Читать книгу Lost Levels - Oliver Uschmann - Страница 12
ОглавлениеZwei Jahre vor Einzug in die WG
Lampe aufs Tau
»Der Hunger! Der Hunger! Nichts ist für einen deutschen Mann schlimmer als der Hunger!«
Jens springt aus dem Bus, kaum, dass wir auf dem Hafenparkplatz in Bordeaux angehalten haben. Er läuft um die Tigerente herum, reißt die Tür auf, schiebt mich zur Seite, hebt das Polster hoch und kramt unter der Bank nach den Dosen mit der Tomatensuppe. Derweil betont er das »r« in »Hunger«, als würde er ein Lied von Rammstein singen.
»Hungerrrrr!!!«
Jens findet die Dose, öffnet sie, stellt sich vor den Bus und trinkt die Suppe direkt aus der Konserve. Blutrot läuft ihm der Saft die Mundwinkel herunter. Die Touristen gucken. Ich muss grinsen. Hartmut, der mittlerweile auch seinen Fahrersitz verlassen hat, bekommt hektische Flecken im Gesicht.
»Jens! Jetzt hör doch mal auf mit dem Scheiß!«
Ein kleiner Junge zeigt aus der Schlange der Besucher, die gegenüber am Kai anstehen, zu uns herüber. Die Touristen warten darauf, einen riesigen Kriegskreuzer zu betreten, der hier als Museumsschiff vertäut ist.
Jens setzt kurz die Dose ab und fletscht seine Zähne.
Ich winke dem Jungen und rufe: »Vampire. German Vampire.«
Hartmut funkelt mich an: »Aus! Schluss jetzt! Alle beide!«
Besorgt schaut er zur Schlange am Schiff. Familien mit Kindern und alleinstehende Männer mit Kamera auf der Brust, welche die Colbert, so heißt das Schiff, womöglich schon alleine zu Hause als Modell gebaut haben. Es sieht jedenfalls alt aus.
Jens stellt die Tomatensuppe ab und holt uns stattdessen drei Bierdosen aus dem Bus. Er und ich öffnen unsere sofort. Hartmut überlegt einen Augenblick, ob auch öffentliches Biertrinken zu schamlos wirkt, lässt dann aber ebenfalls sein Hansa Pils zischen. Wir sind im Urlaub, da gehört auch für ihn Bier zu den Grundnahrungsmitteln. Ansonsten aber überkommen ihn die Skrupel, seit wir die französische Grenze passiert haben.
»Prost«, sagt Jens.
»Skål«, sage ich.
»Santé!«, sagt Hartmut.
Der kleine Junge plaudert wieder mit seinem Vater, der auf die Flugabwehrkanonen des Schiffes zeigt. Blut trinkende Deutsche sind interessant. Bier trinkende Deutsche nicht.
Hartmut schüttelt den Kopf wie eine vorwurfsvolle Mutter.
Jens sagt: »Was?«
Hartmut sagt: »Du kannst doch nicht im Hafen von Bordeaux einen deutschen Blutsauger darstellen.«
»Meine Güte …«, mault Jens.
Hartmut dreht sich um und zeigt über den Parkplatz und die angrenzende Stadt, die sich dahinter erstreckt.
»Das hier ist Frankreich, Leute. Wir haben im Blut dieser Menschen gebadet! Frankreich ist eine große Kulturnation. Allein die Denker, die dieses Land hervorgebracht hat. René Descartes. Blaise Pascal. Und vor allem Voltaire!«
Hartmut spricht die berühmten Namen nicht bloß aus, er ruft sie, damit die Menschen in der Schlange und der Kartenabreißer am Museumsschiff sie auch ganz sicher hören können. »Eine ganze Nation der Philosophie, der Kunst. Und dann die Maler! Marc Chagall! Paul Gauguin!«
Der Kartenabreißer schaut zu uns herüber. Es muss seltsam aussehen. Ein abgerissener Mann mit ungepflegten Koteletten, der seit Tagen nicht richtig geduscht hat, steht vor einem rostigen, als Tigerente angemalten Transporter von Volkswagen und brüllt mit einem nach der alten deutschen Hanse benannten Bier in der Hand die Namen berühmter Franzosen.
Langsam versiegen die Namen aus Hartmuts Mund. Er nimmt einen kleinen Schluck aus der Dose und schaut mit schmalen Augen am Kriegsschiff vorbei über das glitzernde Wasser der Garonne.
