Читать книгу Hannes - Oscar Peer - Страница 6
ОглавлениеEigentlich passte sie besser zu Paolo als zu mir. Paolo sagte zwar von sich selbst, er sei ein Mensch des erfüllten Augenblicks, weshalb eine definitive Bindung für ihn unerträglich wäre; sobald ihm eine Frau zu nahe komme, rege sich in ihm gleich sein Abwehrinstinkt. Ich weiss nicht, ob er diesen Instinkt auch Franziska gegenüber spürte. Wieso es dazu kam, dass Franziska mich und nicht ihn suchte, das verstehe der Himmel. Ich weiss auch nicht, wieso Paolo, als er sie kennenlernte, ihr geradezu emphatisch von seinem Stiefbruder erzählte und mich als eine Art Phänomen hochstilisierte; ich sei zwar als Typus ein asymmetrischer Mensch, doch dessen ungeachtet ein faszinierender Kerl, hochintelligent, übrigens ein fabelhafter Pianist, dessen hoffnungsvolle Karriere der Vater ahnungslos verhindert habe. Sie sollte einmal hören, wie ich die Mondscheinsonate oder Franz Liszts «Liebestraum» spiele, daneben seien Horowitz und sogar eine Argerich geradezu Dilettanten usw. Das alles hat mir Franziska später erzählt. Ich bin überzeugt, dass Paolo bei solchen Lobhudeleien gar nicht an mich dachte, sondern mich einfach als Thema für eine seiner Tiraden verwendete.
Zum ersten Mal sah ich sie eines Abends bei den Eltern, als ich zum Essen kam. Obwohl etwas verspätet, setzte ich mich im Salon kurz an den Flügel und modulierte ein paar Akkorde, weil ich wusste, dass am Nachmittag der Klavierstimmer dagewesen war. Als ich hierauf das Esszimmer betrat, sass da eine jüngere Frau mit der Familie am Tisch. Wir wurden einander vorgestellt, wobei sie leichthin sagte: «Sie spielen grossartig.»
Ich entschuldigte mich für die Verspätung, worauf mich Vater fragte, warum ich dann, wenn schon verspätet, vorher noch Klavier spiele? Paolo nahm mich in Schutz, ich hätte vermutlich schauen wollen, wie der Flügel jetzt tönt. Und zum Fräulein: «Das ist ein Bösendorfer, schon siebzig Jahre alt und dementsprechend ein bisschen heiser.»
«Ja, heiser», sagte Vater, «aber das nennt man Patina. Davon versteht ihr nichts. So ein Instrument wird immer edler.»
«Da hast du recht, Papa», sagte Paolo, «das ist wie bei alten Herren.»
Ich erinnere mich, dass während der Mahlzeit unter anderem von unserem Bauerngut in Falön, Unterengadin, die Rede war, von unserem Pächter, von Bergbauern und ihrem harten Leben. Sonja fragte sich, ob man dem Mann nicht den Pachtzins erlassen könnte, damit er mit der Familie überhaupt existieren könne und nicht eines Tages davonlaufe; heute müsse man froh sein, einen zuverlässigen Landwirt gefunden zu haben. Paolo erzählte dem Fräulein die Geschichte von Falöns Feuersbrunst, das heisst von jenem Bauernknecht, der mit der Tochter des Meisters verlobt war und dann, als sie ihm untreu wurde, den Verstand verlor, eines Nachts das Haus in Brand steckte und dadurch eine grössere Feuersbrunst auslöste.
«An sich eine fantastische Geschichte», sagte er. «Das wäre ein Thema für dich, Hannes – das grosse Feuer als Symbol des allmächtigen Eros.»
Sie, die Besucherin, war offenbar Physiotherapeutin. Zuerst, erzählte sie, habe sie in einer organisierten Praxis gearbeitet, sich dann bald selbständig gemacht – aus Freiheitsdrang. Nur nicht gebunden und von andern abhängig sein! Sie wäre gern Tierärztin geworden, scheute aber das mühsame Studium. Tiere liebte sie nach wie vor, vor allem Pferde. Reiten war ihre Leidenschaft …
Sie sass mir am Tisch schräg gegenüber. Eine gut aussehende Brünette, ihr plastisches Gesicht sonnengebräunt; sie hatte starke, leicht flache Lippen, braune Goldglanzaugen. Übrigens wirkte sie an diesem Abend eher still, jedenfalls keine Schwatzbase. Während hin und her geplaudert wurde, fiel mir einmal auf, wie sie mich halb abwesend betrachtete. Auch später, als ich vom Teller aufschaute, traf mich wieder die Stille dieser Augen.
