Читать книгу Hannes - Oscar Peer - Страница 4
ОглавлениеEntschuldige, Leser, ich erzähle dies so, als handelte es sich um einen andern. «Je, c’est un autre», wie es der geniale Rimbaud gesagt hatte. Aber man kann sich nicht auf andere abschieben – ich spüre, dass ich auf schreckliche Weise ich selber bin. So bleibe ich besser bei der ersten Person, mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt.
Ich notiere, was mir so in den Sinn kommt, ohne Plan, eine Art écriture automatique, so kunstlos wie möglich. Von der Familie nur en passant, also nur die Eltern, meine Schwester Sonja und mein unterdessen zu Tode gekommener Stiefbruder Paolo.
Franziska selber, die mit ihm dahingegangen ist, wird erst später auftreten, obwohl sie mir dauernd vor der Seele schwebt. Ich sehe sie Tag und Nacht, manchmal nur schemenhaft, dann wieder deutlich wie ein lebendes Wesen. Letzthin zum Beispiel, als ich nach Hause kam, sass sie auf dem Bänkchen vor dem Eingang; wie ich betroffen stehen blieb und hinstarrte, winkte sie kurz mit der Hand, verschwand hierauf wie ein Luftgespinst. Im Traum sehe ich ihr Gesicht, ihre Goldglanzaugen, ihren auf mich gerichteten Blick. Sie war für mich alles in allem ein sehr dunkler Engel, durch den ich Himmel und Hölle kennenlernte.
Ich versuche es zunächst mit der Gegenwart, das heisst mit der Gegenwart von einst, obwohl diese Gegenwart natürlich für immer vorbei ist. Es ist überhaupt etwas Merkwürdiges mit der Zeit, die uns dauernd zu schaffen macht: bald sind wir froh, dass sie vorbei ist, dann wieder möchten wir, dass sie zurückkäme.
Mein Vater, Hans Rudolf Monstein, Inhaber eines Möbel- und Teppichladens, ist ein noch stattlicher Herr mit dem Gesicht einer Respektsperson, obwohl er genau genommen zu jenen gehört, die äusserlich mehr vorstellen, als was sie in Wirklichkeit sind. Sonst ein ehrlicher Mann, zu Hause gelegentlich ein Polterer mit altersbedingten Zornstimmungen. Als ich zwölfjährig war, starb meine liebe Mutter, worauf er eine um zehn Jahre jüngere Witwe heiratete, Lilian Blum, geborene Brändli. Meine Stiefmutter (wir nennen sie Lille), ist an sich eine herzensgute Person, freigebig und hilfsbereit, hat öfters armen Familien mit Geld oder Lebensmitteln geholfen. Von Natur eher extravertiert, erzählt gern von Partys und Small Talks, umschwärmt Künstler, Erfolgsautoren, Schauspieler – ein Fimmel, den sie übrigens mit Vater teilt. Ich erinnere mich an die Geschichte mit Daniel Barenboim. Wir machten Ferien in Pontresina, Barenboim gastierte als Pianist und Dirigent bei den Engadiner Konzertwochen. Vater hätte den berühmten Mann gern getroffen, doch wurde ihm mitgeteilt, Herr Barenboim könne niemanden empfangen. Lille hingegen, ohne uns ein Wort zu sagen, fuhr nach St. Moritz hinüber, suchte ihn zuerst im Hotel Kulm, dann in Badrutts’s Palace, fand ihn schliesslich im grossen Saal der Laudinella, wo er, von der Aussenwelt abgeschirmt, am Klavier übte. Sie fand eine Putzfrau, die sich von ihr bestechen liess und ihr eine Hintertür öffnete. Ich stelle mir vor, wie Barenboim erstaunt innehält, während sich die Dame aus dem Hintergrund nähert, ihn um Entschuldigung bittet und gleich zu reden beginnt, während er, am Flügel sitzend, mit der linken Hand leicht über die Tasten klimpert. Übrigens hat sie mein Notenalbum (‹Daheim am Klavier›) mitgenommen, bittet um ein Autogramm für ihren hochbegabten Stiefsohn, ein Wunsch, den ihr der Pianist rasch und wortlos erfüllt, sich dann wieder dem Instrument zuwendet und weiterübt, während sie noch eine Weile auf Distanz zuhört und dann leise verschwindet. Abends erzählt sie uns in einer Wolke von Enthusiasmus, wem sie begegnet ist. «Ein herrlicher Mensch!», sagte sie. «Er hat sanfte Augen wie viele Juden, auf dem Schädel noch einen leichten Flaum, wie Wollgras. Ich fand ihn reizend – weltberühmt und so menschlich.»
Ich sehe noch Vaters frustrierte Miene. Er war buchstäblich sprachlos.