»Jochen hätte mich verstanden«, murmelt er.
Diesen Satz grummelt er häufig vor sich hin, wenn man ihm in seinen Gedanken und Sorgen nicht folgen will. Am liebsten würde ich dann antworten: »Dann geh doch zu Jochen!« So, wie man im Westen den linken Jugendlichen und sogenannten Chaoten, die über die Marktwirtschaft meckerten, damals gesagt hat: »Dann geh doch nach drüben!« Zu Jochen zu gehen wäre noch nicht einmal so weit wie »nach drüben« in die ehemalige DDR, denn Jochen lebt seit vielen Jahren in Dortmund. Er war Hartmuts bester Schulfreund von der ersten Klasse der Grundschule bis zur sechsten Klasse seines ersten Gymnasiums, bevor Hartmut die Schule wechselte. Natürlich hätten die beiden sich danach noch sehen können, aber Jochens Eltern zogen aus unserer niederrheinischen Kleinstadt ins Ruhrgebiet und da Hartmut als Siebtklässler noch keinen Tigerentenbus hatte und Dreizehnjährige ungern regelmäßig mit der Bahn pendeln, verloren sich die beiden eine Weile aus den Augen. Dennoch denkt Hartmut ständig an Jochen. Vor allem eben, wenn seine anderen Freunde zu doof oder zu unsensibel sind, um seine komplexen Gedankengänge zu verstehen. Er war eben schon immer anders. Während wir, die einfachen Oberstufler, am Wochenende in der Imbissbude hinter dem Hospital Gyros Pita aßen, half er im Jugendhaus aus oder tapezierte unsere Heimatstadt mit Plakaten für Demonstrationen. Als Junge soll er an einem entlegenen Ufer der Lippe ein Sprungbrett gebaut haben. Nicht, um wirklich von dem Ding ins Wasser zu hüpfen, sondern, so seine eigenen Worte, »als Kunstobjekt«. Übernachteten wir als Volljährige später am See oder in der Nähe der Wälder, kroch er nachts zur blauen Stunde aus dem Zelt und spazierte in der Ferne durchs Unterholz. Wenn wir leise das Holz knacken hörten, wussten wir, dass er über Dinge nachdachte, die wir nicht verstanden.
»Was haben wir getan?«, jault Hartmut auf. Seine Grummelpause ist beendet. Die Augen werden wieder groß und die Gesten theatralisch. Heftig haut er sich die halbvolle Dose vor die Brust, so dass es spritzt. »Wir zerschneiden diese große Nation der Zivilisiertheit 1940 einfach mit einem Sichelschnitt.« Er lässt die Dose durch die Luft sausen, als hätte General von Manstein das Land damals tatsächlich mit dem Schwert geteilt. »Guderian und Rommel ignorieren von Kleist und brettern mit ihren Panzerdivisionen einfach alles nieder. Der Guderian kriegt sogar einen berühmten Spitznamen dafür spendiert. Heinz Brausewind. Das hört sich an wie ein Kinderbuch, verdammt nochmal!«
Hartmut wirft die Dose auf den französischen Boden. Dann hebt er sie zügig und mit Blick auf die Touristen und den Kartenabreißer wieder auf.
»Wenn ich gewusst hätte, dass diese Tour so anstrengend wird …«, sagt Jens.
»Er liest halt viel«, sage ich.
»Wir haben im Blut gebadet!«, ruft Hartmut.
»Du badest überhaupt nicht in Blut«, sagt Jens und zeigt auf den Bus. »Du fährst eine Tigerente und hast fünf Jahre lang an deiner Schule für die Einführung von Biomilch gekämpft! Meine Güte!«
»Ein Kinderbuch«, flüstert Hartmut. »Wie ein Kinderbuch …«
Da wir zu faul sind, einen offiziellen Campingplatz zu suchen und außerdem jeder von uns der Hanse schon ausgiebig Ehre erwiesen hat, bleiben wir einfach auf dem Hafenparkplatz stehen, um direkt gegenüber dem Kriegsschiff zu übernachten. Unheimlich erheben sich die Stahlmassen in der Dämmerung der hereinbrechenden Nacht. Wie ein Gebirge, das aus dem Wasser ragt. Wir sitzen auf Klappstühlen vor dem Bus und hören kalifornischen Skatepunk, den die Schweden von No Fun At All im hohen Norden aufgenommen haben. Auf die können wir uns alle einigen, denn den Death Metal von Jens kann kein Mensch den ganzen Tag lang ertragen, und die experimentelle Konzeptmusik, die Hartmut auf seinen Kassetten dabei hat, noch weniger. Diese Band aber akzeptiert unser Professor trotz ihrer »problematischen Formathaftigkeit«, vor allem, da er weiß, dass Sänger Ingemar Jansson privat ernsthafte psychische Probleme hat, die er in seinen Texten verarbeitet. In gedämpfter Lautstärke knallen die Gitarrenriffs zum eingängigen Gesang in den Abend und der junge Schwede singt davon, sich niemals richtig im Griff zu haben.
