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Die Schwurfinger des Geldes

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Das World Trade Center war ein Zentrum der Globalisierung. Der Schriftsteller Botho Strauß nannte die Twin-Towers »Schwurfinger des Geldes«. Sie seien »abgehackt worden«. Das Gesetz des Islam, die Scharia, sieht vor, Dieben die Hand abzutrennen. Im Bild des Dichters wird der Kampf der Armen gegen die Reichen, der Muslime gegen die restliche Welt, zusammengefasst. Aber wie so oft wurden Unschuldige zum Opfer dieses Kampfes. Der Anschlag hatte eine Symbolik, die nicht zu übertreffen ist. Schon der russische Anarchist Michail Aleksandrowitsch Bakunin forderte, dass von dem Terrorakt eine Propagandawirkung ausgehen müsse, und er empfahl den Schlag gegen das Zentrum. Der war den Attentätern gelungen. Wenn irgendwo die Spielhöllen des Kasinokapitalismus stehen, dann in New York. Wenn Geld die Welt regiert, dann ist New York die Welthauptstadt. Hier jagen Investmentbanker und Derivatenhändler Milliarden Dollar um den Erdball. Insidergeschäfte werden gemacht und Analysten und Journalisten spielen zusammen, um den Anlegern »die Haut vom Gesicht zu reißen«. So drücken sich die Händler aus, wenn sie einen Anleger um eine Menge Geld gebracht haben. Die Wall Street ist mächtiger als der amerikanische Präsident.

Viele Filmregisseure und Schriftsteller hatten New York schon zuvor zum Schauplatz ähnlicher Katastrophenszenarien gewählt. Aber als das schreckliche Ereignis dann eintrat, waren alle geschockt. Das Massaker hatte nur wenige sichtbare Leichname hinterlassen. Die Menschen trauerten, aber sie konnten ihre Toten nicht begraben. »Warum waren in den Türmen keine Fallschirme?«, fragte ein Kind. Dass die Gigantomanie der modernen Architektur Gefahren birgt, haben viele gewusst oder zumindest geahnt. Der saarländische Lyriker Johannes Kühn, der besonders in Frankreich hohe Wertschätzung genießt, verfasste am 31. Januar 2001 ein Gedicht mit dem Titel »Hochhaus«. Dort heißt es:

Unter ihm geh ich staunend hin,

verwünsch die Bombe,

die es treffen könnte,

und bin in Kriegsangst.

Aufdämmern lässt sie ein Flugzeug,

das noch höher fliegt,

als das Haus steht,

in lauter Raserei voll Raketenlärm

am Mittagshimmel.

Ich glaubte, ich sei im Film, weil ich im Kino ähnliche Bilder gesehen hatte. Dass das soeben gesehene Wirklichkeit war, drang nur langsam in mein Bewusstsein. Dabei war die Welt vorgewarnt.

Der Terrorist Ramzi Ahmed Yousef hatte am 26. Februar 1993 in einer Tiefgarage unter dem World Trade Center eine Bombe gezündet, die er selbst konstruiert und gebaut hatte. Bei seinem Anschlag kamen fünf Menschen ums Leben und 1000 wurden verletzt. Die Explosion war die größte Katastrophe, mit der die New Yorker Feuerwehr bis dahin in ihrer 128-jährigen Geschichte konfrontiert worden war. Zwar hatten die US-Behörden Telefongespräche aufgezeichnet, die auf die Planung eines Bombenanschlags im World Trade Center hinwiesen, leider konnte aber keiner der zuständigen Beamten Arabisch. Yousef schwieg sich über seine Geldgeber aus. Er stand auch als Informant auf der Gehaltsliste des FBI. Seine Identität konnte nicht eindeutig festgestellt werden. Er war in Großbritannien zum Elektrotechniker ausgebildet worden und anschließend in den von Bin Laden finanzierten Camps in Afghanistan zum Terroristen. Yousef war kein Selbstmordattentäter. Vielmehr hatte er seine Fluchtwege sorgfältig vorbereitet. Im Zuge der Ermittlungen hatten die Behörden herausgefunden, dass auch die Sprengungen wichtiger Tunnels und Brücken und des UN-Gebäudes in New York geplant worden waren. Als Yousef zu 240 Jahren Haft verurteilt wurde, erklärte er: »Ich bin ein Terrorist, und ich bin stolz darauf.« Sein Ziel sei es gewesen, die amerikanische Politik im Nahen Osten zu verändern. Er warf den Vereinigten Staaten vor, unschuldige Menschen zu töten. Sie hätten die indianischen Ureinwohner und andere Minderheiten unterdrückt und misshandelt. Die USA hätten seiner Ansicht nach den Terrorismus erfunden.