Meine Schwester Sonja arbeitet in einem Warenhaus als Leiterin der Haushaltsabteilung, hat ihre Dreizimmerwohnung in der oberen Etage des Elternhauses, im Estrich ein Atelier, wo sie ihre bald düsteren, bald skurrilen Bilder malt. Sie war mit Philipp (Journalist) verheiratet, allerdings nicht lange, weil sie wie Hund und Katze zueinander passten. Ich frage mich, wie sie damals überhaupt zueinander gefunden hatten, doch ich weiss gut genug, wie rasch man Feuer fängt. Bei der Frau ist es zudem so, dass die Verliebtheit manchmal schon vor der Bekanntschaft da ist. Nach einem Jahr trennten sie sich wieder, aber ohne den Kontakt abzubrechen.
Ich selber bin dankbar um diese Schwester, habe sie trotz ihrer gelegentlichen Wutausbrüche immer gemocht. Harro, ihr schwarzer Neufundländer, scheint ihre Wesensart assimiliert zu haben. Am liebsten liegt er auf ihrem Bett, obwohl er genau weiss, dass er das nicht darf. Sie schimpft dann mit ihm und jagt ihn weg. Einmal liess er es auf eine Kraftprobe ankommen, biss ihr in den Arm; sie schlug ihn mit einer bronzenen Statuette auf den Kopf, worauf er laut bellte und endlich ging. Aus Rache zerfetzte er, als er allein war, ein auf dem Boden liegendes Kunstlexikon.
In meiner Jugend hatte ich kaum mit jemandem eine so enge Beziehung wie mit ihr. Hier zögere ich, aber um ganz ehrlich zu sein, will ich zugeben, dass wir einmal die Grenze der geschwisterlichen Zuneigung überschritten. Ich meine, wie Sonja und ich, damals noch halbwüchsig (ich dreizehn und sie zwölf), das älteste Spiel entdeckten, das uns die Natur mitgegeben hat. Ich sehe unseren Garten, irgendwo im Gebüsch das morsche Bänkchen, auf den sich sonst niemand mehr setzte. Begonnen hatte es damit, dass mir Sonja mein Taschenmesser entwendete und sich damit davonmachte. Es war schon fast dunkel, ich rannte ihr nach, bis sie irgendwo stolperte und ich sie erwischte. Sie hielt das Messer fest in der Hand, eine Weile balgten wir uns am Boden, richteten uns endlich auf, beide ausser Atem; ich umklammerte sie, worauf sie das Messer wegwarf. Da war dieses schiefe Bänkchen, wir liessen uns darauf nieder. Ich erinnere mich, wie ich trotz Dämmerung ihre Röte sah, wie ich (vielleicht ohne zu wissen, was ich tat) zwischen ihren Beinen eine bestimmte Stelle suchte und bald auch fand, wie sie zusammenzuckte, die Knie aneinanderpresste, dabei mit zischendem Atem sich an meinen Arm krallte. Ich erinnere mich an den Duft ihrer Haare, an den Duft von feuchtem Laub, dann, wie drüben das Licht anging und man nach uns rief. Auch daran, wie uns Mutter in den folgenden Tagen argwöhnisch beobachtete, weil ihr aufgefallen sein mochte, dass wir abends beim Einnachten immer wieder im Garten verschwanden und man nichts hörte. Bis sie uns einmal, als wir wieder auf jenem Bänkchen sassen, buchstäblich in flagranti ertappte. Wir sahen ihre Gestalt im Dunkeln, wir duckten uns wie Adam und Eva. Sie holte uns hurtig ins Haus, wo sie uns auf Romanisch eine fürchterliche Szene bereitete; für mich, bei meiner starken Mutterbindung, eines der schlimmsten Erlebnisse meiner Jugend, zumal sie tagelang nicht mehr mit mir redete. Sonja, mit ihrer wilderen Natur, bewältigte alles wahrscheinlich leichter.
Die Sünde hat ein gutes Gedächtnis; an nichts erinnere ich mich so gut wie an meine Vergehen. Abgesehen davon bin ich froh um diese Schwester. Wir sind uns in vielem ähnlich, beide wechselhaften Gemüts, wankend zwischen Aufschwüngen und stillen Verzweiflungen. Sie ist musikbegabt, spielt ordentlich Violine, nur übt sie leider zu wenig, Geduld ist nicht ihre Stärke. Hie und da musizieren wir miteinander … Eigentlich müsste ich sagen: Wir musizierten. Das wird nun vorbei sein.
Mein Stiefbruder Paolo ist etwa gleich gross wie ich, vielleicht etwas kräftiger, nicht zu schlank und nicht zu dick, ein gut aussehender Mann mit lebhaften Augen und selbstbewusster Miene, einer, der überall rasch auffällt, auch bei den Frauen.
