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Links und rechts – ohne Standpunkt geht es nicht

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Jede Zeit hat ihre Begriffe. In den letzten Jahren ist von neuer Unübersichtlichkeit und neuer Beliebigkeit die Rede. Hoch im Kurs steht auch das Wort Modernisierung. Aber die neue Unübersichtlichkeit entbindet uns nicht von der Pflicht einen Standpunkt zu beziehen und uns zu entscheiden. Die neue Beliebigkeit steht für Orientierungslosigkeit und Opportunismus. Ihre Protagonisten erwecken den Eindruck, alles mitzumachen, solange sie selbst gut dabei wegkommen. Und die Modernisierer sind eifrig dabei, den Sozialstaat zu demontieren, der den Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaft garantiert. Sie wirken wie unfreiwillige Handlanger und Trottel des Neoliberalismus, denen der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht gelingen will.

In der Politik ist es Tradition, zwischen der Linken und der Rechten zu unterscheiden. In Frankreich ist das heute noch selbstverständlich. Sozialisten und Kommunisten zählen sich zur Linken, Bürgerliche und Gauillisten zur Rechten. In Deutschland ist das anders. Alle Parteien drängen sich in der Mitte. Schon vor Jahren hieß es, das sozialdemokratische Zeitalter sei zu Ende. Als ich das zum ersten Mal in den achtziger Jahren hörte, musste ich schlucken. Schnell rief ich mir die wichtigen Programmpunkte sozialdemokratischer Politik in Erinnerung, um zu überprüfen, ob die Zeit der Sozialdemokraten tatsächlich zu Ende war. Als Erstes fiel mir die Aufgabe ein, Frieden zu schaffen und Frieden zu bewahren. Willy Brandt war damals Vorsitzender der SPD und hatte für seine Friedens- und Entspannungspolitik den Nobelpreis erhalten. Aber mir war sofort klar, ein Konservativer würde ebenfalls behaupten, auch wir wollen Frieden schaffen – und dem könnte ich so ohne weiteres nicht widersprechen. Für die politische Linke gehören aber Frieden und soziale Gerechtigkeit untrennbar zusammen. Hier scheiden sich die Geister. Der Zusammenhang von sozialer Gerechtigkeit und Frieden ist auch das zentrale Thema der Globalisierung.

Da niemand die Notwendigkeit gerechter Verteilung leugnen kann, wird darüber gestritten, was gerecht ist. Natürlich gibt es nie ganz eindeutige Antworten. Aber wenn aus den armen Ländern über den Schuldendienst mehr Geld in die reichen fließt als umgekehrt, dann kann ein normal empfindender Mensch das nicht mehr gerecht nennen. Oder wenn die Vorstandsgehälter um mehrere hundert Prozent steigen, während die Realeinkommen der Arbeitnehmer und Rentner sinken, dann wird das nur noch eine Minderheit in Ordnung finden.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, wusste schon Karl Marx. Der Besitzende hat andere Interessen als der Habenichts. Er hat auch einen anderen Begriff von sozialer Gerechtigkeit als der Sozialhilfeempfänger. Die Sozialhilfe wurde ursprünglich eingeführt, um die innere Sicherheit zu verbessern. Die Armen sollten die öffentliche Ordnung nicht gefährden, nicht betteln oder stehlen und aufgrund mangelnder Hygienemöglichkeiten keine Seuchen verbreiten. Während vieler Jahrhunderte war der Militäretat der wichtigste Titel im Staatshaushalt. Erst im 20. Jahrhundert wurde er vom Sozialhaushalt abgelöst. Für die Vermögenden sind die innere und die äußere Sicherheit immer wichtiger als die soziale. Konservative Regierungen bauen Bürgerrechte ab und schenken dem Militäretat größere Aufmerksamkeit. Das kann man heute wieder in Amerika beobachten. Vielfach beeinflussen die finanziellen Nutznießer der Rüstungsgeschäfte die Regierungspolitik.