»When I think about you, everything changes
You you got to go, you you got to go
You you got to go, try to understand
It‘s nothing personal when I lose control.«
Jens trinkt und sagt, den Blick auf der Colbert: »Ich verstehe das nicht, Hartmut. Holland und Belgien haben die Nazis damals doch auch überrannt, und dort warst du auf dem Weg hierher noch völlig normal.«
Hartmut wackelt mit dem Kopf.
Ich muss schmunzeln.
Normal …
Was bei Hartmut halt so »normal« heißt.
Auf dem ersten Campingplatz in Holland hat er sämtlichen deutschen Nachbarn erzählt, er leide seit einem Unfall laut der Ärzte an einer schweren Störung des Sprachzentrums, glaube aber selber eher daran, dass er Verbindung in die Vergangenheit aufnehmen kann. Dann zuckte er zwischendurch unerwartet mit dem Schädel und begann, fließend Latein zu sprechen. Irgendwelche Texte, die er auswendig gelernt hatte. Wobei man schon sagen muss, dass er immer gut in Latein war. Dafür kann er ja auch kaum Französisch.
In Amsterdam stellte Hartmut sich halbnackt vor die Schaufenster der Prostituierten und bot sich selbst als vermeintlich kernigen Koteletten-Callboy jedem britischen Touristen an, der sich lallend eines der Mädchen kaufen wollte, bis ein paar Stiernacken uns schließlich auf Befehl der Berufsbeischläferinnen vom Platz jagten.
In Brüssel tanzte er vor dem Atomium mit einem Pappschild herum, auf welches er den dreiäugigen Fisch aus den Simpsons gemalt hatte und rief mit betrunkenem Schädel: »Praise the nuclear power! It’s not dangerous! It’s not dangerous!«
Doch hier, auf französischem Boden, da ist er nur noch nachdenklich und pathetisch. Nach sieben, neun Hansa Pils wird das meistens besser. Oder schlimmer.
Jens springt vom Klappstuhl auf und sagt: »So. Ich muss jetzt kacken.« Nervös schaut er sich um. Am Ende des Parkplatzes erstreckt sich eine Baustelle mit halb abgerissenen Häusern. Echte Ruinen, wie ausgebombt. Jens holt sich sein Klopapier aus dem Bus und setzt sich in Bewegung. Ich zeige in die entgegengesetzte Richtung: »Da hinten gibt es ein städtisches Klohäuschen.«
Jens sieht mich empört an: »Die Dinger mit Geldeinwurf, wo die halbrunde Tür aufgeht? Bist du irre! Da sind schon Menschen für Jahrzehnte drin verschollen. Und du weißt doch – nur unter freiem Himmel!«
Er läuft los Richtung Ruine.
Hartmut grinst.
Wie das Essen in Jens reinkommt, bereitet ihm keine Freude. Wie’s wieder herauskommt, macht ihm grundsätzlich gute Laune.
»Komm«, sagt er.
Ich schließe den Bus ab und komme.
Drei Minuten später kraxelt Jens in den finsteren Trümmern der Ruine herum wie eine Hyäne auf einer Müllhalde. Die Ruine hat kein Dach mehr, also zählt es für Jens als »draußen«, doch über den Zwischenwänden erstrecken sich immer noch ein paar alte Balken. Metallstreben ragen aus dem Chaos hervor wie wild in den Boden gerammte Riesennägel. Es knirscht und knackt. Hartmut leuchtet mit der Taschenlampe.
»Hast du’s bald?«, fragt er. Der Lichtstrahl streift kurz Jens‘ Gesicht.
Mit großen Augen antwortet der: »Ich muss schon das richtige Plätzchen finden. Das ist eine Kunst für sich.«
Hartmut kichert.