Ich selber habe weder seine Lebhaftigkeit noch seine Erscheinung. Bei der eigenen Geburt (oder beim fatalen Moment unserer Entstehung) hat man Glück oder Pech, und der Herrgott schert sich einen Teufel um unser Aussehen. Man sagt mir, dass ich ein interessantes Gesicht habe und dass ich dem jüngeren Jean Gabin gleiche. Ich beklage mich nicht über mein Äusseres, leide höchstens an einer leichten Asymmetrie: meine linke Schulter ist ein kleines bisschen höher als die rechte, das eine Bein zudem eine Idee kürzer als das andere, daher mein unmerkliches Hinken, ein leicht federnder Gang, was Paolo gelegentlich zu lustigen Bemerkungen veranlasst: «Unser tänzelnder Gaspard de la nuit.» In Kleiderläden gehe ich denkbar ungern, weil es für mich keine Konfektion gibt. Leide ich an einem Komplex? In meinen Knabenjahren war alles noch kein Problem, zumal ich an Kraft und Wendigkeit niemandem nachstand. Ich konnte Ski fahren, spielte gern Fussball, ich fürchtete keine Rauferei. Selbstskepsis, das begann erst in den Jünglingsjahren, im Alter der Selbstbetrachtung. Holde Jugendzeit, mit deinen verräterischen Spiegeln!
Als Paolo, damals achtzehnjährig, einen Tanzkurs besuchen durfte, wollte man es mir verheimlichen, doch er selber, mitteilsam wie er war, erzählte mir davon, im Schlafzimmer. Am schönsten, sagte er, sei es immer mit der Eva Kühne aus meiner Klasse: «Wenn ich die in den Armen halte und ihre Brust spüre, rinnt mir das Blut ganz warm durch die Adern; ich könnte mich nächtelang mit ihr im Kreise drehen, oder auch nur stillstehen und ein bisschen hin- und herwiegen, einfach so, verstehst du? Sie hat einen sanften und zugleich festen Körper, was man sogar durch die Kleider spürt. Ab und zu kann es passieren, dass man sich zufällig mit den Beinen berührt – völlig unabsichtlich. Eigentlich etwas Irrsinniges, Hannes! Ich weiss nicht, ob du dir das vorstellen kannst.»
Ich lag im Bett, Hände unter dem Kopf. Ich konnte es mir durchaus vorstellen. Eines Abends stand ich vor dem Gebäude, in welchem sein Tanzkurs stattfand. Von einem erhöhten Parkplatz sah ich in den Saal hinein, durch die Ritzen der Vorhänge ein Schaukeln und Drehen, dazu Musik, dazwischen die laute Stimme des Tanzlehrers.
Ich blieb, bis es zu Ende war und die Gesellschaft herauskam. Zu Hause wartete ich auf Paolos Heimkehr. Mitternacht war schon vorbei, als er leise ins Zimmer trat, sich auszog und ins Bett schlüpfte. Ich schlief. Damals lernte ich einen Schmerz kennen, der wie Kohlenglut brannte und von dem ich nicht wünschte, dass er nicht wäre.
Ich weiss nicht, was aus der Eva Kühne (mit ihrem sanften und zugleich festen Körper) geworden ist. Ich weiss nur, dass Paolo seit damals mit einer ganzen Reihe von Evas getanzt hat und noch immer tanzt. Der Erfolg bleibt ihm treu, wobei es keine Rolle spielt, ob das mit seinem Äussern zu tun hat, mit seiner Redegewandtheit oder mit einer Ausstrahlung der Person, von der man nie genau weiss, woher sie kommt. Wenn ich zum Beispiel mit ihm ein Lokal betrete, wo uns niemand kennt, fällt mir gleich auf, wie er die Blicke auf sich zieht. Es ist etwas wie Magnetismus. Ein seelisch ausgeglichener Mensch ist er überhaupt nicht, im Gegenteil, seine Stimmungen wechseln wie Wetterlaunen, eine Weile heiter und gut gelaunt, dann von einem Moment zum andern unwirsch und aggressiv, als hätte man ihn beleidigt oder nicht ernst genommen.
An sich plaudere ich gern mit ihm, weil er enorm viel weiss. Leider kann er den Schulmeister nie ganz abstreifen. Je nachdem, wenn jemand etwas erzählt, sagt er leichthin: «Donnerwetter, Donnerwetter!», oder: «So, so, sieh mal da – hätte ich nie gedacht.» Bei ungefährlichen Gegnern kann er seine eigene Meinung zum Schein preisgeben. Hat er es aber mit einem Überlegenen zu tun, so schüttelt er den Kopf, verzieht den Mund, winkt mit der Hand ab und lächelt ironisch. Doch wenn es ihm gelingt, den andern mundtot zu machen, so entspannt er sich rasch und gibt ihm ohne weiteres zu, dass auch seine Ansicht etwas für sich hat, nur dürfe man dies oder jenes nicht vergessen, man müsse immer alles ein bisschen kompliziert darstellen usw.