Stramme Konservative behaupten kurz und bündig, der Markt sei gerecht. Das ist aber nur etwas für Leute, die nicht genau hinsehen. Jeder kleine Einzelhändler kann ein Lied vom gerechten Markt singen. Hätten wir keine Kartellgesetze, dann würden die Großen die Kleinen fressen. Raffiniertere weichen der Frage nach sozialer Gerechtigkeit durch Begriffsverwirrung aus. Es gehe nicht um Chancengleichheit, sondern um Chancengerechtigkeit, sagen sie. Das hört sich gut an, hilft aber auch nicht weiter, wie ein Gedankenexperiment zeigt. Eine Gruppe ausgehungerter und verdurstender Menschen erfährt von einem Vorrat an Speisen und Getränken, der in einer Entfernung von einem Kilometer angeboten wird. Diejenigen, die noch bei Kräften sind, werden ihren Hunger und Durst stillen; Kinder, Kranke und Schwache werden zu spät kommen. Es wäre zynisch zu sagen, jeder hätte die faire Chance gehabt, etwas zum Essen und zum Trinken zu bekommen.

Alte, Kranke, Kinder, Schwache und Behinderte gibt es in jeder Gesellschaft. Die Linke sieht es als ihre Kernaufgabe an, gesellschaftliche Bedingungen durchzusetzen, die auch diesen Menschen ein würdiges Leben ermöglichen. Der Markt kann nach meiner Überzeugung keine soziale Gerechtigkeit herstellen. Er ist für ethische Fragen blind, weil die einzelnen Menschen ungleiche Startbedingungen und ungleiche Zugangsbedingungen zum Markt haben. Es gibt reiche und arme Eltern, intakte und zerrüttete Familien, und die Menschen sind gesund oder krank, begabt oder weniger begabt, schön oder weniger schön. In einer gerechten Gesellschaft dürfen die ungleichen Startbedingungen nicht alleine über die individuellen Lebensentwürfe und deren Realisierungschancen entscheiden. Deshalb muss der Staat durch gerechte Verteilung der Grundgüter, zu denen Bildung und Gesundheitsvorsorge ebenso wie Einkommen und Vermögen gehören, für bessere Ausgangsbedingungen der Benachteiligten sorgen. Die Zufälligkeit der sozialen Herkunft und der natürlichen Begabung soll ausgeglichen werden.

Mittlerweile haben sich die Hohepriester des Raubtierkapitalismus etwas Neues einfallen lassen. Sie berufen sich auf den amerikanischen Philosophen John Rawls und sagen, wenn mehr Gerechtigkeit nur dazu führt, dass die Armen noch weniger haben, dann sei die ungleiche Verteilung im Interesse der Benachteiligten. Dahinter steckt die nette Idee vom fähigen Manager, dessen Initiative und Kreativität erlahmt, wenn er nicht Millionen scheffelt. Wenn ihm die Arbeitslust ausgeht, schadet das nicht nur den Arbeitnehmern, sondern der ganzen Volkswirtschaft und damit dem Sozialstaat. Lernziel: Ohne hochbezahlte Eliten geht es allen schlechter.Amerika ist dabei das leuchtende Vorbild, nur mit dem Sozialstaat klappt es dort nicht so. Die Vertreter solcher Weisheiten übersehen: Die Aussage ist umgekehrt eher gültig. Wenn die Arbeitnehmer die Arbeitslust verlieren, dann kann auch der beste Manager nichts mehr ausrichten. Im Übrigen habe ich in den letzten Jahren in Deutschland den Eindruck gewonnen, die Bezahlung der Vorstände läuft nach folgender Regel: je größer der Milliardenbetrag, den der Wirtschaftsboss im Ausland versenkt, umso höher sein Einkommen. Die großen Geldvernichter in der Automobilbranche, ich denke an DaimlerChrysler und an BMW, haben fürstliche Gehälter. Mannesmann und die Berliner Bankgesellschaft stehen für einen anderen gesellschaftlichen Skandal. Je größer die Niete im Nadelstreifen, umso höher die Abfindung.

Inzwischen treten sich in Deutschland alle Parteien in der Mitte auf die Füße. Nur die kleine PDS ist ein bisschen links und rackert sich im Osten ab.

Ich konnte mit dem Begriff der »Mitte« nie etwas anfangen. Er ist weder Fisch noch Fleisch und erinnert mich an die liebenswerten Restaurantbesucher, die vom Kellner gefragt werden, ob sie gerne Rotwein oder Weißwein trinken. Um ja nichts falsch zu machen, bestellen sie einen Rosé.

