Читать книгу Hannes - Oscar Peer - Страница 7
ОглавлениеDu sollst nicht schwören, ich weiss. Und doch hatte ich, nach zwei unglücklichen Liebschaften, hoch und heilig geschworen: Nie wieder Frauen!
Bei Jovita H., die mich vielleicht geliebt hätte, war es nur eine Blick-Bekanntschaft gewesen, ein Lied ohne Worte, weil ich, damals noch Gymnasiast, nicht den Mut hatte, sie einmal anzureden, ganz schlicht und einfach, von Schüler zu Schülerin. Sie war von mittlerer Grösse und anmutiger Schlankheit. Ich sehe noch ihre Gestalt, sehe den Schulplatz, wo wir in den Pausen unter Kastanienbäumen auf und ab spazierten, scharenweise, sodass man immer wieder ein bisschen ausweichen musste. Ich suchte sie mit den Augen, entdeckte irgendwo ihren braunen Mantel. Ich erinnere mich, wie sie im Vorbeigehen einmal den Kopf wandte und mir ins Gesicht schaute. Oder wie sie, mit Freundinnen die Treppen hinaufsteigend, nahe an mir vorbeikam und mich flüchtig grüsste. Oder eines Abends im Theaterfoyer, wie sie am Saaleingang im Programmheft blätterte, einmal flüchtig herüberschaute, als warte sie, dass ich sie anrede. Doch da erschien eine Frau, vielleicht ihre Mutter, mit der sie, kurz zurückblickend, in den Saal ging. Ich war immer zu langsam, zu scheu, zu zaghaft. Ich hätte nicht Angst gehabt, in den Krieg zu gehen, doch hier war der Feind in mir selbst.
Während der Sommerferien wünschte ich den Schulbeginn herbei, um sie wiederzusehen, entschlossen, endlich einmal meine Befangenheit zu überwinden. Doch Ende August, als man wieder auf dem Schulplatz spazierte, suchte ich sie vergebens. Ich kannte einen ihrer Klassenkameraden, erkundigte mich wie nebenbei nach Jovita H. – Jovita? Die sei doch gemütskrank, sagte er, als wäre das allgemein bekannt. Sie habe wieder einmal einen Schub und müsse eine Zeit lang aussetzen; das sei bei Depressiven eben so, da könne man nichts machen.
Ich sah sie nie wieder. Sie befand sich in einer Berner Klinik, machte in zuverlässiger Begleitung ihren täglichen Spaziergang. Wiederholt wünschte sie, die hohe Kirchenfeldbrücke zu sehen, weil diese, wie sie sagte, von einem ihrer Vorfahren gebaut worden sei. Man ging nicht darauf ein, Brücken standen nicht auf dem Programm, schon gar nicht die Kirchenfeldbrücke. Doch da sie immer wieder damit kam und sich ihr Zustand deutlich gebessert hatte, erfüllte man ihr den Wunsch. Zwei Pflegerinnen begleiteten sie hin. Irgendwo in der Mitte blieben sie stehen. Jovita schaute in die Tiefe, schien dabei von einem Glücksgefühl ergriffen. «Wie wunderbar», sagte sie, «so hoch oben, als schaute man vom Himmel auf die Erde hinab.» Plötzlich versuchte sie zu fliehen, die Schwestern hielten sie fest, doch sie drehte sich leicht herum, schlüpfte spielend aus ihrem Mantel und warf sich übers Geländer.
Natürlich hatte ich die Szene nicht miterlebt, es wurde mir nur davon erzählt. In Gedanken war ich dort, sah einen nebligen Dezembermorgen, die leicht geschwungene Brücke, das Geländer, die Silhouetten dreier Frauen. Dann diese Sekundenszene, die fallende Gestalt – ein flüchtiger Flash vor dem grauen Winterhimmel.
Verliebt war ich eigentlich immer, Eros, der Übermächtige, begleitete mich wie ein anhänglicher Dämon. In einem bestimmten Alter hatte ich meine Scheu etwas überwunden, nur wusste ich, dass ich nicht unwiderstehlich war. Auch für Gertrud nicht, die ich, (ich war damals achtundzwanzig), an der Uni kennenlernte. Tochter aus gutem Hause, ihr Vater, ein Deutscher, Finanzbeamter in höherer Stellung. Sie studierte Theologie, daneben deutsche und französische Literatur. Wir besuchten zusammen eine Vorlesung über Heinrich von Kleist. Ich machte meine Notizen, neben mir die sympathische Person, ihre feingliedrigen Hände und ihre flüssige Schrift. Sie schrieb ununterbrochen. Einmal, da ihr irgendein Detail (Kleists gelegentliches Stottern) entgangen war, fragte sie mich, ob ich das notiert hätte? Ich schob ihr mein Heft hinüber, sie schrieb ab, ich wartete geduldig, während sich der Hörsaal langsam leerte.
