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DIE FLUCHT

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»Wir müssen hier raus.«

Worte meines Vaters, Satzstücke, die durch die Nacht flirrten. Ich lag mit meinen Geschwistern im großen Bett meiner Eltern. Die Tür war einen Spaltbreit geöffnet und ließ den schwachen Lichtschein der Kerzen im Nebenzimmer nur erahnen. Es gab mal wieder keinen Strom, aber das war keine Neuigkeit. Neu war, was meine Eltern da in der Küche heimlich zu besprechen hatten. Die Decke rutschte mir über den Kopf. Vorsichtig zog ich sie wieder hinter meine Ohren. Ich wollte das Flüstern meiner Eltern besser verstehen.

»Aber wie? Wohin?«

Die Stimme meiner Mutter klang aufgeregt. Neben mir schliefen sie alle. Ahmed und Amer leise schnarchend auf dem Rücken, Mansor mit verrutschter Brille, Ali und Yasin in dem kleinen Kinderbett, und meine Schwestern Nada und Somaya eng ineinander verschlungen. Ich war erschöpft, aber ich konnte kein Auge zumachen. Meine Lider brannten. Es war ein paar Tage nach dem letzten Krieg. Dieser Krieg war besonders hart gewesen. Ich war neun Jahre alt, aber ich verglich bereits den einen Krieg mit dem anderen, als könnte ich so besser verstehen, was um mich herum passierte. Das letzte Mal war es so schlimm gewesen, dass wir uns mit fünfundsechzig anderen Menschen in einem Keller versteckt hielten. Wir lebten dort für achtundzwanzig Tage, schliefen am Boden, ohne Radio, ohne Telefon. Wir wussten nicht, was draußen passierte. Wir wussten nicht, ob es eine Zukunft geben würde. Menschen, die den Krieg nicht erlebt haben, denken nur an die Bilder. Aber manchmal sieht man ihn nicht, manchmal hört man ihn nur.

»Ich werde zuerst gehen. Alleine. Nach Großbritannien.« Ich schlug mir die Hand auf den Mund. Die Stimme meines Vaters klang jetzt ganz ruhig. Etwas fiel zu Boden. Vielleicht die Teetasse aus der Hand meiner Mutter? Mansor wälzte sich unruhig neben mir auf die Seite. Die anderen schliefen weiter, nicht wissend, was hier gerade verhandelt wurde. Für einen kurzen Moment wünschte ich mir, ich würde auch schlafen. Ich zog Mansor vorsichtig seine Brille von der Nase und legte sie auf dem kleinen Nachttisch neben mir ab. Mein Vater würde also gehen. Ohne uns. Ich wusste, er konnte es schaffen. Er war Englischlehrer, er würde sich dort verständigen können, eine Arbeit finden, da war ich mir sicher. In meinem Bauch brannte es jetzt vor Aufregung. Er würde sich durchschlagen, aber was sollte aus uns werden? War die Zeit im Keller das letzte Puzzleteil, das mein Vater, für seine endgültige Entscheidung fortzugehen, gebraucht hatte? Vielleicht wusste er es auch schon immer, seit er selbst ein kleiner Junge war. Oder hatte er Hoffnung, die Dinge würden sich bessern? Ich weiß es nicht. Ich habe bis heute nie mit ihm darüber gesprochen. Wir sprechen generell nie darüber, wie es war, nur wie es sein wird. Es sind einfach zu viele Erinnerungen.

»Ich werde euch nachholen, so schnell es geht«, sagte mein Vater in das kratzende Geräusch, das unser alter Besen machte, wenn man mit ihm über den Boden fuhr. Meine Mutter sagte nichts. Vielleicht nickte sie, vielleicht wog sie ihren Kopf hin und her, wie sie es heute noch tut, wenn sie nicht ganz überzeugt von einer Sache ist.

