Читать книгу Der bekiffte Boxer beim Erstrundengong - Oliver Schulz - Страница 4
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ОглавлениеGerd Bronsigs Vermächtnis waren Schulden. Die Familie Bott schlug das Erbe aus und Marc blieb nichts Handgreiflicheres von seinem Vater als die Bekleidungstruhe mit seinen Mänteln und Jacken.
Seit des Vaters Tod wirkte Marcs Mutter ausgeglichener. Die finanzielle Situation der Familie hatte sich durch sein frühes Dahinscheiden gebessert und Charlotte Bott erschien das Leben überschaubarer ohne ihn. Sie brauchte keinen Mann, jedenfalls keinen wie Gerd Bronsig, suchte nach Überblick und Ordnung. Die Mutter an ihrer Seite gab Charlotte zusätzlichen Halt und sichtbare Zufriedenheit. Sie ließ es zu, dass die Großmutter endgültig die Geschicke der Restfamilie okkupierte und den Tagesablauf bestimmte. Marcs Mutter arbeitete weiterhin im Krankenhaus, wurde bekocht und begab sich nach dem Abendessen vor den Fernseher. Die Nacht wurde geflimmert, die Oma bestimmte das Programm. Charlotte Bott verlangte nicht nach mehr und niemand fragte Marc, was er wolle.
Obwohl Marc anerkannt hatte, dass ihn seine Mutter aufrichtig liebte, im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles für ihn gab und sich wirklich bemühte, fühlte er sich im Gegensatz zu ihr zu den Lebensmaximen des Vaters hingezogen, meinte eine geistige Verwandtschaft mit ihm zu erkennen. Aber die Oma und seine Mutter meldeten vehement den Anspruch an, Marcs Geschicke zu bestimmen.
„Dein Vater war keinesfalls unnütz und schon gar kein schlechter Mensch. Ihm fehlte nur jeglicher Fleiß. Er war zum Vater besser geschaffen als zum Arbeiter.“
Charlotte Bott sprach nach dem Tod des Vaters in Marcs Gegenwart nur in besten Worten von ihm, obwohl es ihr an Gründen für manche Klage nicht gefehlt hätte. Die Oma war anders.
„Dein Vater war der faulste Hund auf Erden. Sieh zu, daß du nicht wirst wie er,“ zeterte sie noch Jahre nach seinem Tod und ahnte wohl bereits, wessen Vorbild Marc nacheiferte. Marc hasste seine Oma, obwohl sie vortrefflich kochte. Für ihn hatte die Oma durch ihre ständige Nörgelei den Vater in die Arbeit und somit den Tod getrieben. Mit vierzehn Jahren und den Waffen eines Pubertierenden nahm er den Kampf gegen sie auf.
Marc fischte einen verbeulten Hut und den alten, zerschlissenen Lieblingstrenchcoat seines Vaters aus der Truhe, sah im Kino „Quadrophenia“, hörte „Madness“ mit gewaltiger Lautstärke und tanzte bei verschlossener Tür den „Gangsterbeat“ der „Specials“. Die Oma hämmerte vergeblich gegen die Wände. Sie saß jetzt abwechselnd in der Küche oder im Wohnzimmer und moserte, wenn sie Marc sah:
„In deinem Alter solltest du mitverdienen. Übernimm einen Ferienjob!“
Marc blieb sechs lange Wochen Sommerferien bis zum Mittag im Bett, attackierte ihre und seine Ohren mit den „Sex Pistols“ und „The Police“.
„God save the queen and her fascist regime,“ brüllte er durch die vergipsten Wände bis seine Großmutter die Nerven verlor, die Wohnung verließ und sein Mittagessen an die Hinterhofkatzen verfütterte.
“The Police“ war mehr den gefühlvolleren und einsamen Momenten vorbehalten. Sting sang von einer „Message in a bottle“ und Marcs Wut und Unzufriedenheit verbargen sich hinter mürrischer Verweigerung und diversen pubertären Selbstzweifeln. Er fühlte sich unsicher und hässlich und dabei kamen doch nun gerade die Mädchen ins Spiel.
Marcs schlechte Noten des Vorjahres etablierten sich, der Sprung in die Oberstufe war gefährdet. Die Lehrer bescheinigten Marc sowohl ein Grundmaß an Intelligenz, wie auch eine bedenklich träge und rebellische Haltung. Marc war ehrlich zu sich: Er wusste, dass er eigentlich nicht intelligent genug war, um sich seine desinteressierte Faulheit leisten zu können, aber er mogelte sich so eben überall durch und kam knapp über die Klippen hinüber. Das klappte erfreulich oft, aber halt auch nicht immer. Mutter und Großmutter sorgten sich im Chor.
„Du musst dich mehr anstrengen, auch wenn du das Abitur nicht schaffen solltest. Mit deinem nächsten Zeugnis musst du dich bewerben – Lehrstellen sind knapp heutzutage.“
Mit solchen Reden verdarben Oma und Mutter Marc das Abendessen.
„Wer will denn hier malochen bitte?! Ich werde jedenfalls keine ehrliche Arbeit annehmen und schon gar keine dusselige Lehre machen! Ich will mein Leben nicht verschwenden,“ verkündete er in provozierender Manier lauter und öfter, als es für ihn gut war. Seine forsche Berufsvorstellung hatte die Streichung des Taschengeldes zur Folge. Aus pädagogischen Gründen. Doch Marc blieb stur. Zwei Wochen widerstand er tapfer den Versuchungen der westlichen Einkaufswelt, ließ die Verlockungen des Kapitalismus an sich abprallen. Schrittweise aber stetig steigerte sich dann aber seine Begierde an Besitz und ihm kam die seit Menschengedenken erprobte und zuhauf für gut befundene Problemlösungsstrategie des Shoppings ohne Geld in den Sinn: Marc klaute!
