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ОглавлениеZwei Jahre vor Einzug in die WG
Höhere Reife
»Das ist ja ein süßer Fratz!«, ruft Nico und zeigt auf Hartmuts alten VW-Bus. »Hast du den adoptiert?« Nico lacht. Er hat eine Traube von Mitschülerinnen und Mitschülern im Schlepptau. Wie immer. Wie seit der Kindheit. Nico war die ganze Zeit der Held der Schule. Jungenheld. Frauenheld. Alphatier. Bester Sportler. Reichster Sohn. Sänger der Schulband. Mit vierzehn hatte er bereits fünf Freundinnen verbraucht, zwei davon allein auf der Siebener-Klassenfahrt.
Hartmut sagt: »Die habe ich aus dem Tierheim. War schwierig. Es gab viele Bewerber dafür. Eine Tigerente findet man nicht oft.«
Nico grinst und hebt seinen Daumen, als sei Hartmut ein Gegner beim Boxen und hätte den Schlag gut pariert. Es sieht arrogant aus. Gönnerhaft.
Ich drehe mich zu Hartmut und sage: »Dein Bus ist eine sie?«
»Natürlich«, antwortet er. »Eine Ente ist immer eine sie. Sonst wäre es ein Erpel.«
Manchmal verstehe ich ihn nicht. Er hat den großen, zum Wohnmobil umgebauten VW-Bus extra so vor dem Eingang der Niederrheinhalle geparkt, dass alle Mitschüler und Eltern auf dem Weg zur abendlichen Abiturfeier uns damit sehen können. So wie die Halbstarken es früher in den Filmen aus den Fünfzigern mit ihren Cadillacs machten. Zum Angeben. Wir parken immer so, seit Hartmut das Ding besitzt. Auffällig vor Konzerthallen. Auf Festivals direkt am Weg statt tief in der Wohnwagenmenge. Am Rande von Trödelmärkten. Hartmut will gesehen werden. Nur eben nicht mit einem amerikanischen Muscle-Car, sondern mit einem Volkswagen LT, den er direkt nach dem Kauf zur Tigerente umgestaltet hat. Nicht sauber mit der Spritzpistole, sondern mit Pinsel und Händen. Es sieht aus, als hätte ein Kind ein Fahrzeug bemalt.
»Alles was ist, ist Metapher«, sagt Hartmut. »In dieser Welt braucht es Männer, die freiwillig eine Tigerente fahren. Als Gegengewicht.« Beim Sprechen schaut er Nico und seinen Anhängern hinterher. Zu ihnen gehört auch Corinna. Ihr habe ich in der siebten Klasse hinterhergesehen. Einmal starrte ich eine halbe Ewigkeit auf ihre Hände, als sie Schwierigkeiten hatte, ihr Fahrradschloss aufzufummeln. Es war Winter. Weißer Reif lag auf jedem Blatt und den Pfosten des Zauns. Sie trug fingerlose schwarze Wollhandschuhe, und statt einfach zu ihr zu gehen und ihr zu helfen, stand ich da wie ein Idiot, stellte mir vor, wie diese Finger ganz woanders herumfummeln würden, und bekam ein schlechtes Gewissen. Ich habe Corinna nie gekriegt. Nico ging ein paar Wochen mit ihr. Für ihn war sie eine von vielen. Für mich gab es nach Corinna nur noch Bina. Oder eben auch nicht. Aber das ist eine andere Geschichte. Nico jedenfalls hat eine deutsche Mutter und einen griechischen Vater. Beide Nationalitäten haben ihre deutlichsten Spuren hinterlassen. Sein Körper ist von germanischer Größe und wikingergleicher Haltung, während seine Wangenknochen vom Gott Apollon selbst modelliert wurden. Und das Schlimme ist – er weiß das!
BLUUUUUAAAAAARRRRRRGHHHHHHH!!!
Ein blauer VW Käfer knattert um die Ecke. Death Metal quillt aus den Fenstern, als würde sich das Automobil zu allen Seiten hin übergeben. Jens. Er winkt aus dem offenen Fenster und guckt viel zu heiter für das eitrige Todesgebrüll. Mit schorfiger Vollbremsung parkt er die rollende Antiquität auf dem Schotterplatz gegenüber, schaltet den Krach aus, zieht seinen Seesack von der Rückbank und marschiert voller Vorfreude zu uns herüber.
