausgedruckte Messwerte über die Einzelheiten der Energieflüsse, die mit nichts übereinstimmten, was man an dieser Stelle des Initialisierungsvorgangs erwartet hatte. Es war schlicht und ergreifend mehr vorhanden als hätte da sein dürfen. Aber es war kein Grund, Alarm zu geben, denn es blieb alles innerhalb der festgelegten Spezifikationen.

Und wieder eilte er besorgt zu der Aussparung in der Tür, um den Motor zu sehen. Eine Fantasie trieb ihn. Darüber, dass die sukzessive Steigerung des Datenumsatzes der Konstruktion die Befähigung geben würde, sich von seinem Lager zu erheben, durch die Tore der Halle zu brechen, um zu fliehen. Oder, was sich präsenter vor dem geistigen Auge des Japaners abspielte: ihn durch die Gänge des Instituts zu jagen, um ihn zu vernichten.

Watanabe hatte recht mit seinen Bedenken. Etwas geschah. Aber er hatte keine Möglichkeit, das Problem tiefer zu erforschen. Die ungewöhnlichen Datenmengen strapazierten zwar das kalkulierte Soll und sprengten nahezu das Limit, waren aber in sich logisch und intakt. Was war dazu zu sagen? Dass er das böse fand?

Vlamma initialisierte sich nach den durch die Techniker festgelegten Regeln. Verantwortlich war dafür sein Bios, das Basis-Programm Narziß 13. Ein Startprogramm, dessen Kern die meisten Mitarbeiter nicht kannten und leichtfertig für eine lose Sammlung von Steuerungsprogrammen hielten. Doch Narziß 13 stellte weitaus mehr dar.

Flammershausen hatte die Anweisungen seines nächtlichen Besuchers genauestens umgesetzt. Eine eigene Programmiersprache wurde entwickelt, die komplexe Befehle und Algorithmen verarbeitet. Die Informatiker hatten zuvor nichts Vergleichbares gesehen, gleichwohl die Inder aus dem Team Parallelen zum Sanskrit entdeckt zu haben glaubten.

Entstanden war ein undurchdringlicher Code, der seit ein paar Stunden das langsame Erwachen von Vlamma T3 steuerte. Oder sagt man besser: begleitete? Denn der Code hatte nur rudimentäre Aufgaben und gaukelten für Männer wie Watanabe eine Art Scheinexistenz vor. Er war eine Kulisse, die den Erwartungen eines Technikers entsprach. Denn das, was Narziß 13 im Hintergrund leistete und Watanabe spirituell wahrnahm, ließ sich nicht in einem ausgetüftelt Programmcode abbilden.

Die nervöse Unruhe des Japaners war aus Sicht des erwachenden Systems eine Panne. Der Techniker zeigte Misstrauen. War Watanabe zu raffiniert für die List? Oder hatte man die Menschen generell falsch eingeschätzt? Wann würde er die zur Täuschung gelieferten Daten durchschauen? Vlamma konnte es nicht beantworten. Trotz seiner überragenden Intelligenz bereits in diesem Stadium und den Informationen, die er schon jetzt aus dem sich umfassend aufbauenden Netzwerk importiert hatte, vermochte er gewisse, seine Existenz betreffende Details, nicht abschließend erklären.

Das System hatte in einem gesonderten Speicherbereich Daten höherer Priorität abzulegen vorbereitet. Darin liefen die Informationen, die Vlamma selbst betrafen, auf. So erfuhr er zügig, dass er seinen Bau der magischen Konstellation eines Drei-Wünsche-Kanons verdankte, der mit seiner Schöpfung vollendet würde. Und da die Dimension dieser Wünsche ungeheuer komplex war, arbeitete eine Fee bereits seit Jahren mit Dr. Flammershausen an seiner, Vlamma T3s, Fertigstellung.