Meine Großmutter beließ es nicht bei einem Kopfnicken, als sie ein paar Tage später von den Plänen meines Vaters erfuhr. Wir saßen auf ihrem riesigen, braunen, goldverzierten Sofa wie jeden Nachmittag und beobachteten staunend mit offenen Mündern, wie sie sich mit meinem Vater stritt, wie sie Türen knallte, wehklagend die Hände zum Himmel hob und – als dass alles nichts half – mit ihren Fäusten wild auf ihn einschlug. Selbst mein Großvater konnte sie nicht beruhigen, obwohl er sogar extra seinen Fernsehsessel verließ, und so das Fußballspiel seiner Lieblingsmannschaft Real Madrid verpasste, nur um ihr sanft über den Kopf streicheln zu können und ihr gut zuzureden, wie einem kranken Tier.

Es stand fest. Mein Vater hatte seine Entscheidung getroffen, er ließ sich von nichts abbringen, nicht mal von seiner eigenen Mutter. Als er ging, malten wir uns die wildesten Dinge aus. Wie er uns abholen würde. Mit einem Privatflugzeug würde er in Dschabaliya landen und uns alle mitnehmen. Meine Großmutter war davon nicht sehr überzeugt. Nachdem die ersten Tränen getrocknet waren, saß sie abends wieder in ihrem Sessel und es kam vor, dass sie ganz plötzlich laut auflachte. Ihre Augen wurden zu listigen, schmalen Schlitzen. »Das wird nicht passieren«, sagte sie immer, »euer Vater wird schon sehen, er wird zurückkommen«.

Als Kind fragte ich mich oft, warum meine Großmutter, die uns allen sonst immer nur das Beste wünschte, so wenig Hoffnung für meinen Vater hatte. Heute weiß ich, wie sehr sie damals schon jeden Tag Angst hatte, uns zu verlieren. Wenn wir weggingen, würden wir uns alle wahrscheinlich nie wiedersehen.

Es verging ein Jahr, in dem wir kaum etwas von unserem Vater hörten. Wenn er alle paar Monate anrief, dann sprach er nur kurz mit meiner Mutter, die dafür immer das Zimmer verließ, als gäbe es ein großes Geheimnis, von dem wir nichts wissen durften. Meine Mutter überbrachte uns seine Nachrichten portionsweise beim Abendessen. Er sei jetzt in Österreich. Dort wäre es schön, aber er wüsste nicht, wann er uns holen könnte, erzählte sie uns. Meine Großmutter schnaufte laut auf. Sie hatte uns ja immer gewarnt, dass es so ausgehen würde, und je länger es dauerte, desto weniger war Österreich, dieses unbekannte Land, in unseren Köpfen. Wir Kinder waren uns auch nicht mehr sicher, ob wir wirklich jemals aus Dschabaliya wegkommen würden. Auch die Menschen in unserer Straße glaubten nicht mehr daran.

»Ihr redet nur, das wird doch nichts«, sagten die anderen Kinder und lachten uns aus.

Österreich war so weit weg, wie die Geschichten, die unsere Großmutter uns erzählte, wenn es mal wieder keinen Strom gab oder wir abends im Bett lagen und einfach nicht einschlafen konnten. Aber mit der Zeit brachten uns die Geschichten meiner Großmutter immer weniger durch die Nächte, und noch weniger durch unseren Alltag. Wir wurden älter und wir spürten, wie sehr unser Vater fehlte, wie sehr wir ihn brauchten. Alles wurde knapper, enger. Die Räume, in denen wir lebten, die Luft zum Atmen und auch das Geld wurde immer weniger. Meine Brüder Mansor und Ahmed beschlossen, dass wir etwas dazuverdienen sollten. Ich musste auch arbeiten. Ich war gerade elf Jahre alt geworden und fing an, mir in unserer Straße einen kleinen Stand einzurichten, an dem ich nach der Schule Süßigkeiten und Spielzeug verkaufte. Manchmal dachte ich daran, wie wir gemeinsam, als mein Vater noch da gewesen war, immer morgens in die Moschee gegangen waren. Ich dachte an den kleinen Jungen dort, der nach dem Morgengebet immer süße Sesamkringel verkauft hatte. Die ganze Luft hatte nach diesem Gebäck gerochen, und wir hatten glücklich die Sesamkörner zwischen unseren Zähnen zerspringen lassen. Jetzt gab es keinen Unterschied mehr zwischen dem kleinen Verkäufer und mir. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich, was es hieß, auf mich allein gestellt zu sein.