»Nur noch ein paar Stunden!«, ruft er und wirft den Seesack an Hartmut vorbei in die Tigerente. Das Jackett zur guten Jeans sieht gar nicht übel an ihm aus. Jedenfalls besser als die T-Shirts, die er sonst trägt. Motive von Bands wie Autopsy oder Pestilence. Selbst Hartmut und ich tragen heute das anständigste, was wir gefunden haben. Hartmut eine Weste über einem schwarzen T-Shirt, ich meinen Konfirmationsanzug. In einer Stunde sitzen in der Halle sämtliche Eltern und Schüler beisammen und feiern das Ende von dreizehn Jahren Bildung. Und danach, heute Nacht, wenn alle auseinandergehen, steigen wir drei in die Tigerente und fahren Richtung Süden. Einfach so. Ein paar Wochen lang. Im Stauraum unter den Sitzbänken haben wir Dosen gehortet. Zehn Paletten Bier. Acht Paletten Ravioli. Vier Paletten Tomatensuppe. Und jede Menge Klopapier für Jens.
»Ich muss pinkeln«, sagt er, sieht sich kurz um und läuft zum Grünstreifen am Rande des Geländes. Jens hat noch nie eine Toilette benutzt. Er muss sich stets unter freiem Himmel erleichtern. Das ist sein Gesetz. Vielleicht liegt es an seinem chronischen ADHS. Er kann keine Musik hören, deren Schlagzeug langsamer ist als ein Flakgeschütz. Wenn’s nicht Todesgewürge ist, ist es Skatepunk. Früher hat er statt Luftgitarre gerne Luftskateboard gespielt. Mit einem imaginierten Brett unter den Füßen ist er die Wände und Treppengeländer hochgesprungen. Er ist ein wenig älter als wir und erst in der zwölften Klasse auf unsere Schule gewechselt. Hartmut mag ihn, obwohl der kleine Hektiker das Gegenteil von mir ist. Oder vielleicht deswegen.
»Ist Death Metal nicht auch viel zu männlich?«, frage ich ihn, während Jens den Rhododendron wässert.
Hartmut antwortet mit einer Gegenfrage: »Lassen Pestilence in ihren Videos spärlich bekleidete Frauen mit String Tanga am Pool den Popo in die Kamera halten?«
Ich antworte nicht, nehme einen Schluck Bier und ziehe die Augenbrauen hoch.
»Oder lässt Nico jemals Obituary laufen, wenn er wieder eine neue Perle in seinen Wagen locken möchte?«
Hartmut spricht das Wort »Perle« mit einer Mischung aus Spott und Bedauern aus. Nicht, weil er kein Respekt vor Mädchen hätte, sondern weil er es nicht mag, wie unser griechischer Frauenheld Nico sie betrachtet. Wie frische Hähnchen an der Grillstange. Schnell vernascht, schnell vergessen. Ich gebe zu, den Soundtrack für diese Methoden liefern dem Macho keine blass geschminkten Okkultisten, sondern afroamerikanische R’n’B-Sänger mit Diamant-Ohrringen. Die sind mir ebenfalls unsympathisch. Ich bin froh, zu den Männern zu gehören, die noch wissen, was Anstand ist.
»Hey!«, ruft Jens und lehnt sich nach hinten aus der Rabatte, »noch ist was in der Blase! Will keiner die Chance nutzen und den Strahl kreuzen?«
Eine Stunde später sitzen wir an den runden Tischen in der Halle und lauschen gemeinsam mit unseren Eltern der Rede von Direktor Knüfer. In meinem Fall bedeutet das: Meine Mutter sitzt schweigsam wie ein Spierstrauch neben Hartmuts plappernder Erzeugerin und seinem zurückhaltenden Papa. Der ist ähnlich sparsam mit Worten wie meine Mutter, aber aus anderen Gründen. Er war mal Studienrat und spricht nur, wenn es druckreif ist oder zitierfähig. Meine Mutter betreibt eine Baumschule außerhalb der Stadt und betreibt Konversation mit Menschen genauso wie mit Pflanzen: telepathisch. Ihr Weg zur Veranstaltungshalle war kurz. Das Hochhaus am Bahnhof, in dem wir leben, kann man vom Vorplatz der Halle aus sehen. Es ragt mit seinem Zwilling daneben über das ganze Viertel hinweg wie die unheimlichen dreibeinigen Herrscher. Meine Tante Judith und mein kleiner Cousin Dennis sind ebenfalls gekommen. Sie sind vor ein paar Jahren in den zwölften Stock über uns gezogen, als auch Judith von ihrem Mann im Stich gelassen wurde, so wie meine Mutter von meinem Vater, als ich klein war. Wahrscheinlich hat Hartmut Recht. Gegen den menschlichen Mann an sich, wie er mehrheitlich ist, muss etwas unternommen werden.