Ich überlege, ob ich ihn fragen soll, wieso er keine Probleme damit hat, dass Jens als Deutscher dem Franzosen in seine zerbombten Ruinen scheißt, sage aber nichts. Man kann froh sein um jede Minute, in der Hartmut auf andere Gedanken kommt.
»Nun mach schon«, hetzt er unseren Hektiker, der sonst nie so viel Geduld hat wie beim Aufsuchen einer geeigneten Kackstelle. Er hat dieses Ritual für sich zur Kunst erhoben. Hartmuts Vorschlag, alle Örtchen in Europa, die Jens mit seiner Wurst markiert hat, auch auf der Landkarte zu markieren, hat dieser schon am zweiten Tag der Reise mit Begeisterung angenommen. Die Karte klebt auf dem Kühlschrank im Bus und macht mächtig Eindruck.
»Hier«, sagt Jens und hockt sich zwischen die Trümmer. Man kann kaum was erkennen. Ich höre nur, wie er seinen Gürtel löst und die Schnalle gegen etwas Metallisches knallt. Dann zieht er die Jeans nach unten.
»Uhhh«, gibt er ein paar Sekunden später ein Geräusch der Freude von sich. Ich stehe in einer Ruine am Hafen von Bordeaux und bin im Urlaub mit einem Mann, der sich ständig darum sorgt, was deutsche Generäle vor über sechzig Jahren hier angerichtet haben und einem, der ständig in unserer Gegenwart unter freiem Himmel seinen Unrat abseilt.
»Oh Gott, Jens!«, ruft Hartmut und meint damit den Geruch, den man eher mit »Oh Teufel, Jens!« kommentieren sollte.
»Fünf Prozent Tomatensuppe, fünf Prozent Pfeffersalami und neunzig Prozent Hansa«, quetscht Jens zwischen den Zähnen hervor. Mir macht das nichts aus. Daheim in unserer Wohnung im Hochhaus gibt es keine Schlüssel. Seit ich denken kann, kommt meine Mutter ins Bad, wenn ich in der Wanne liege, und setzt sich aufs Klo zum Kacken. Einfach so. Als wäre ich kein Sohn, sondern ein Karpfen. Ein Hauskarpfen in der Badewanne. Dass dies nicht die übliche Verhaltensweise von Eltern ist, habe ich erst kürzlich im Gespräch mit Hartmut erfahren.
»Uhhhohhh!«
Jens drückt fester. Plötzlich knackt es. Mit einem lauten Scheppern setzen sich Trümmerteile des Hauses in Bewegung wie eine Lawine. Hartmut quietscht und fuchtelt mit der Lampe. Jens schreit. Ich höre, wie er versucht, sich die Hose wieder hochzuziehen und stürzt. Die Gürtelschnalle knallt wie eine Flipperkugel gegen Holz, Stahl und Stein. Jens kreischt wie am Spieß. Ich sehe ihn schon eingeklemmt wie in einem Katastrophenfilm, das Bein halb amputiert, doch da huscht er an uns vorbei aus dem Gebäude, wir hinterher, während die Lawine hinter uns ihren Lauf nimmt. Was immer da alles an französischer Vergangenheit ins Rutschen gekommen ist, hört nach ein paar Sekunden mit dem Lärmen auf, doch Jens‘ entsetzte Schreie schallen weiter über den Parkplatz.
»Was ist denn?«, sagt Hartmut, »was ist denn bloß?«
Er leuchtet Jens an, der sich wegdreht und brüllt: »Nicht leuchten!«
Aber es ist zu spät.
In der halben Sekunde, die Hartmuts Lampe unseren Freiluftscheißer streift, sehe ich die Katastrophe. Das Haus muss in dem Moment zusammengebrochen sein, als die Wurst wie eine deutsche Bombe Richtung französischer Muttererde fiel … und exakt in dem Augenblick hat Jens versucht, mit halb hochgezogener Hose zu fliehen.
»Ich brauche Wasser! Ich brauche ganz schnell Wasser!«, kreischt Jens in Panik vor seinen eigenen Kolibakterien, reißt sich die vollgeschissene Hose vom Leib und läuft in Boxershorts auf den Rand des Kais zu.
»Das ist zu tief!«, ruft Hartmut. »Nicht!!!«
In der Tat.