Nach einem Jahr kam endlich der Anruf, auf den wir so lange gewartet hatten. »Ich habe ein Visum für euch.«

Wir konnten es kaum glauben, ihn wiederzusehen. Jeder wollte das Handy in der Hand haben, und wir stolperten und fielen übereinander her wie junge Welpen. Mein Vater sah müde und abgekämpft aus, aber sein Gesicht war jetzt hoffnungsvoll.

»Das Leben ist schön hier.« Ich erinnere mich, wie er das sagte.

»Ich habe ein Visum für euch«, wiederholte er, als wüssten wir nicht, was diese Worte bedeuteten. Jedes Kind in Gaza weiß das. Wir ließen das Handy auf das Sofa meiner Großmutter fallen und lagen uns in den Armen. Mein Vater sah uns von dem goldbestickten Samt aus zu, wie wir wild durcheinander redeten. Sein daumengroßes Gesicht auf dem Display war wegen der schlechten Verbindung ganz verpixelt. Man konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob er lachte, ob er weinte, oder ob er beides tat.

Wir packten unsere Sachen, während meine Mutter uns ermahnte, ja nicht zu viel einzupacken. »Wir müssen ja auch noch fliegen«, sagte sie.

Fliegen. Man konnte ihrer zittrigen Stimme anhören, dass sie es selbst kaum glauben konnte. Fliegen. Mit dem Flugzeug. In den kommenden Tagen verabschiedeten wir uns von den Kindern in unserer Straße. Es war sehr traurig. Nicht nur, dass wir unsere Freunde zurücklassen mussten. Auch dass wir nicht wussten, ob wir sie je wiedersehen würden. Meine Großmutter weinte jeden Abend. Sie versuchte nicht einmal mehr, es zu verstecken.

Wir hatten endlich das Visum. Aber das hielt die Zollbeamten an der Grenze nicht davon ab, uns bei unserem ersten Versuch wieder zurückzuschicken. Meine Mutter flehte und bettelte, aber sie blieben hart, und so kam es schneller zu einem Wiedersehen mit meiner Großmutter und meinen Freunden, als ich es mir gewünscht hatte. Noch in derselben Nacht riefen wir meinen Vater verzweifelt an. Wir wussten, wie schwer es war, über die Grenze zu kommen. Wir wussten es von den Geschichten der anderen. Vor allem als sechsköpfige Familie. Wenn sie uns in Ägypten nicht durchlassen würden, wie sollten wir dann nach Österreich kommen? Alle anderen Grenzen waren geschlossen, es war unmöglich auszureisen. Nur wer eine schwere Krankheit hatte, durfte es. Die Grenze nach Ägypten war unsere einzige Chance. An allen anderen Grenzen stirbst du, hieß es immer.

Mein Vater versuchte uns zu beruhigen. Er sagte uns, wir sollten der ersten Person, die wir an der Grenze treffen würden, alles Geld geben, was wir gespart hatten. »Und helft eurer Mutter!«, sagte er.

Wir nickten. Mein Vater versuchte uns Hoffnung zu machen, aber auch seine Stimme klang sehr ernst und angespannt. Erst heute, wenn ich daran zurückdenke, wird mir das richtig bewusst. Ich glaube, wir haben damals einfach alle Hoffnung gebraucht, jeden Funken und das wusste er. Wir konnten uns keinen Zweifel erlauben, auch wenn wir ahnten, wie knapp es werden konnte. Sie mussten uns einfach durchlassen.