»Und du?«, fragt mich Hartmuts Mutter. »Schon aufgeregt?«
Ich nicke, aber aus anderen Gründen. Sie meint den Campingbus-Urlaub, in den wir heute Nacht starten. Ich meine den Deal, den Hartmut mit Nico gemacht hat. Oder besser gesagt, mit dem Komitee für die Abiturfeierlichkeiten, das von Nico geleitet wurde. Der Deal geht so: Nico und seine Leute durften die Party auf dem Schulhof und den Abiturscherz organisieren. Sie meinten, wenn Hartmut das mache, käme bestimmt eine Aktion dabei heraus, die kein Mensch ohne Kunststudium verstünde. Damit lagen sie sicher richtig. Also machten sie »albernen Kinderkram«, wie Hartmut es nannte, besorgten tonnenweise Heu vom Bauern und verbarrikadierten damit das Lehrerzimmer. Zum Abi-Motto erkoren sie das Kürzel A.B.I. – Amtlich bescheinigte Inkompetenz. Hartmut weigert sich bis heute, das T-Shirt zu tragen. Im Gegenzug dafür, dass Nico und seine Schergen diesen Quatsch aufziehen durften, darf Hartmut gleich nach Direktor Knüfer im Namen der Schüler die Abschlussrede halten. Das ist der besagte Deal. Und das wiederum hätte ich an Nicos Stelle niemals zugelassen!
» … und daher wünsche ich nun allen Schülerinnen und Schülern des Jahrgangs alles Gute auf ihrem weiteren Lebensweg. Mögen alle Ihre Träume und Wünsche in Erfüllung gehen!«
Direktor Knüfer packt seine Ledermappe zusammen und nimmt den höflichen Applaus der Menge entgegen. Es sind viele Menschen anwesend und die Tische wurden weitläufig verteilt, doch trotzdem verlieren sie sich in der Halle, die wie ein Hangar wirkt. Groß und ungemütlich. Die Toten Hosen haben hier schon gespielt, und die Flippers. Die Türen des Eingangs sind dermaßen gigantisch, dass man mit dem Laster bis vor die Bühne fahren könnte, wenn man wollte. Der Direktor nickt Hartmut zu. Jens wippt am Nebentisch mit den Füßen und hebt den Daumen. Er hat bereits sämtliche Programmblätter zu Kranichen und Dackeln gefaltet. Hartmut betritt langsam die Bühne und stellt sich ans Pult. Ich reibe mir die Schläfen.
Hartmuts Mutter fragt: »Was hast du? Ist dir schlecht? Ich fand auch, dass die Shrimps am Büffet nicht gerade rosig aussahen.«
Ich schüttele den Kopf.
Vor meinem inneren Auge sehe ich die Verhandlung, die Nico mit Hartmut geführt hat, auf dem Schulhof vor der Milchbude. Ich höre Hartmuts Worte, wie er sagt: »Einverstanden, Nico. Aber wenn ich die Rede halte, dann sage ich die Wahrheit. Okay? Ich sage die Wahrheit.«
Nico schlug ein und hatte ihn wieder drauf, seinen Blick. Überheblich. Gönnerhaft. Niemanden ernst nehmend. Keine »Perle« und auch keinen Typen, der seinen Bus wie ein Tier aus einem Kinderbuch anmalt.
Nico, was hast du da getan?
Hartmut rückt sich das Mikrofon zurecht.
Es knackt.
Alle gucken.
Und Hartmut?
Sagt nichts.
Eine Sekunde.
Zwei Sekunden.
Drei Sekunden.
Jemand hustet.
Zwei Pilsgläser stoßen aneinander.
Jens’ Fuß klackert auf den Boden wie Kolibri-Flügel.