Zuerst erprobte er sein Geschick in der Süßigkeitenabteilung eines großen Kaufhauses, erachtete seine Beute dann aber als zu gering und des Aufwandes nicht wert, arbeitete sich weiter zu den Zeitungsständen vor, wodurch seine „Asterix-„ und „Lucky Luke-Sammlung“ im Laufe der Wochen komplettiert wurde, und suchte seinen Meister schließlich in der Herrenmodenabteilung, wo eine schwarze Lederjacke sein ganzes Begehren entfachte. Wild, schwarz, düster, frei und gefährlich - es war die beste Jacke, die Marc sich für sich vorstellen konnte und ihr Preis sprengte sämtliche Rahmen.
Zwei Tage schlich Marc im Herrendistrikt herum, beobachtete die Umgebung, probierte zwecks der Unauffälligkeit mehrere Hosen in der Wechselkabine und hielt seine Zeit schließlich mit dem einfachsten aller Tricks für gekommen. Er stopfte die Lederjacke in einem unbeobachteten Moment zwischen mehrere Hosen und verdrückte sich in die Umkleidekabine. Dort prüfte er den Schnitt der Jacke kritisch im Spiegel und stellte mit großer Sehnsucht fest, dass sie ihn zu seinem besten Vorteil kleidete: Er musste sie einfach besitzen!
Marc atmete tief ein, stopfte sich den unteren Teil der Jacke in die Hose hinein, atmete mühevoll aus und zog dann in der bedrückenden Enge des Umziehkäfigs Pullover und den weiten Trenchcoat seines Vaters über das heißbegehrte Kleidungsstück an seinem Körper. Sofort begann Marc fürchterlich zu schwitzen. Ein Blick in den Spiegel verriet ihm das Ausmaß seiner Idee und noch einmal zweifelte er. Zwar war das Objekt seiner Begierde unter dem Mantel verborgen, aber Marcs Oberkörper ähnelte nun stark einem aufgeblasenen Schwimmreifen; seine wuchtige Schulterpartie erinnerte an düsterste Barbarenfilme.
Marc schob jedoch alle Bedenken beiseite, entschied sich zum Angriff, riss den Vorhang zur Seite und betrat den Verkaufsraum. Kleine, salzige Perlen sammelten sich auf seiner Stirn, doch er zwang sich zur Ruhe und versuchte kontrolliert dem Ausgang zuzustreben. Es gab nun kein zurück mehr.
„Nur nicht in Panik verfallen,“ dachte er, während Sekunden später sein unproportional aufgeblähter Körper einen Warentisch mit Geschirrangeboten streifte. Erschreckt blickten die Menschen auf, als mehrere Teller klirrend zu Boden gingen. Wie gelähmt sah Marc die unvermeidliche Verkäuferin nahen.
„Es tut mir ...leid,“ stammelte er schwitzend, während sie schimpfend zu seinen Füßen die Scherben auflas.
„Nun fass wenigstens mit an,“ beschwerte sich die Kaufhausangestellte, aber Marc konnte sich nicht bücken. Er wäre geplatzt, so sehr drückte die Lederjacke in seiner Hose.
„Ich hab es mit dem Rücken,“ flüsterte er mit hochrotem Kopf, während seine Schweißtropfen neben die Scherben plierten.
„In deinem Alter,“ duzte sie Marc böse und betrachtete ihn eingehender. Hilflos zuckte Marc nur mit den Schultern.
„Verschwinde,“ knurrte sie und Marc stolperte blitzschnell dem Ausgang entgegen. Ihm war, als seien sämtliche Augenpaare des Kaufhauses auf ihn gerichtet. Und so lauerte Marc insgeheim voller Panik auf den Griff an seinen ausufernden Mantel: “Kommen sie doch mal bitte mit!“
Er durchbrach die Ausgangspforte, betrat die Straße und wurde immer schneller. Der warme Hauch von Triumph, Gelingen und
Erfolg durchströmte ihn und beschwingt strebte Marc der nächsten öffentlichen Bedürfnisanstalt entgegen, um die ersehnte Jacke dort ihrer Bestimmung zu übergeben.
„ Hey! Hey, sie da,“ rief eine Stimme hinter Marc mit einem Mal. Er blickte sich um und registrierte erleichtert, wie der Mann hinter ihm eine blonde, offensichtliche Schönheit zu Marcs Rechten anrief. Leider hatte der Kaufhausdetektiv aber doch Marc gemeint und im eisernen Griff des kräftigeren Detektivs ließ sich Marc zurück ins Kaufhaus zerren.
Im Büro des Detektivs, wo Marc auf die Polizei und seine Mutter wartete, entschied er, sich ein für allemal vom plumpen Diebstahl loszusagen und allen Vorwürfen in Form von sozialistischer Selbstkritik den Saft zu entziehen. Sein Vater hatte ihn gewarnt: Er würde sich nie wieder erwischen lassen und der Schlüssel zum Erfolg, so ahnte er, waren Sorgfalt, Kreativität und Geschick. Er war einfach zu gierig und unüberlegt gewesen.