Zum Dessert, erinnere ich mich, gab es Apfelstrudel mit Vanillesauce. Die Geschichte mit der Feuersbrunst von Falön kannte ich seit Langem. Ich dachte an den Bauernknecht, der zum Brandstifter wurde, ins Gefängnis kam, jedoch seine Tat erst auf dem Sterbebett beichtete.
Während wir noch beim Dessert sassen, erschien Philipp, Sonjas Exmann. Sie hatten sich, wie gesagt, scheiden lassen, ohne den Kontakt abzubrechen; wahrscheinlich standen sie einander näher, als sie es in der Ehe gedacht hatten. Von Zeit zu Zeit tauchte er auf, ein bisschen wie ein Hund, den man weggegeben hat und der nachher immer wieder da ist.
Später sassen wir bei Kaffee und Kuchen im Salon. Vater war jetzt gut gelaunt, offenbar gefiel ihm das Fräulein. Auf Lilles Wunsch holte er seine Fotografien, auf denen man ihn mit prominenten Leuten abgebildet sah. Er hatte, wie schon erwähnt, die Begabung, Berühmtheiten kennenzulernen, ohne selber eine zu sein. Er korrespondierte mit Künstlern und Schriftstellern, lobte ihre neuesten Werke, gratulierte zu einem Preis. Traten in der Stadt bekannte Interpreten auf, so war er immer der erste, der nach dem Konzert ins Solistenzimmer eilte und Lob spendete – dies mit bestimmten Floskeln, die mir (weil er mich oft mitnahm) von klein auf bekannt waren: «Mein Gott, wie Sie zu Werke gehen! Sie sind ein Rubinstein redivivus!» Zu einem Cellisten: «Sie spielen wie ein Casals redivivus!» Dieses «redivivus» kam immer wieder. Oder zu einem Sänger, von Ergriffenheit erschlagen: «Grossartig! Mir fehlen die Worte. Ich habe einst noch den unvergesslichen Wunderlich gehört, aber Sie singen mindestens so schön.»
Bei einer japanischen Geigerin ging es leider daneben. Er hatte von einem Tokioter Kunsthändler ein japanisches Kompliment notieren lassen und dieses auswendig gelernt; doch als er abends nach dem Konzert als Erster im Künstlerzimmer erschien und seinen Spruch vorbrachte, starrte ihn das zierliche Fräulein an, legte die Hand an den Mund und unterdrückte ein nervöses Lachen. Sie lachte noch, während bereits andere Leute hereinkamen und er wie ein begossener Pudel davonging. Nachträglich fragte er sich, was ihm der freundliche Japaner aufgeschrieben hatte.
Schon sein Vater, Grossvater André, war ein Verehrer berühmter Leute gewesen. Von ihm hatte Vater eine Autografensammlung geerbt – unter anderem ein Dankschreiben von Jaspers, eines von Musil, ein paar Zeilen von Paul Klee, ein signiertes Foto von Wilhelm Kempff; Max Brod zeigte sich erfreut über eine ihm zugesandte Broschüre, in der ein Spezialarzt Brods Wirbelsäulenverkrümmung beschrieb. In einem Brief von Thomas Mann, der für eine Einladung dankte, stand zu lesen: «Wir schiffen uns nächstens nach Amerika ein und sind froh, wenn es vorher noch für Hermann Hesse reicht. Doch wenn der Welt dieses bescheidene Mass von Ruhe, das wir Friede nennen, erhalten bleibt, dann sage ich, Gesundheit vorausgesetzt: wir werden uns noch sehen.» Die gleichen Sätze, wörtlich, empfing offenbar kurz danach auch ein Feuilletonredaktor, der sie dann in der Sonntagsbeilage seines Blattes abdruckte.
Fanden irgendwo Musikwochen statt, so weilte Vater tagelang dort, war bei Empfängen und Banketten dabei, unterhielt sich mit Musikern und Sängerinnen, die den weisshaarigen Herrn für einen der Organisatoren halten mochten. Auf den Fotos sah man ihn im Gespräch mit Maurizio Pollini oder Heinz Holliger, irgendeiner Sängerin die Hand küssend. Auf einem älteren Bildchen (da war er noch relativ jung), stand er, in Gstaad, zwischen Menuhin und Karajan, die ihm freundlich den Arm hielten. Dieses schwarz-weisse Foto gab er jeweils nur halb aus der Hand, aus Angst, man könnte es ihm entwenden.
«Mein Gemahl ist Weltmann», sagte Lille. «Wie du es nur anstellst, an diese Grössen heranzukommen.»
«Das tust du ja auch», sagte er. «Du hast sogar den Barenboim heimgesucht. Übrigens sind das Menschen wie wir. Vor Gott sind alle gleich.»