Vom Rand des Kais bis zur Wasseroberfläche sind es gute acht Meter. Die Reling des Kriegsschiffs wiederum ragt circa zwei Meter über die Kai-Ebene. Die Brücke hinüber ist eingezogen. Zwischen Kai und Schlachtschiff klafft ein tiefer, unüberwindlicher Graben. Lediglich die meterlangen, dicken Taue, mit denen der Gigant an den Pollern festgemacht ist, verbinden das Festland mit dem Kriegsmonstrum.
»Die haben Wasser an Bord!«, brüllt Jens. »Sie müssen! Eine Toilette für Touristen!«
»Nein!«, ruft Hartmut.
»Das Stadtklo«, rufe ich, »es gibt doch noch das Stadtklo!«
Doch es ist zu spät.
Schon im Normalzustand kann man einen Hektiker mit ADHS nach einer halben Palette Bier kaum von irgendetwas abhalten – aufgeputscht vom Ekel über seine eigenen Exkremente ist es vollkommen aussichtslos. Jens wirft sich auf das dicke Tau der Colbert und beginnt acht Meter über dem Wasser Richtung Deck zu robben. Das Tau hat den Umfang eines kleinen Baumstamms und besteht aus diesem harten, kratzenden Material, das einem schon vom Gucken die Haut abzieht.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, ruft Hartmut.
»Es ist alles wahr«, sage ich und schaue mir den Wahnsinn mit ihm vom Kai aus an. Da kriecht er, der deutsche Mann, und entert ein französisches Kriegsschiff in Unterhosen. Kleine braune Spuren bleiben auf dem Tau zurück an den Stellen, die er bereits passiert hat.
»Das kann doch nicht gutgehen«, sagt Hartmut.
»Nein«, sage ich, »das Klo auf dem Boot wird geschlossen sein. Das ganze Boot wird geschlossen sein.«
»Komm zurück, ich wasch dich auch!«, ruft Hartmut.
Jens robbt.
»Nicht zurückkommen!«, rufe ich, »zurück ist schwerer als vorwärts. Das musst du jetzt zu Ende bringen!«
Hartmut leuchtet mir ins Gesicht.
»Lampe aufs Tau!«, befehle ich.
Hartmut gehorcht.
In ein paar Wochen wird er ins Hospital gehen und seinen Zivildienst antreten. Ich lerne dann bei der Bundeswehr das Schießen und Morden auch abseits der Playstation. Das weiß er.
Jens hat die halbe Strecke auf dem schwindelerregenden Tau zurückgelegt und fängt nun an, hoch über den Fluten, zu jammern.
»Ich kann nicht mehr!«
»Er kann nicht mehr«, sagt Hartmut, als könnte ich nun was dafür.
»Komm zurück!«, ruft Hartmut.
»Bring es zu Ende!«, rufe ich.
Hartmut zischt.
Ich sage: »Manchmal zählt im Leben nur die Konsequenz. Gerade, wenn man was Unvernünftiges angefangen hat.«
Jens heult und kriecht weiter. Haut auf Tau. Die Unterhose bleibt hängen und rutscht.
»Es tut so weh!«, klagt Jens. »Es reißt mir den Schwanz ab!«
Als Videospieler und angehender Killer der Bundeswehr weiß ich: Jetzt helfen nur noch klare Befehle. Wie damals bei Heinz Brausewind.
»Du kriechst jetzt da rüber, Soldat!«, belle ich. »An Deck angekommen, wartest du auf uns. Wir werfen dir deinen Seesack rüber mit frischer Kleidung und Decken. Du versteckst dich irgendwo, und am Morgen, wenn sie das Museum öffnen, schleichst du dich mit den ersten Touristen rein, machst dich auf dem Klo sauber und schleichst dich mit den nächsten wieder raus.«
Hartmut leuchtet mir wieder ins Gesicht, dieses Mal wie um zu prüfen, wo denn bei einem Badewannen-Faulenzer wie mir auf einmal dieser kantige Autoritätston herkommt.
»Lampe aufs Tau, Hartmann!«
Hartmut richtet die Lampe aufs Tau.
Jens jammert.
»Jammern Sie nicht!«, keife ich und klinge bald tatsächlich wie einer meiner Vorfahren, die hier in französischem Blut gebadet haben. Dass man immer, wenn es im Leben ums Ganze geht, so einen Ton anschlagen muss.