Von dem erneuten Anschlag auf das World Trade Center konnte daher niemand überrascht sein. Die Ermittlungen nach dem Terrorakt vom 26. Februar 1993 lieferten alle notwendigen Hinweise. Der Regierung Bush, so wurde später bekannt, lagen Informationen der Geheimdienste vor, nach denen es bald zu größeren Terroranschlägen kommen würde. Zudem hatte ein Fluglehrer aus Minnesota das FBI im August 2001 gewarnt, Terroristen könnten ein Linienflugzeug als Waffe benutzen. Er schöpfte Verdacht, weil einer seiner auszubildenden Piloten – er stellte sich tatsächlich als einer der Terrorpiloten des 11. September heraus – sich auffallend für die Boing 747 interessierte. Zudem wollte er keine Fragen nach seinem persönlichen Hintergrund beantworten. Die CIA hatte sich in den letzten Jahrzehnten überwiegend auf technische Verfahren konzentriert.Sie überwachte den Funkverkehr und machte Satellitenfotos. Das war im Kalten Krieg sicher sinnvoll. Aber wie sich zeigte, reichen diese Mittel nicht aus, um den Terrorismus zu bekämpfen. Es wurde gefordert, wieder mehr Agenten einzusetzen. Bei näherem Hinsehen stellte man aber fest, dass die Orientalistik in den Vereinigten Staaten zu den Fächern gehört, für die sich kaum jemand interessiert. Die Voraussetzungen für das Anwerben von Mitarbeitern, die ein kulturelles und soziales Verständnis der islamischen Länder haben, sind äußerst schlecht.

Die amerikanischen Politiker mussten neu darüber nachdenken, wie sie ihren Bürgern Schutz und Sicherheit gewährleisten konnten. Das Antiraketenprogramm, das Präsident George W. Bush mit seiner Regierung zum vorrangigen Ziel erklärt hatte, war auf einmal infrage gestellt. Nicht heranfliegende Raketen mit atomaren, biologischen oder chemischen Sprengköpfen bedrohten Amerika, sondern Menschen, die, mit Teppichmessern bewaffnet, eine große Katastrophe auslösen konnten. Den Terroristen wäre es beinahe gelungen, die Zentren der amerikanischen Politik komplett zu zerstören. Wer hätte je gedacht, dass es so leicht sei, eine Boeing über dem Pentagon abstürzen zu lassen? Man musste doch davon ausgehen, dass die Schaltzentrale der größten Militärmacht der Welt gegen solche Anschläge mehrfach gesichert war. Unwillkürlich fühlte ich mich an den jungen Sportflieger Matthias Rust aus Wedel bei Hamburg erinnert, der vor Jahren seelenruhig mit einem Privatflugzeug auf dem Roten Platz in Moskau gelandet war. Er hatte vorher – von der russischen Luftabwehr unbehelligt – eine Schleife über dem Kreml gedreht.

Anfang 2002 steuerte ein 15-jähriger Schüler mit einer Sportmaschine in ein Hochhaus, nachdem er für kurze Zeit in den Luftraum über dem Luftwaffenstützpunkt MacDill in Tampa eingedrungen war. Dort ist das Hauptquartier des Zentralkommandos der Vereinigten Staaten, das den Krieg in Afghanistan leitet. Hätte der Schüler es mit Sprengstoff beladen und über der Kommandozentrale abstürzen lassen, dann wäre sie schwer beschädigt worden. Obwohl die Luftabwehr schon gegenüber kleinen Privatflugzeugen versagte, hielt die Bush-Administration an dem Antiraketenprogramm fest. Schließlich versprach sich die Republikanische Partei, wie zu Zeiten Ronald Reagans, von der Aufrüstung Impulse für die amerikanische Wirtschaft. Zudem hatte die Rüstungsindustrie für Bushs Wahlkampf viel Geld gespendet.

Die Reaktionen in der übrigen Welt auf die Terroranschläge vom 11. September waren zwiespältig.Während in den westlichen Industriestaaten Anteilnahme und Trauer vorherrschten, kam im Nahen Osten, in Asien, Südamerika und Afrika Schadenfreude auf. Viele fragten sich, warum es zu diesen Anschlägen gekommen war und warum die amerikanische Politik soviel Hass in der Welt hervorrief.