«Stimmt nicht», sagte Paolo. Auf der Toilette mögen sie alle gleich sein, aber vor Gott? Ich glaube, Gott ist sogar sehr parteiisch, sonst hätten nicht die einen immer Glück und andere immer Pech.»
Lille holte Paolos Porträt, ein noch nicht ganz fertiges Werk von Jean Möcklin. Sie stellte das Bild ins Licht. Franziska war aufgestanden.
«Für mich ist er fertig», meinte Lille, «aber vielleicht will er ihm mit zwei Pinselstrichen noch etwas einhauchen.»
«Vielleicht die Seele», sagte Sonja.
«Er hat aber schon Seele, das sieht man doch.»
Franziska zu Sonja: «Ich glaube, Sie malen doch auch? Da hätten doch Sie Paolo porträtieren können.»
«Wir wollten eben einen richtigen Künstler», sagte Lille. «Sonja kann schon etwas, aber ihre Bilder sind immer so düster.»
Nachher spielten sie Karten. Philipp war gegangen, ich selber sass mit Sonja im kleineren Nebenzimmer, dessen Schiebetür immer offenblieb. Sie erklärte mir anhand des Atlasses eine Skandinavienreise, die sie mit zwei Freundinnen plante, teils mit Schiff, teils mit Reisebus, durch Norwegen und Schweden bis nach Lappland hinauf, dann durch Finnland zurück. Sie wünschte von mir touristische Ratschläge, die ich ihr, noch nie in Skandinavien gewesen, beim besten Willen nicht geben konnte. Zudem war ich etwas zerstreut. Den Namen des Fräuleins hatte ich vergessen oder gar nicht recht mitbekommen.
Paolo, auf seine Karten schauend, fragte mich, ob ich nicht etwas spielen möchte auf unserem Patina-Flügel, zum Beispiel Liszts Liebestraum. Ich mochte jetzt weder Liszt noch Träume. Ich blätterte in Sonjas Reiseführer, betrachtete die Karte von Skandinavien, bemerkte wieder einmal, wie die Besucherin herüberschaute. Im Licht der Deckenlampe hatte sie dunkel umschattete Augen. Sonja fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen zu kommen? Etwas später wieder Paolo: «Gaspard de la nuit, wo bleibt die Musik?»
Als das Telefon läutete, ging ich hinaus. Es war Rehberg, mein Chef, der sich, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, wieder einmal einsam fühlte. Ich erklärte ihm, ich könne leider nicht weg, wir hätten den Besuch einer ungewöhnlichen Frau, die vermutlich nur meinetwegen da sei. Vielleicht sei ich der Mann ihres Lebens.
Er sagte: «Sie witzeln natürlich, aber passen Sie auf. Mit Frauen soll man nicht scherzen.»
Als ich aufgelegt hatte, wusste ich nicht, ob ich bleiben oder gehen solle. Um etwas zu tun, begab ich mich ins Badezimmer und wusch mir die Hände, blickte flüchtig in den Spiegel, kam wieder heraus, zog meine Jacke an und ging geräuschlos davon.
Draussen nieselte es. Während ich heimwärts wanderte, hörte ich Sonja rufen, sah sie mit ihrem Hund kommen. Ich wartete.
«Du hast dich nicht einmal verabschiedet», sagte sie. «Bist du geflohen?»
«Wieso geflohen?»
Sie hatte sich eingehängt, nur war das für beide unbequem, weil sie Harro an der Leine führte und man immer wieder warten musste. Zudem redeten wir aneinander vorbei – sie von der Besucherin, ich vom Schnüffelinstinkt der Hunde.
Sie begleitete mich bis nach Hause, wollte aber nicht hereinkommen. Ich ging ins Wohnzimmer, zog die Jacke aus, setzte mich ans Klavier, doch ohne die Tasten zu berühren. Musik geht nicht immer. Ich zündete eine Zigarette an, stand dann eine Weile am offenen Fenster. Draussen nach wie vor Nieselregen, leichtes Tropfen im Laub der Bäume. Ich sah den Rauch meiner Zigarette entschweben, bald hell, bald dunkel. Dann immer wieder dieses Gesicht. Ich rauche sonst praktisch, ohne zu inhalieren; diesmal tat ich es, spürte dabei, wie das süsse Aroma in mich drang. Zuletzt warf ich den Stummel hinaus, setzte mich aufs Sofa. Vor mir mein komfortables Wohnzimmer, Steinway, Fernseher, Stereoanlage, Bücher und Stehlampe, daneben das von meiner Mutter geerbte Eisbärenfell. Ich wusste nicht recht was tun. Es war erst halb zehn, ich überlegte, ob ich doch noch Rehberg aufsuchen sollte. Aber eigentlich mochte ich jetzt mit niemandem reden. Endlich stand ich auf, zog wieder die Jacke an, den Regenmantel, verliess das Haus, wanderte auf nassen Strassen umher. Beim Elternhaus brannte nach wie vor Licht. Vielleicht spielten sie noch immer. Irgendwo betrat ich eine Beiz, bestellte ein Bier und blieb dort bis um Mitternacht.