»Es scheuert. Es scheuert so teuflisch!«
»RAUF-AUF-DIE-SES-VER-DAMM-TE-SCHIFF!«
Hartmut hält die Lampe brav auf das kriechende Häufchen Elend, schaut sich aber um, als wolle er sich vergewissern, dass uns dieses Mal wirklich keiner hört. Ich gebe zu, diese Aktion ist etwas verfänglicher als mit Tomatensuppe den deutschen Vampir zu mimen.
»Die Haut … die Haut …«, jammert Jens.
»Bei Pestilence klagt auch keiner über die Haut. Da wird sie nach dem Abziehen noch kross gebraten rituell verzehrt!«
»Huhhh«, heult Jens, robbt aber endlich weiter.
Meine Fresse, ist das anstrengend.
Gefühlte vier Stunden später hat unser Mann endlich den französischen Kreuzer erobert und steht bibbernd an der Reling. Ich sage »warte hier!« und gehe Jens’ Seesack packen. Ein Seesack, ausgerechnet. Ob es doch stimmt, dass man manche Ereignisse durch die Wahl seiner Sachen anlockt? Im Bus eiert immer noch die Kassette mit No Fun At All vor sich hin. Der Player wird von der Heckbatterie betrieben und hat eine Funktion, automatisch umzudrehen. Der irre Schwede singt:
»But pleasure is to be insane, pleasure is to be insane
Never sound never rational.«
Never rational … genau. Ich wollte nur in Ruhe in den Urlaub fahren, und jetzt packe ich im Heimatland der Aufklärung einen Seesack für einen Mann, der grundsätzlich nur unter freiem Himmel kacken kann, damit der eine Nacht auf einem französischen Kriegsschiff überlebt, welches er halbnackt geentert hat.
»So!«, rufe ich, wieder am Kai. »Ich schleudere nun, so feste ich kann! Beug dich vor, damit du das Ding fangen kannst, falls es nicht ganz reicht.«
Jens ruft: »Ist da Klopapier drin? Und Seife? Und Tomatensuppe?«
»Alles drin!«, rufe ich.
Hartmut zieht die Brauen hoch, als sei es ein Wunder, dass ein Mann an alles denkt.
»Auch ein Bierchen für die Nacht?«
»Drei … und Alka Seltzer!«
»Du bist der Beste!«, ruft Jens, »gepriesen sei dein Name, mein guter …«
»Ja, ja!«, unterbreche ich ihn. »Fang jetzt!«
Ich drehe mich wie ein Hammerwerfer ein paarmal um die eigene Achse. Genau im richtigen Moment lasse ich den Sack los. Das Gebilde aus braunem Gewebe segelt über das Wasser und sogar über Jens hinweg an Deck. Er muss nicht mal fangen. Hartmut scheint beeindruckt.
»Hand-Auge-Koordination stammen von der Playstation, Muskeln von der Kurzhantel«, sage ich.
Jens ruft: »Dann bis morgen!«
Gut. Er hat sich bereits an seine neue Lebenslage gewöhnt. Schnelle Anpassung ist das A und O für den Soldaten.
Hartmut schaltet die Lampe aus.
»Tüchtigkeit, nicht Geburt unterscheidet die Menschen«, flüstert er.
»Was?«, frage ich.
»Nichts«, sagt er, »Voltaire.«
Dann setzen wir uns vor den Bus und kochen uns noch schnell eine Tomatensuppe.
Am nächsten Morgen geht alles glatt. Wir beobachten es aus dem geschlossenen Bus heraus. Die Angestellten, die das Museum öffnen, bemerken keinen Jens. Um zehn Uhr kommt die erste kleine Schar von Touristen. Um elf spaziert Jens mit ihnen wieder vom Boot. Sauber und zufrieden. Wir öffnen die Schiebetür.
»Gar nicht schlecht, die sanitären Anlagen«, sagt er.
»Komm, wir fahren«, sagt Hartmut. »Dieser Ort will uns nichts Gutes.«
Er setzt sich ans Steuer. Ich verstaue lose herumstehende Utensilien vom Frühstück. Schüsseln, die offenen Cornflakes, den Toast, das Nutella-Glas. Hartmut lässt den Motor an. Es gluckert und tuckert. Ingemar Jansson singt:
»I‘m out of bounds
I‘m out of bounds
Reviewing my options.«
Jens sagt: »Einen Moment noch!«
Dann nimmt er den Edding aus dem schmalen Fach über dem Herd, sucht auf unserer Europakarte am Kühlschrank Bordeaux und macht stolz wie Oskar ein dickes, schwarzes Kreuz.