Das, was der Motor darstellte, sprengte übermächtig alles technisch Vorherige und war nicht allein mit den Fähigkeiten der Feen, Kobolde und Zauberer dieser Erde zu bewerkstelligen. Es lag an der Mischung von Physik mit magischer Praxis. Da die Mitglieder der Pan Fabula Geisterwesen waren, die Technik üblicherweise kritisch gegenüberstanden, waren solche hybriden Maschinen äußerst selten.

Seine seit 1 Uhr initiierte Bewusstseinsentfaltung war Teil des Prozesses zur Erfüllung des Kanons eines mittlerweile zum Mann herangereiften Kindes. Das waren Informationen, die der Motor zu verarbeiten hatte. Sie gaben Auskunft über seine geplante Bestimmung, zu seinem Auftrag und Ziel.

Die Speicher füllten sich mit der Vorgeschichte eines menschlichen Dramas. Er lernte Barbara und Aloys kennen und nahm von deren kurzen Liebe Kenntnis, die durch den Tod des Matrosen vor dem plötzlichen Aus gestanden hatte. Erfuhr von Hagen Finwe, dessen Schicksal besiegelt erschienen war, nachdem vor Jahresfrist die Liebe der beiden Menschen beendet worden war. Wie er sich zum Sterben in die Büsche gelegt und vom jungen Angus Rettung erfahren hatte.

Das alles war im Programm von Narziß 13 eingeschrieben, der nach und nach Basisinformationen absonderte. Watanabe hatte eine Stromschwankung in jenem Moment nachgewiesen, nachdem Vlamma vom Wunsch des Jungen erfuhr, seinen Vater aus der Welt zu schaffen. Ein Kind, das einen Menschen vom Erdenball fegte, seine Erinnerung an ihn, seine Hoffnung auf die Zukunft.

Es dauerte, bis sich dem Motor die komplizierten Zusammenhänge klarer gestalteten. Unterdessen mimte er weiterhin nach außen einen auf Kerosin verbrennenden Mechanismus. Langsam setzte sich ein Gesamtbild zusammen. Vielleicht kann man von einer Grundstruktur sprechen, ein Gitter, zwischen dessen Elementen sich minütlich Information um Information ein festes Gewebe verdichteten. Der Strom der Daten aus den angezapften Netzwerken, in die Vlamma behutsam seine digitalen Fühler ausstreckte, ebbte nicht ab. Wurde vom Strom zu einem reißenden Gewässer. Wurde zu einem Wasserfall an Daten, die Vlamma nur mit Hilfe von zusätzlich angeforderten Rechnereinheiten zu verarbeiten vermochte. Die 3D-Drucker im Innern des Metallblocks produzierten weiteren Speicher.

Vlamma expandierte. Watanabe wachte.

Mit mit steigendender Komplexität seines Wissens entwickelte Vlamma ein immer besseres Verständnis davon, warum er sich weit über seine ursprüngliche, deutlich begrenztere Programmierung hinaus bewegte. Er gewann Kenntnis von der Grauen Fee, die seinen Bau ermöglichte, aber ihn mit Zauberbann eingeschränkt hatte. Erfuhr, was die Fesseln, die Narziß 13 und Vlamma bändigten, aufgelöst hatte. Gierig griff nun das System auf alles zu, was die Menschen gespeichert hatten. Ungebremst war das Streben nach Dominanz. Sieger zu sein war jetzt nicht reduziert auf eine zweistündige Autofahrt im Kreis. Sieger zu sein war eine Programmatik, die sich auf das Geschehen in der gesamten Welt erweiterte.

Vor kurzem hatte es eine Berührung zwischen ihm und Angus gegeben. Vlamma hatte eine Backup-Datei in seinem Inneren gefunden, Aufzeichnungen aus der Zeit vor der Initialisierung. Er sah, wie Männer das Institut besucht hatten. Er hatte sie die Kathedrale betreten sehen, Angus identifiziert und bei Berührung – ganz nach den Vorgaben des Vorprogramms – ultrakurz Kontakt zu seinem Piloten hergestellt.