Vier Sekunden.
Fünf Sekunden.
Hartmut hebt den Kopf, die Koteletten durchleuchtet vom Scheinwerferlicht wie Dornenbüsche vom Vollmond in der Nacht.
Er atmet … und sagt: »Das Leben kann nur rückwärts verstanden, muss aber vorwärts gelebt werden.«
Dann schweigt er wieder.
Hartmuts Vater lächelt dezent in sich hinein.
Nico grinst überheblich an seinem Tisch. Sein Vater ist einen Kopf kleiner als er, aber einer der bedeutendsten Anwälte in ganz Nordrhein-Westfalen. Sagt man. Matthes‘ Eltern einen Tisch weiter betreiben den Trucker-Grill im Gewerbegebiet.
Hartmut lässt erneut ein paar Sekunden verstreichen, bevor er schließlich loslegt.
»Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler,
wenn wir uns in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren wieder treffen, wird viel in euer aller Leben passiert sein. Ihr habt eure Berufung zu eurem Beruf gemacht und folgt euren Talenten und eurem Herzen. Jeder geht seinen eigenen Weg, und sollte dies ein anderer sein als der, den eure Eltern euch vorgelebt haben, werden sie ihn trotzdem unterstützen und mit bedingungsloser Loyalität begleiten. Die Männer werden ihre Zeit beim Militär oder im Zivildienst nutzen, um menschlich zu wachsen. Die Frauen betreten derweil bereits die Universität und kommen in den Genuss echter, freiwilliger Bildung. Marschieren sie auf diesem Weg zum Magister oder Doktortitel durch, ernten sie ebenso viel Ansehen, wie wenn sie sich zwischendrin verlieben, eine Familie gründen und alle beruflichen Ambitionen zugunsten der ersten eigenen Kinder auf Eis legen. Alle werden sich verändern und ihre Freunde diese Entwicklung mit Neugier und Interesse verfolgen. Die neuen Partner und Partnerinnen, die mit der Zeit in euer Leben treten, werden sie mit offenen Armen empfangen, da jeder neue Mensch eine Gruppe bereichert. Sehen wir uns in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren wieder, tragen wir nicht nur Westen und Anzüge, wie wir es heute unserem Direktor und unseren Eltern zuliebe tun …« –dezentes Gelächter im Saal – » … sondern fühlen uns auch so erwachsen, wie diese Kleidungsstücke aussehen. Und das meine ich positiv. Alle Vorurteile, alle Kindereien und alle Rollenspiele, mit denen wir uns in den letzten Jahren gequält haben, sind dann zu Ende, und wir begegnen uns auf Augenhöhe. Mit Wertschätzung und Respekt.«
Der Direktor dreht sich zu uns um, als wolle er sagen: Alle Achtung, euer Freund, der Verrückte, also … alle Achtung. Selbst meine Mutter offenbart ihren seltenen seligen Blick, den sie sonst nur hat, wenn die Koniferen in der Baumschule wie an der Schnur gezogen in die Höhe schießen. Aber ich ahne, dass das noch nicht alles war.
»Aber leider«, fährt Hartmut fort, »wird es so nicht kommen.«
Der Direktor wirbelt wieder herum.
Meine Mutter findet braune Stellen an der Konifere.
Hartmut holt Luft und setzt neu an, als würde die Rede erst jetzt beginnen:
»Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler,
wenn wir uns in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren wieder treffen, wird viel in euer aller Leben passiert sein. Nur einer von zehn hat seine Berufung zum Beruf gemacht und folgt seinem Talent und seinem Herzen. Der Rest folgt den Erwartungen seiner Eltern, denn er weiß: Tut er das nicht, werden sie ihn mit wortlosen Vorwürfen und schweigsamer Bitterkeit strafen.«
Hartmut schaut bei diesen Sätzen zu Nico und seinem griechischen Vater, als sei der Mann der jähzornige Zeus.
Ich sinke etwas tiefer in den Stuhl.