Eine Umfrage der in Paris erscheinenden Zeitung International Herald Tribune unter 275 einflussreichen Persönlichkeiten aus Politik, Medien, Wirtschaft und Kultur ergab, dass 58 Prozent der Befragten – soweit sie keine Amerikaner waren – meinten, die US-Politik sei eine der wichtigsten Ursachen für den 11. September. Unter den US-Bürgern vertraten nur 18 Prozent diese Ansicht. 60 Prozent der Nichtamerikaner gaben zudem an, dass die USA zumindest teilweise für die große Kluft zwischen Arm und Reich auf der Erde verantwortlich seien, und dass das reichste Land der Erde zu wenig für die armen Länder täte.

Das trifft ohne Zweifel zu, denn Amerika gibt am meisten für das Militär, aber am wenigsten für die Entwicklungshilfe aus. Und was ist mit der Außenpolitik Washingtons als Ursache des Terrors? Wenigen Amerikanern war im September 2001 bewusst, dass die USA in einem gemeinsamen Einsatz mit Großbritannien den Irak regelmäßig bombardierte. 500 000 irakische Kinder starben bislang an Unterernährung und Krankheit – als Folge des verhängten Wirtschaftsembargos. Seit Pearl Harbor hat kein Staat die USA angegriffen, aber die Vereinigten Staaten mussten immer wieder Länder mit Gewalt daran hindern, die freie Welt zu verlassen und kommunistisch zu werden. Jetzt werden Staaten angegriffen, die Terroristen beherbergen oder Massenvernichtungswaffen herstellen. Mit dieser Begründung ließ Präsident Bill Clinton während der Lewinsky-Affäre eine Aspirinfabrik im Sudan bombardieren. Die Liste der Länder, mit denen Amerika seit dem Zweiten Weltkrieg Krieg geführt hat, die es bombardiert hat oder in denen es in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt war, ist lang: Korea, Guatemala, Indonesien, Kuba, Zaire, Laos, Vietnam, Kambodscha, Grenada, Libyen, El Salvador, Nicaragua, Panama, Irak, Bosnien, Sudan, Jugoslawien und jetzt Afghanistan. Als Präsident George W. Bush die Luftangriffe auf Kabul ankündigte, sagte er: »Wir sind eine friedliche Nation.« Aber warum hat die friedliche Nation in den letzten Jahren so viele Kriege geführt? Alle nur im Namen der Freiheit und der Menschenrechte? Der englische Schriftsteller Harold Pinter zitierte im November 2001, als ihm die Hermann-Kesten-Medaille verliehen wurde, in seiner Dankesrede im Hinblick auf die amerikanische Machtpolitik William Shakespeare, der im »Julius Cäsar« den Cassius sagen lässt:

Ja, er beschreitet, Freund, die enge Welt

wie ein Colossus, und wir kleinen Leute,

wir wandeln unter seinen Riesenbeinen,

und schauen umher nach einem schnöden Grab.

Das Pentagon ist sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass die vielen Militärinterventionen der Amerikaner Folgen haben. So schrieben schon 1997 Mitglieder des Defense Science Board, eine Abteilung des amerikanischen Militärs zur Entwicklung neuer Strategien und Konzepte, in einem Bericht: »Historische Daten belegen einen engen Zusammenhang zwischen der US-amerikanischen Verwicklung in internationale Situationen und einer Zunahme von Terroranschlägen gegen die Vereinigten Staaten. Zudem verleitet die militärische Asymmetrie, die anderen Staaten offene Angriffe auf die USA unmöglich macht, zum Einsatz von übernationalen Tätern.« Gemeint sind damit Terroristen, die Anschläge auf Einrichtungen der Vereinigten Staaten verüben. In der amerikanischen Diskussion ist vom »Blowback«, vom Rückstoß der amerikanischen Außenpolitik die Rede. Wann werden die Vereinigten Staaten aus dem engen Zusammenhang zwischen den US-Militärinterventionen und den Terroranschlägen gegen die Vereinigten Staaten Konsequenzen ziehen? Und haben die Staatsmänner Europas diese Gefahren bedacht, als sie die Beteiligung ihrer Soldaten am Afghanistankrieg anboten? Der Terrorismus kann nicht durch Krieg bekämpft, geschweige denn ausgerottet werden. Wenn im Bombenhagel viele Unschuldige sterben, wächst die nächste Terroristengeneration heran. »Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Menschen macht, als er deren wegnimmt«, schrieb Immanuel Kant.

Die Wut wächst

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