Am nächsten Tag kamen die erwarteten Vorwürfe. Es sei nicht gerade vornehm, meinte Vater, sich einfach sang- und klanglos davonzustehlen.
«Ich will aber nicht vornehm sein», sagte ich, «das überlasse ich euch.»
Lille fand es schade, dass ich nicht etwas vorgespielt hatte, zum Beispiel das Regentropfenprélude. Paolo hatte Franziska nach Hause begleitet, wobei sie ihm gesagt hätte, sie fände mich merkwürdig.
«Das ist ihr gutes Recht», sagte ich, «die soll mich finden, wie sie will. Was habe ich mit der Person zu schaffen?»
Ich tat, was ich nicht sollte: Ich suchte sie, vor allem in der Fussgängerzone. Fragte mich dabei, ob ich sie überhaupt wiedererkennen würde. Es war so, dass ich mir ihr Gesicht nicht mehr vorstellen konnte. Und falls wir uns begegneten, was würde ich zu ihr sagen? An einem Kiosk kaufte ich Zigaretten, irgendwo trank ich im Freien Kaffee, die Zeitung lesend. Sie kam nicht.
Kurz vor Mittag betrat ich eine alte, gediegene Buchhandlung, in der ich seit Langem nicht gewesen war, hatte dabei nicht die geringste Absicht, Bücher zu kaufen. Eine Weile stand ich vor dem Tisch mit den Neuerscheinungen. Es wimmelte von Autoren und Autorinnen, Etablierten und Newcomers, Shoutingstars, die eben von potenten Verlagshäusern lanciert wurden. Poetenschwemme, eine nach wie vor ins Kraut schiessende Belletristik. Nichts gegen Belletristik, sofern sie etwas taugt, aber das meiste, man weiss es, kommt und vergeht. Ich dachte an meine eigene Schriftstellerei, und wie oft in Buchhandlungen überkam mich ein Gefühl der Ohnmacht.
Um diese Zeit herrschte in den Räumen eine gewisse Stille. Ich blätterte in einer Anthologie, als sich jemand näherte und neben mir stand. Obwohl ich sie gleich erkannte, überkam mich ein Gefühl des Irrealen. Ihr Gesicht vor mir, ein seidenes Halstuch, auf dem Kopf ein rotes Béret. Ich weiss nicht mehr, worüber wir redeten, erinnere mich nur, dass sie sehr erstaunt war, als ich sie fragte, warum sie mich, wie es Paolo erzählte, merkwürdig finde.
«Ich?», sagte sie. «Aber das stimmt doch nicht! Warum erzählt er so etwas? Ja, wir haben über Sie geredet, aber ich sagte ganz etwas anderes. Glauben Sie mir? Übrigens waren Sie an jenem Abend sehr still. Sind Sie immer so?»
Während wir gemeinsam hinausgingen, fragte sie, ob ich ihr einmal etwas vorspielen werde, irgendetwas, Klassik oder Jazz, vielleicht auch ein einfaches Volkslied. «Versprechen Sie es mir?» Die Art, wie sie mir dabei ins Gesicht schaute. Sie verabschiedete sich sehr rasch, mit Gruss an meine Familie. Ich sah sie die Strasse hinuntergehen, in der Menge verschwinden, irgendwo ihr rotes Béret. Beim Abschiednehmen hatte ich zuerst gemeint, ihre Handfläche, das heisst ihre Haut zu berühren, dann aber gemerkt, dass sie sehr feine Handschuhe aus weichem Wildleder trug.
Laut Telefonbuch wusste ich, wo sie ihre Physiotherapie-Praxis hatte. Eines Tages wartete ich fast eine Stunde, bis sie gegen sechs Uhr aus dem Gebäude trat. Ich wollte sie nur sehen, sonst nichts. Sie kam eine Steintreppe herunter, überquerte die verkehrsreiche Strasse, fast ohne sich umzublicken. Auf dem Parkplatz gegenüber blieb sie stehen, suchte etwas in ihrer Handtasche, ihre Silhouette im Gegenlicht, das bewegte Haar. Endlich hatte sie es gefunden, stieg in ein dort geparktes Auto und fuhr davon.
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