Hartmut sagt: »Die Männer werden ihre Zeit beim Militär oder im Zivildienst damit verbringen, sich auf der Stube oder in der Umkleide heimlich zu betrinken, um die Sinnlosigkeit des Wehrdienstes und die herzlose Effizienz des modernen Krankenhausbetriebs auch nur halbwegs zu ertragen. Die Frauen studieren ‚Reli‘ und ‚SoWi‘ auf Lehramt und trauen sich nicht einmal, die eigenen Fächer mit vollem Namen auszusprechen, während sie sich heimlich wünschen, sie hätten den Mut gehabt, sich für Maschinenbau oder Chemie einzuschreiben und den Platzhirschen bei Bayer und BASF zu zeigen, wo der Hammer hängt. Sollten sie sich zwischendurch verlieben, Kinder bekommen und mit ganzem Herzen fürs Erste oder für immer nur Mutter werden wollen, werden vor allem alle anderen Frauen um sie herum sie dieses nur spüren lassen, als sei es ernsthaft einfacher, die Pädagogik jeden Tag am plärrenden Praxisteil auszuprobieren, als sich irgendwelche Seminararbeiten über die Erziehungstheorien von Jean Piaget aus den Fingernägeln zu saugen.«
Oh Gott, oh Gott, oh Gott.
Hartmut wird lauter und lauter. Jens hört auf, mit dem Fuß zu wippen, fährt sich mit der Hand übers Kinn, sieht sich um, steht auf und verlässt die Halle. Was soll das? Muss er pinkeln und deswegen schnell ins Freie? Hartmut sieht es, scheint aber nicht überrascht.
»Nur ganz wenige«, macht er am Rednerpult weiter, »werden sich verändern. Du, Matthes, du schon!«
Matthes legt die Hände flach auf seine Brust, als wolle er sagen: »Wer, ich?« Seine Eltern gucken entsetzt, als sei Hartmuts Wort das Gesetz der Zukunft, das bedeutet: Nach ihnen ist der Trucker-Grill Geschichte.
»Auch du, Mehmet, gehst deinen Weg.«
Die ganze Halle dreht sich um zu einem der hinteren Tische, an dem Mehmet mit seiner Familie Platz genommen hat. Sein Vater runzelt die Stirn und weiß nicht, ob das nun ein Kompliment war. Seine Mutter versteht kein Wort, weil sie kaum Deutsch spricht. Mehmet hat einen der besten Notenschnitte und sich fest vorgenommen, Umwelttechniker zu werden und eines Tages die ganze Welt mit sauberer Energie zu versorgen, falls das CIA ihn nicht in dem Moment, wo er die ultimative Methode gefunden hat, im Auftrag der Ölkonzerne erschießt. Dennoch hat er in der Schule immer den lustigen Türken gegeben, so wie Eddie Murphy im Kino den lustigen Schwarzen.
»Aber erwarte dafür keinen Respekt, Mehmet!«, sagt Hartmut. »Von der Welt, ja, aber nicht von denen.«
Er zeigt quer über die Tische.
»Denn wenn ihr euch verändert oder ganz offen zu der Person werdet, die ihr eigentlich schon längst seid, die ihr aber immer versteckt habt, werden eure Freunde diese Entwicklung mit Neid und Missgunst verfolgen. Die neuen Partner und Partnerinnen, die mit der Zeit in euer Leben treten, werden für alles verantwortlich gemacht, was euren alten Freunden an euch nicht mehr gefällt, da jeder neue Mensch eine Gruppe und ihre Gewohnheiten gefährdet.«
Ich klappe meinen Hemdkragen hoch und bin mit der Nase bald auf Tischhöhe angekommen. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich für Hartmut. Ich habe doch gesehen, wie er an der Rede geschrieben hat, auf und ab laufend wie ein Tiger im Käfig. Ich bin die Stimme der Vernunft in unserer Beziehung. Ich hätte ihn bremsen müssen. Der Direktor wirkt, als überlege er sich, ob er das Mikro abschalten lassen soll. Nur Hausmeister Höttgen steht relativ entspannt im Hintergrund an der Wand der Halle. Wahrscheinlich, weil er ahnt, dass er in dieser Rede nicht vorkommen wird. Trotz der verweigerten Biomilch.
»Sehen wir uns in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren zum Stufentreffen, tragen wir erneut Westen und Anzüge, aber die meisten unter uns werden die Chance nutzen, um nur für einen Abend endlich wieder der Chef im Ring zu sein, der einen Matthes oder einen Mehmet aufzieht und mobbt, obwohl diese Männer längst die Welt verändern und als Kollateralnutzen zweistellige Millionenbeträge auf ihrem Konto haben.«
Mehmet und Matthes werden rot.