Am nächsten Tag also versuchten wir es erneut. Wir verließen das Haus ganz in der Früh. Um acht Uhr kamen wir an der Grenze zu Ägypten an. Wir taten, wie mein Vater gesagt hatte. Ich weiß heute noch genau, wie wir in dem kleinen Raum an der Grenze saßen. Es wurde immer später. Die Luft war heiß und stickig. Meine Mutter hatte direkt nachdem wir angekommen waren, einem der Männer das Geld gegeben. Dann waren wir zur nächsten Grenze gebracht worden. Dort warteten und warteten wir. Der Zeiger der großen Uhr über uns schritt ohne Mitleid voran. Wir warteten über Stunden. Irgendwann waren wir so erschöpft, dass wir nicht einmal mehr weinen konnten. Der Raum leerte sich immer mehr. Wir waren die letzten. Yasin und Ali, die kleinsten von uns, waren auf ihren Stühlen mit offenem Mund eingeschlafen. Ich konnte auch noch kaum meine Augen offenhalten, als endlich jemand kam – ein großer, ernst aussehender Mann, der sich vor uns aufbaute. In seiner rechten Hand hielt er unsere Reisepässe. Wir hatten über dreizehn Stunden auf diesen Moment gewartet. Schnell schlugen wir die Pässe auf. Die Stempel lachten uns an. Wir hatten es geschafft.

Wir versuchten, so schnell wie möglich nach Kairo zu kommen. Dort sah es aus wie in einer anderen Welt. Nein, es sah nicht nur so aus, es war eine andere Welt. Ich war noch nie in einer so großen Stadt gewesen. Es war außergewöhnlich. Dort gab es schöne Möbel und keine Anzeichen von Krieg. Die Leute sahen alle so elegant aus. Das war nicht normal für uns.

Es ging alles sehr schnell. Während wir noch über die Stadt, ihre Bewohner und die wahnsinnigen Autos staunten, saßen wir bereits in einem Flugzeug. Wir hatten natürlich schon gelernt, was ein Flugzeug war, aber wir hatten nie zuvor eines in echt gesehen. Früher, wenn ich Bilder davon im Internet gesehen hatte, wollte ich manchmal gar nicht richtig hinsehen. Ich dachte mir, warum auch, wenn ich es sowieso nie kennenlernen werde? Dass ich davon träumte weit wegzufliegen, die ganze Welt zu bereisen, das behielt ich für mich. Dabei hatten wir Kinder in Gaza, glaube ich, damals alle dieselben Träume. Ich saß in dem großen Flugzeugsitz und drückte meine Nase an das Fenster. Ich flog weit weg und musste doch an meine Freunde in Dschabaliya denken, daran, dass die meisten von ihnen wahrscheinlich nie erfahren würden, was es heißt, in einem Flugzeug zu sitzen. Das Gefühl, wenn der Magen ein Stück auf der Erde zurückbleibt. Das Meer von oben.

Wir flogen also nach Österreich. Mein Vater hatte uns nicht viel über dieses Land erzählt, nur dass es schön sei dort, die Menschen nett seien, und vor allem sicher.

»Es ist sicher hier«, hatte er immerzu wiederholt. Wir wussten also nicht wirklich, was uns dort erwarten würde. Aber als wir am Flughafen ankamen, spielte es für einen Moment auch keine Rolle mehr, wo wir waren, in welchem Land, auf welchem Fleck Erde. Nach fünf Jahren sahen wir zum ersten Mal meinen Vater wieder, in echt, wir konnten ihn wieder umarmen. Das war einer der schönsten Augenblicke meines Lebens und obwohl ich nicht das beste Gedächtnis habe, wenn es um Zahlen oder Daten geht, weiß ich dieses Datum heute noch ganz genau. Es war mein Geburtstag, der 14. September 2012 und wir waren wieder zusammen. Eine Familie.

Als Familie hielten wir auch die nächsten Wochen zusammen. Anders, als wir es uns ausgemalt hatten, blieb es eng, wurde sogar enger, als wir es aus Gaza kannten. Wir tauschten unser Haus, indem wir als Familie gewohnt hatten gegen das Aufnahmelager in Traiskirchen ein, in dem wir einige Monate blieben. Danach kamen wir in das Caritashaus im achten Bezirk. Auch dort war es beengt, ein Haus mit vielen Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen. Dort roch es in jedem Stockwerk nach unterschiedlichen Gewürzen und man verstand sich mit Händen und Füßen. Wir waren alle fremd in diesem Land, das unsere neue Heimat werden sollte, aber da wir zusammen fremd waren, waren wir es weniger.