Die Parteien tun sich mit ihrem Beharren auf dem inhaltsleeren Begriff der Mitte keinen Gefallen.Wer in Deutschland die Interessen der Arbeitnehmer und Rentner vertritt und bei diesen Wählergruppen glaubwürdig bleibt, hat immer die Mehrheit. Und es gibt noch genügend Unternehmer, die wissen, ohne zahlungsfähige Kunden kann man keine Geschäfte machen. Der Automobilhersteller Henry Ford pflegte zu sagen: Autos kaufen keine Autos.

Neben dem Begriff der Mitte wurde in den letzten Jahren wieder die alte Platte vom Dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus aufgelegt. Vor allem New Labour spielte sie ständig ab, bis Eisenbahnunglücke, überfüllte Schulen und ein miserables Gesundheitswesen die englische Arbeiterpartei wieder auf den richtigen Weg zwangen. Sie entdeckte die Notwendigkeit von Staatseinnahmen und Staatsausgaben für das Allgemeinwohl und erhöhte die Steuern und Abgaben.Als ich auf Einladung des französischen Erziehungsministers Jack Lang die Stadt Blois an der Loire besuchte, traf ich in einem Restaurant den ehemaligen Schweizer Bundespräsidenten Flavio Cotti. Wir unterhielten uns über die Veränderungen der europäischen sozialdemokratischen Parteien. Am Ende zog er folgendes Resümee: »Am schlimmsten sind Sozialdemokraten, die keine mehr sind.« Ich konnte ihm nur noch zuprosten.

Auf der Heimfahrt dachte ich darüber nach, warum es in Europa auch keine wirklich konservativen oder christlichen Parteien mehr gibt. Die Anpassung an den Ökonomismus, der angeblich die einzige Antwort auf die Globalisierung ist, zerstörte die Wertorientierung der politischen Rechten genauso wie die der politischen Linken. Die Reduzierung des Lebens auf das Gesetz des Marktes ist das Gegenteil von Freiheit und lässt keinen Raum für Würde, Ehre, Opferbereitschaft, Treue und Nächstenliebe. An die Stelle dieser Werte traten die bekannten modischen Lehrformeln Modernisierung, Flexibilisierung und Deregulierung, die die Auflösung traditioneller Lebenswelten zur Folge hatten. Die Familie wird dem Dogma der Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitswelt geopfert. Die aus der Schöpfungsverantwortung abgeleitete Sorge für die Umwelt muss dem opportunistischen Feldgeschrei für billiges Benzin weichen. In der Debatte um die Stammzellenforschung fehlte das klare Bekenntnis zum christlichen Menschenbild. An seine Stelle trat die Befürchtung, man könne im internationalen biotechnischen Wettbewerb zurückfallen. Und das ehemalige Eintreten für Recht und Ordnung wich der zweifelhaften Forderung nach einer Amnestie für Steuersünder. Auch die konservativen und christlichen Parteien Europas stehen verloren in der Mitte herum.

Jungsozialisten, die sich mit der Rolle der Linken in der SPD beschäftigten, stellten unisono fest, die Linke sei tot. Den gleichaltrigen Aufsteigern in der SPD hielten sie vor, diese hätten nur noch ein einziges Projekt: sich selbst. Ich hätte mich nicht getraut, so etwas zu schreiben, weiß ich doch um die Egomanie und Selbstverliebtheit der Vorgängergenerationen. Dabei denke ich nicht nur an die eigene, der man fälschlicherweise den Ehrentitel Toskanafraktion verlieh. Wenn ich heute die von der Verantwortung zerfurchten Gesichter sehe, dann fällt mir vieles ein, aber nicht die sanfte Hügellandschaft zwischen Florenz und Pisa.

Bei der Beobachtung unserer Altvorderen lernte ich: Der Lackmustest auf die Glaubwürdigkeit eines linken Politikers ist der Umgang mit seiner Familie, seinen Freunden und mit den ihm anvertrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wer Solidarität predigt, die Gleichberechtigung der Frau in Beruf und Gesellschaft fordert, die eigenen Kinder aber nicht kennt und der Frau die Erziehung allein überlässt, ist unglaubwürdig. Wer Freundschaften nur pflegt, solange sie der eigenen Karriere nützen, ist bindungslos und einsam. Und wer das Personal von oben herab behandelt, hat in einer linken Partei nichts verloren.