Nico, seine Anhänger und der Direktor werden weiß.
Vor der Halle ertönt ein Motor. Jemand betätigt die alte Schiebetür eines Transporters und direkt danach die gigantischen Flügeltüren der Halle. Es ist Jens. Die Köpfe drehen sich wieder. Hausmeister Höttgen klappt den Mund auf. Das Maul der Halle steht nun offen, und direkt davor brummt Hartmuts Tigerente, bereit zum Sprung wie ein knurrendes Raubtier. Jens steigt in den Bus. Hartmuts Eltern schauen sich an. Meine Mutter sieht die Koniferen brennen.
Hartmut startet den Schlussakkord. Er will den klassischen Machtmenschen-Mann vernichten, aber jetzt klingt er selbst fast so fanatisch wie damals ein gewisser Österreicher zu der Zeit, als der 1. FC Nürnberg ständig deutscher Fußballmeister wurde.
»ALLE Vorurteile, ALLE Kindereien und ALLE Rollenspiele, mit denen wir uns in den letzten Jahren gequält haben, werden auf den Stufentreffen der Zukunft wiederholt werden, und die Einzigen, die fähig sind, sich auf Augenhöhe, mit Wertschätzung und Respekt zu begegnen, bleiben spätestens ab dem zweiten Treffen diesem Unsinn fern und schreiben sich gegenseitig Briefe, mit Feder und Tinte, bei Rotwein und guter Musik, und zwar auf Büttenpapier!!!«
Mehmet und Matthes sehen sich gegenseitig an, als fragten sie sich, wo sie dieses Büttenpapier herkriegen sollen und ob in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren nicht auch elektronische Post reichen wird. Hausmeister Höttgen sieht hilflos zu Direktor Knüfer, der aufsteht und auch nicht weiß, was er dagegen unternehmen soll, dass Jens nun auf ein Zeichen Hartmuts hin mit dem Tigerentenbus in die Halle fährt und bei offener Schiebetür seitlich zum Stehen kommt.
Hartmut weiß, hätte er mir all das vorher verraten, ich hätte den Quatsch niemals mitgemacht. So aber stehe ich auf, verabschiede mich von meiner Mutter und seinen Eltern, als zöge ich in den Krieg, nicke meinen Mitschülern entschuldigend zu und gehe zum Bus. Hartmut sagt: »WIDERLEGT MICH, liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, WIDERLEGT meine Prognose. DAS ist ALLES, was ich mir VON euch und vor allem FÜR euch wünschen kann!!!« Stille.
Nur der brummende Motor der Ente.
Und eine Runde Pestilence, die aus dem Kassettenrekorder erklingt, während Jens auf dem Sitz auf und ab hüpft wie ein Zwerg auf Koks.
»ICH«, beendet Hartmut seine Rede, »bin dann mal weg!«
Mit einem lauten Rumms wirft er das Mikro auf den Boden, so dass es quietscht, wie wenn eine Band ihr Konzert mit eingeschalteter und vor die Box geworfener Gitarre beendet, und läuft zum Bus. Ich sitze bereits drin. Hartmut steigt ein, winkt in Richtung seiner Eltern sowie den Tischen von Matthes und Mehmet und zieht die Tür zu. Jens kurbelt am alten Lenkrad und fährt die Ente aus der Halle, durch die Tore, über den Vorplatz, auf die Straße und durch den Tunnel Richtung Bahnhof, Ring und Gleisbrücke, die auf die Ausfallstraße aus der Stadt führt.
Hartmut schaltet Pestilence aus.
Im Fenster ziehen am Horizont die Hochhäuser vorbei.
Vor uns liegen Holland, Belgien, Frankreich, Spanien … so lange die Vorräte reichen.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Jens lenkt mit rechts und kaut mit links am Fingernagel.
Hartmut lehnt sich zurück, als habe er erst jetzt die Schule wirklich abgeschlossen, und sagt: »Sollen wir noch kurz am Trucker-Grill halten, bevor wir Europa erobern?«
Ich schweige.
Hartmut haut sich vor die Stirn: »Ach, ich Dummerchen. Der hat ja gerade geschlossen.«
Jens schaltet Pestilence wieder ein.