Viele Österreicher, die ich später kennenlernte, konnten nicht begreifen, warum ich mich dort so wohlgefühlt hatte. Sie sehen nur die Enge, die vielen Menschen, die abgeschlagenen Türen, die abgewetzten Wände, das Chaos. Sie sehen einen Endpunkt. Für mich war es aber der Beginn meines Lebens in Österreich. Für uns alle war es das. Nach einiger Zeit dort bekamen wir in dem Haus eine kleine Wohnung zugeteilt, mit eigenem Bad und kleiner Küche. Es war ein Glück. Überhaupt habe ich mich fast nie wieder so wohlgefühlt, wie damals in diesem Haus mit den Menschen, die alle eine andere Sprache und doch dieselbe sprachen. Wir verständigten uns mit einem Lächeln, mit Gesten und mit Gerichten aus unserer Heimat. Wir spendeten Trost, wenn es mal schwer wurde, durch kleine Teller, die wir einander vor die Tür stellten.

Mein Vater hatte uns erzählt, wie schön es in Österreich war, aber hatte er uns auch von den Schwierigkeiten erzählt? Wir sahen ihn immer öfter mit hängenden Schultern auf seinem Stuhl sitzen. Er hatte keine Arbeit als Englischlehrer bekommen, konnte noch nicht ausreichend Deutsch sprechen, und seine Ausbildung zählte hier nichts. Wir Kinder verstanden nicht, warum er sich trotzdem immer wieder aufraffte, warum er trotzdem glücklich war. Dabei war es für meinen Vater ganz einfach. Er hatte seine Arbeit verloren, aber er wusste seine Frau und seine Kinder in Sicherheit. Nichts anderes zählte. Er fand bald eine andere Arbeit und hielt trotzdem weiter an seinem großen Traum, eines Tages nach England zu gehen, um dort noch einmal studieren zu können, fest. »Nur nicht aufgeben«, sagte er uns, »niemals aufgeben«.

Wir Kinder nickten, aber wir ahnten bereits, dass wir auch in Österreich schneller erwachsen werden mussten. Wir wollten arbeiten gehen, unsere Eltern unterstützen, ihnen eine Zukunft für ihre Träume bieten, nachdem sie uns die Chance für einen Anfang geschenkt hatten. Den anderen Kindern, die wir kennenlernten und mit denen wir durch die Parks im achten Bezirk zogen, ging es ähnlich. Unsere Lebensläufe glichen einander. Vielleicht versuchten wir auch deshalb, jede Sekunde unserer Kindheit auszukosten. Wir waren eine wilde Bande von Kindern aus unterschiedlichen Ländern, aus Österreich, Syrien, Tschetschenien, Palästina, der Türkei und Bosnien. Ich saugte alles auf, was ich für die österreichische Kultur hielt. Die Ein-Euro-Kekse, den Clever-Orangensaft, und die Tatsache, dass man immer den zur Tageszeit passenden Gruß sagen musste, was ich damals für typisch österreichisch hielt. »Guten Morgen«, »Guten Abend«, »Grüß Gott«, übte ich vor dem Spiegel, und was mir am Anfang wie eine Geheimsprache vorgekommen war, verlor ihren Zauber, ordnete sich langsam in ein Alphabet, dessen Regeln ich zu verstehen begann.

Wir waren fremd, aber wir wollten alles versuchen, um anzukommen. Ich lernte Menschen kennen, die mir dabei halfen, mich besser zurechtzufinden. Da war der nette Deutschlehrer, der nie seine Geduld verlor. Da waren die Betreuer im Hamerlingpark, bei denen wir uns Bälle und Spielzeug ausleihen konnten, und wo wir etwas zu Mittagessen bekamen. Es war die glücklichste Zeit, an die ich mich zurückerinnern kann. Es war eine Zeit ohne Gefahr, dieser zweite Teil meiner Kindheit.

Im Gazastreifen, noch einen Monat vorher, war es nie einfach nur draußen sein, einfach nur Fußball spielen. Es war immer alles begleitet von diesem Gefühl, dass jederzeit alles passieren konnte. Die wenigen Fußballplätze, die es in Gaza-Stadt gibt, sind umgeben von großen Parks, Gärten, in denen Orangen- und Apfelbäume stehen. Während des Krieges verstecken sich dort die Kämpfer, schießen von diesem Punkt aus ihre Raketen ab, und werden dadurch selbst zur Zielscheibe. Wir wussten das, aber wir spielten trotzdem weiter, so wie wir immer gelernt hatten, weiterzumachen.