Später sassen wir zusammen in der Uni-Bar, tranken Kaffee und unterhielten uns über Kleist und seinen Selbstmord. Mich beschäftigte die Frage: Woher die Todesbesessenheit dieses Deutschen? Wieso suchte er jemand, der bereit wäre, mit ihm zu sterben, und warum eine Frau? Gertrud meinte, das seien eben seine inneren Spannungen gewesen, seine Zerrissenheit, das Leiden an sich selbst und am Leben überhaupt; vielleicht auch der Wunsch nach Rache an seinem Leben, mit welchem, wie er meinte, etwas nicht stimmte; dazu seine Einsamkeit und die Sehnsucht nach Liebeserfüllung wenigstens im Tode.
Todesgedanken waren auch mir nicht fremd, doch gerade im Augenblick wünschte ich ganz und gar nicht zu sterben. Ich hatte mich noch nie mit jemandem so gut unterhalten. Kaum trafen wir uns, ergab sich das Gespräch wie von selbst. Wie mein Freund Leo gehörte auch sie zu den seltenen Menschen, die auch Fragen stellen; und weil sie so wunderbar zuhören konnte, strömten mir die Worte zu. Sie sah gut aus, war immer korrekt, das heisst schlicht und geschmackvoll gekleidet, hatte vielleicht etwas leicht Puritanisches. Ihr Haar immer straff nach hinten gekämmt.
Ich begann, mich für Theologie zu interessieren, besuchte mit ihr ein Kolleg über Jeremias, tags darauf eine Doppelstunde Heinrich von Kleist. Ich betrat beizeiten den Hörsaal, besetzte jeweils einen Platz neben mir, sah dann, wenn sie mit andern hereinkam, wie sie mich mit den Augen suchte und je nachdem leicht mit der Hand winkte. Manchmal wanderte ich durch das Gebäude, in der Hoffnung, irgendwo zufällig auf sie zu treffen. Einmal lud ich sie zu mir nach Hause ein, spielte ihr auf ihren Wunsch etwas vor. Dass sie nachher, kaum dass wir eine Tasse Tee getrunken hatten, gleich aufstand und sich verabschiedete, fand ich bei ihr nicht ungewöhnlich.
Obwohl wir uns zweimal wöchentlich sahen, korrespondierten wir miteinander. Ich schrieb ihr jeweils am Donnerstagabend, sie erhielt meine Post am Samstagmorgen, ich die ihrige am Montag. Als ich ihr einmal mein Leiden an meiner nicht gerade vollkommenen Körperlichkeit beichtete, antwortete sie mit einem sehr schönen Brief, versicherte mir, meine angebliche Unzulänglichkeit sei reine Einbildung, und im Übrigen, das müsse ich ihr glauben, spiele das für sie nicht die geringste Rolle. Im Gegenteil, das mache mich nur menschlicher – das erinnere sie (jetzt dürfe sie es sagen) an den alttestamentlichen Jakob, der eine Nacht lang mit dem unbekannten Mann kämpfte, wobei ihm dieser Unbekannte das Hüftgelenk verrenkte, sodass er fortan hinkte. Aber er hatte Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen!
Ich fand das grossartig: eine Niederlage als Gnadenakt! Es war der schönste Brief, den ich je erhalten hatte, und genau besehen ein verschlüsselter Liebesbrief. Sie schenkte mir ein neues Lebensgefühl, ich kam durch sie zu mir selbst. Ich dachte an Jakob, an seinen nächtlichen Kampf mit dem Allmächtigen, der ihm mühelos die Hüfte ausrenkte. Ich dachte ständig an Gertrud, ich sehnte mich nach der nächsten Begegnung. Und zugleich (dies der ewige Schatten) hatte ich Angst, sie zu verlieren.