Das Gespräch ist sein Element, seine Stärke die Improvisation. Je mehr Leute da sind, desto lebhafter setzt er sich in Szene. Er ist imstande, einen vollen Saal zu unterhalten, bald ernst und tiefsinnig, bald witzig und clownesk. Er hat einen Hang zum Theatralischen, kann irgendein Thema geistvoll oder komödiantisch variieren, mit einer Anekdote Staunen oder Lachen hervorrufen.
Er ist in vielem bewandert, aber eigentlich ohne den Dingen auf den Grund zu gehen. Was er weiss, kann er glänzend vortragen und man neigt rasch dazu, ihm recht zu geben. Es kommt sogar vor, dass Sachkundige trotz besseren Wissens auf seine Suggestivität hereinfallen. Natürlich gibt es auch solche, die ihm nicht alles abnehmen, zum Beispiel sein Freund Henlin, ein begabter Spötter, der ihm etwa sagt: «Paolo, nicht so viel Butter», oder: «Verzapfe keinen Tiefsinn.»
Wie dem auch sei: In Gesellschaft kommt es einzig darauf an, nicht langweilig zu sein, alles andere wird verziehen. Eines der schlimmsten Weltübel ist die Langeweile, und deshalb niemand so beliebt wie der Langeweile-Vertreiber.
Es ist haarsträubend, wie zuletzt alles vergeht. Eines Tages merken wir, dass sich etwas gründlich verändert hat, und wir verstehen nicht warum. Im Grunde verstehen wir überhaupt nichts. Wahrscheinlich habe ich auch Paolo nicht verstanden, solange ich ihn gekannt habe. Heute, da er nicht mehr lebt, denke ich oft mit einer leisen Melancholie an ihn zurück.
De mortuis nil nisi bene – einverstanden, aber ich versuche nur, ihn zu charakterisieren, was hoffentlich noch erlaubt sein wird. Ich sage nur, dass er es einem nicht immer leicht machte. Er gehörte zu jenen, die andere am Ärmel zupfen, ihnen die Krawatte zurechtrücken, bald auf die Schulter klopfen und bald übers Maul fahren. Ich habe mich oft über ihn geärgert, aber ich möchte nicht, dass ich ihn nicht gekannt hätte. Letzten Endes profitieren wir von solchen Menschen mehr als von den Farblosen, von denen es bei Dante heisst: «Quelli che mai non furon vivi, non ragioniam di lor …»
Heute Mittag eine Weile auf dem Friedhof. Um diese Zeit sieht man da relativ wenige Leute. Da und dort eine trauernde Witwe, ein vereinsamter Senior. Oben bei der Mauer die beiden Gräber. Zwei verwelkte Kränze sind noch da, dazu frische Blumen. Es war regnerisch und kalt. Unglaublich, wie wir auf das Wetter reagieren.
In der Zeitung wieder ein Artikel über jenen Gattenmord in der Westschweiz, der vor Jahren viel zu reden gab. Der Angeklagte – in einem ersten Prozess für schuldig befunden und hinter Gitter gekommen – war bei einem Revisionsverfahren freigesprochen worden, der Fall vom Kassationsgericht ad acta gelegt. Als der Staatsanwalt kurz danach ein neues Gerichtsverfahren anvisierte, fragte man ihn, ob er da nicht Zwängerei betreibe. Er sagte, er sei dafür verantwortlich, dass Verbrechen aufgeklärt werden, es störe ihn, dass der Mörder frei umherlaufe. Auf die Frage eines Journalisten, ob überhaupt noch eine Erfolgsaussicht bestehe, meinte er, der Handlungsspielraum sei in der Tat schmal geworden, aber es gebe nach wie vor die Möglichkeit des Zufalls.
Ich frage Kommissar Grädel (der mich wieder zu einem Glas Bier eingeladen hat), was er darüber denke. Er hat eine Art, auf gewisse Fragen mit einem Lachen zu antworten, als wäre sein Beruf eigentlich eine heitere Sache.
«Ja, ja, der Zufall», sagt er. «Kann manchmal sehr merkwürdig sein, hat oft etwas Mysteriöses, wie ein Wink aus dem Unbekannten. Ich bin zwar nicht sehr gläubig, aber manchmal frage ich mich doch, woher die Zeichen kommen.»
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