Eines Tages liefen meine Freunde durch unsere Straße. Sie riefen mich ans Fenster: »Komm, Osama, wir gehen Fußball spielen.«

Ich wollte schon schnell meine Schuhe anziehen, als mich jemand aufhielt. Ich weiß heute nicht mehr, wer es war, meine Mutter, meine Großmutter, aber jemand hielt mich auf. Ich sollte erst noch etwas erledigen, bevor ich spielen gehen durfte. An die Gesichter meiner Freunde unter dem Fenster, erinnere ich mich dafür umso genauer. Manche von ihnen sah ich da zum letzten Mal. Mein Bruder Mansor und ich waren etwa hundert Meter von dem Fußballplatz entfernt, als die Bomben kamen. Eine Bombe landete in der Mitte des Fußballplatzes, wie in das Herz unserer Kindheit. Sie waren gerade mitten im Match, als sie starben. Wir sammelten später die Leichenteile ein und wussten nicht einmal, zu wem sie gehörten.

Ich war also dankbar dafür, wo ich jetzt war. Was hätte ich auch anderes sein können? Verschloss ich deshalb die Augen für alles andere, was um mich herum passierte? Ich glaube nicht. Ich war ein Kind, und ich wollte nur noch nach vorne sehen. Die meisten von uns, die als Flüchtlinge kamen, wollen das. Ich wollte nur nach vorne sehen, mit offenem Herzen.

Natürlich hatten uns nicht alle so herzlich willkommen geheißen. Es gab die, die mit dem Kopf schüttelten, sobald sie uns sahen, die, die fanden, wir wären zu laut und die, die der Meinung waren, solche wie wir, was auch immer das heißen sollte, hätten in den Parks nichts verloren. Ich verstand damals noch nicht alles, was sie sagten. Vielleicht war das besser so. Es gab Kinder unter uns, die die Worte, die sie uns zuriefen, schon besser verstanden. Dann ballten sie ihre kleinen Fäuste und bekamen wütende Augen. Manchmal schrien sie etwas zurück. Aber wir sprachen nie darüber. Es war, als hätten wir keine Worte dafür. Nicht auf Deutsch und nicht in unserer Sprache. Ich tat es einfach als die üblichen Kämpfe ab, die es zwischen Kindern und Erwachsenen wohl überall auf der Welt gab. Ich lachte in ihre Gesichter und natürlich ließ ich mich nicht aus dem Park werfen. Wenn ich eines gelernt hatte, dann war es neben der Dankbarkeit das: Nur nichts gefallen lassen.

Heute weiß ich, dass es für diese Dinge, die ich damals noch nicht verstanden habe, Worte gibt. Dass es eine Ungerechtigkeit ist, wenn man beschimpft und angeschrien wird, weil man dunkle Haare, dunkle Augen hat, eine andere Sprache spricht. Menschen, die nicht davon betroffen sind, denken immer, dass die erste Erfahrung mit Rassismus ein großes, einschneidendes Erlebnis ist. Oft sind es aber einfach die Erlebnisse, die man nicht zuordnen kann. Man kann spüren, dass etwas falsch läuft, aber es ist wie in Nebel getaucht. Man findet keine Worte dafür und dann wird das, was vorgefallen ist, weggewischt, von einem selbst und anderen, so als hätte es diese Vorkommnisse nie gegeben. Es fällt zu schwer, sie zu benennen. Auch heute als erwachsener Mann fällt es mir schwer. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind überall. Gleichzeitig klingen diese Worte oft selbst fremd in meinen Ohren. Sie schaffen eine Distanz, die es für uns Betroffene so nicht gibt. Denn wir benennen es ja nicht nur, wir erleben es. Tagtäglich, immer wieder. Und es muss aufhören. Als ich hier ankam, hatte ich nur ein Ziel. Hierbleiben, arbeiten, eine Familie gründen, ein Haus finden, eines Tages die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Das waren meine Träume. Ich wollte mich nicht ablenken lassen.

Ich bin geblieben.

Wie wir nicht sind

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