Es kam der Tag, an dem sie mich zum Mittagessen einlud, ich denke, vor allem um mich ihrer Familie vorzustellen. Offen gestanden hatte ich ein ungutes Gefühl, wobei ich nicht weiss, ob ich das Kommende vorausahnte oder ob mein negatives Gefühl das Unheil herbeiführte. Der Vater, das wusste ich, war irgendein grosses Tier in der Finanzwelt, ein bebrilltes Schwergewicht, korpulent, gut gekleidet und unnahbar. Ich kam da in ein fremdes Klima, ich spürte, dass ich nicht gefiel, weder ihm noch den drei Geschwistern von Gertrud – das heisst zwei Schwestern und einem blasierten Bruder. Wir waren zu Hause auch nicht die Letzten, doch hier duftete es geradezu penetrant nach Vornehmheit, alles so stinknobel, dass es mir die Kehle zuschnürte. Ich hätte nie gedacht, dass es in der demokratischen Schweiz so etwas geben könne. Während des Essens wurde fast nicht geredet, jedenfalls nicht mit mir. Ich fühlte mich als Fremdkörper, der hier nichts zu suchen hatte; im Gegensatz zum Hausherrn und dem jungen Schnösel eher salopp gekleidet, ohne Krawatte, mit abgewetzter Manchesterjacke und offenem Kragen.
Ich ass mit verhaltener Wut, hatte dabei auf einmal Angst, dass ich mein Weinglas umwerfen könnte. Ich dachte an Paolo, für den dieses Milieu kein Problem gewesen wäre; der hätte gleich losgelegt und die Tafelrunde beherrscht, hätte dem Hausherrn womöglich einen Vortrag über Geld und Finanzwesen gehalten. Für mich war es die kälteste Mahlzeit meines Lebens. Einmal sah ich, wie die Schwestern und der Bruder miteinander flüsterten und dann ein Lachen unterdrückten, was ich – vielleicht zu Unrecht – auf mich bezog. Der Vater, humorlos, nahm mich nicht zur Kenntnis, kein Blick, geschweige denn eine Frage. Die Mutter schien menschlicher, hatte hellblaue Augen und ein zartes Madonnengesicht, aber das war auch alles. Sie wirkte wie eine verheiratete Sklavin. Gertrud reichte mir die Platten, nur war mir der Appetit vergangen und mit ihm mein Schluckvermögen. Vermutlich war ich kreidebleich, wobei sich mein Gesichtsausdruck auf sie übertrug, ich sah ihre beklommene Miene. Und dann passierte es tatsächlich, dass ich mein Glas umwarf. Es schien mir dabei, als täte es meine Hand ganz von sich aus und wie spielerisch. Das Glas war allerdings schon fast leer, doch es genügte, um das weisse Tischtuch zu beflecken. Ich sagte: «Oh, Pardon!», während das Dienstmädchen in die Küche eilte, mit Salz zurückkam und es auf den roten Klecks streute. Gertrud flüsterte, das sei nicht so schlimm. Mir schwindelte, und ich war nahe daran, auch das Mineralwasser auszuleeren, absichtlich. Doch es drängte mich, hier so schnell wie möglich zu verschwinden. Als der Kaffee serviert wurde, stand ich auf und erklärte, ich müsse jetzt leider gehen; ich dankte für die Mahlzeit und entfernte mich, ohne Händedruck. Gertrud folgte mir die Treppe hinunter. «Gehst du schon?» Unten standen wir ein paar Sekunden wortlos in der Tür. Vermutlich wussten wir beide, dass es aus war.
Ich sah sie nur mehr von weitem, einmal auf der Strasse, einmal an einem Nebeneingang der Universität. Eines Abends spät läutete das Telefon, doch als ich abnahm, vernahm ich nur ein Schweigen. Zwei Tage später kam ein Brief. Ich las:
«Ich habe lange auf Dich gewartet. Ich sehnte mich nach Dir und hatte zugleich Angst. Es bricht mir das Herz, wenn ich Dir jetzt sage, dass wir Abschied nehmen müssen. Leider sind meine Angehörigen der Meinung, dass Du nicht in unsere Familie passt. Ich bin zu Tode betrübt, nur haben wir einen starken Familiensinn, und Du wirst verstehen, dass ich mit den Meinen nicht brechen möchte.» Und am Schluss: «Ich weine und bete, möchte zugleich auch Dir ans Herz legen, im Gebet Trost und Kraft zu suchen. Gott sieht uns» usw.
Vielleicht sah uns Gott, aber wir sahen uns nicht mehr. Der Schmerz sass wie ein rostiges Messer, ein Schmerz mit Kleist-Gedanken, zugleich Nahrung für die Zweifel an mir selbst. Man hätte sterben mögen, und zugleich klammerte man sich an dieses verdammte Leben.
Eine spätere Bekanntschaft mit einem reizend niederträchtigen Bettweibchen war auch nicht dazu geeignet, mich vertrauensvoller zu stimmen. Ich sagte mir: «Schluss! Mögen andere mit diesen Zauberwesen selig werden, ich gehöre offenbar nicht dazu.»
Deshalb jetzt meine Angst vor Franziska. Zumal bei ihr etwas Unberechenbares hinzukam.
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