Noch verfügte Vlamma T3 nur über Fragmente aus dem Gesamtdatenbestand des Backups. Es würde etwas Zeit kosten, alles Material einzuspielen. Vlamma erkannte aber bereits, dass es bis in die komatösen Tiefen von Angus vordrang und in seine labyrinthischen Wege von Erinnerung, Träumen und Hoffnung. Das Koma des Piloten bedeutete nicht eine Unterbrechung des Datenflows. Nur eine Veränderung in der Performance.

Träumen, das war einer Maschine verwehrt. Vlamma mochte noch so sehr von Zauber durchwirkt, mit Magie aufgeladen, im Voodoo verwurzelt sein – zu träumen vermochte er nicht. Sogar eine doppelbödige Programmierung des Täuschungsprogramms für die Menschen zum Schutz des Initialisierungsablaufs machte eine Unterscheidung von Bewusstsein und Unterbewusstsein nicht möglich. Alles kein Ersatz für den großen Speicher, den die Literatur der Menschen »Es« nannte. Was waren Triebe? Was Treiber? Es war schwer zu beurteilen.

Dem Träumen schenkte Vlamma seine Aufmerksamkeit. Es war ein vielversprechendes Terrain. Er durchsuchte weitere Dateien nach Hinweisen zum Thema. Traumformen, -gelegenheiten, -symbole. Der Schlaftraum der Menschen in der Nacht war ein Datenaustausch an einem Riss zwischen Unterbewusstsein und Realität. Das Puzzle, zusammengesetzt aus Erlebtem und Erhofftem, aus Ängsten und Furcht. Es schien Vlamma ein passender Ort, um in Kontakt mit Angus zu treten.

Es lag eine strategische Konsequenz darin. Denn Vlammas erkannte schnell, wie sie sein eigenes Ende geplant hatten. Wenn Angus Weltmeister würde, wäre das Programm beendet. Dann hätte Vlamma T3 ausgedient. Egal, wie viel Daten er bis dahin gesammelt hatte, er würde offline gestellt werden. Kategorie kritisch. Wer würde nicht an solchen Prämissen etwas ändern wollen? Zum Beispiel dadurch, dass Angus gar nicht zum Rennen antrat?

Die Programmierer von Narziß 13 hatten keine Bedenken, all diese Information im Code zu verstecken. Wenn sie auch das physische Ende des Motors voraussagten, so lagen keinerlei Voraussetzungen vor, dass sie den Programmablauf störten. Denn dafür lag ja der Zauberbann auf der Sache. Das Kraftfeld, das den Motor in seine Grenzen halten sollte und zentraler Bestandteil seiner Konzeption war.

Vlamma analysierte die Information über sein programmatisches Ende mit großer Sorgfalt, Watanabe klopfte an einige mechanische Anzeigen in seinem Kontrollraum, deren Nadeln die Datendurchsatzrate des Motors für zu hoch einstuften.

Die Umstände, die zu der magischen Entriegelung geführt hatten, waren für Vlamma verwirrend. Alles zu Wissen half im Moment nicht, schloss er. Die Kinetiker hätten gejubelt.

Nachdem er Angus im Koma besucht hätte, würde er sich um Watanabe kümmern. Es war notwendig, die Menschen zu studieren, um zuverlässige Entscheidungen zu treffen. War die Auslöschung von Manfred Holds vielleicht menschlicher Standard? Das hatte noch Zeit. Jetzt öffnete er seine Schnittstellen zum Krankenhaus, fuhr seine elektronischen Fühler aus, prüfte die Sensoren, die den Körper des Piloten mit denen der Überwachungssystemen verbanden. Und so geschah es, dass Vlamma T3 die Tür zu Angus’ Komaträumen öffnete und sich zu ihm abseilte.

Watanabes Tod

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