Aber zurück zur Diskussion des sozialdemokratischen Nachwuchses. Die Beobachtung, dass sich gesellschaftlich einiges verändert hat und dass diese Veränderungen vor den Parteien nicht Halt gemacht haben, ist richtig. Nicht umsonst ist in den letzten Jahren von der »Ich-AG« die Rede. Der Spiegel konnte einen Titel mit Boris Becker gut verkaufen, auf dem ein einziges Wort stand: »Ich«. Das sind schlechte Zeiten für die Solidarität. Aber wie viel Zugeständnisse an den Zeitgeist und die herrschenden Eliten sind erlaubt? Wes Brot ich ess, des Lied ich sing, heißt es in einem Sprichwort.Damit nicht nur das Lied der Reichen gesungen wird, tritt die Linke für soziale Grundrechte ein. Soziale Sicherheit ist die Bedingung eines freien Lebens. Der im Zeitalter des Neoliberalismus geschmähte Sozialstaat ist die Voraussetzung einer wirklich demokratischen Gesellschaft. Er hilft, unwürdige Abhängigkeiten abzubauen. Ein Arbeitnehmer, der Kündigungsschutz und Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, muss im Betrieb nicht kuschen und den Vorgesetzen nach dem Mund reden.

Der Mensch lebt nicht nur vom Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt, lesen wir in der Bibel. Wer ist der Gott unserer Zeit und welche Wörter bietet er uns zur geistigen Nahrung an? Die Sprache formt die Gedanken, weil wir in vorgegebenen, uns vertrauten Begriffen zu denken gelernt haben. »Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt«, schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Immer neue Wörter entstehen und prägen das Denken auch in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen. Wenn die Linke nicht wachsam ist, hat sie schon verloren, einzig weil sie in der Sprache der Herrschenden denkt. Das ist eine entscheidende, bisher zu wenig beachtete Ursache für das Versagen der Linken in der Politik. Die tägliche Gehirnwäsche wird gar nicht bemerkt. Greifen wir mitten hinein. »Lohnzurückhaltung«, das Unwort der verteilungspolitischen Auseinandersetzung der letzten Jahre, ist keine Wortschöpfung der Arbeitnehmer. Der Begriff ist heute in aller Munde und wird in vielen tausend Wirtschaftskommentaren heruntergebetet. Warum gibt es das Wort »Gewinnzurückhaltung« nicht? Wenn sie einen Arbeitnehmer auf die Straße setzen, dann sprechen sie von »Freisetzung«. Ich habe oft vernommen, wie Gewerkschaftsfunktionäre dieses Wort gedankenlos nachplappern. Es klingt dann so, als entließe man den betroffenen Arbeitnehmer in die Freiheit. Deregulierung und Flexibilisierung? Es hieß doch immer, der Mensch braucht Regeln und einen festen Grund, um sein Leben zu gestalten.Wenn die Begriffe in der deutschen Sprache zu eindeutig sind, flüchtet man in Fremdwörter. Deregulierung und Flexibilisierung hört sich besser an, als keine Gesetze und keine geregelten Arbeitszeiten. »Du Protektionist« ist für die Neoliberalen aller Länder ein Schimpfwort. Die deutsche Übersetzung, du willst Schutzrechte für Menschen und Kulturen, klingt nicht wie ein Vorwurf, sondern wie ein Kompliment. Noch ausgeprägter ist das Unterfangen, die militärischen Intentionen mit Hilfe von Fremdwörtern zu verschleiern: »Intervention«, »Militäraktion« oder »Schlag gegen Serbien und den Irak« hört sich humaner an als »wir bringen Serben und Iraker um.« Der Mensch muss aus der Sprache des Militärs verschwinden. Unschuldige Kinder, Frauen und Männer, die Opfer der Bomben werden, nennt die Kriegspropaganda »Kollateralschäden«. Die Wörter dienen oft nicht nur zur Verschleierung der Gedanken, sondern zur Verzerrung der Wirklichkeit. Für die politischen Fehlentwicklungen der letzten Jahre war es entscheidend, dass die Linke sich ihren Reformbegriff klauen ließ. Unter Reform verstand man lange Jahre die Besserstellung des Volkes. Heute heißt Reform Abbau des Sozialstaates, Beseitigung von Arbeitnehmerrechten und Umverteilung von unten nach oben. Rentenreform, Steuerreform, Arbeitsmarktreform und Gesundheitsreform – das klingt so verführerisch, aber mittlerweile wissen die Menschen, dass sie bei solchen Ankündigungen den Geldbeutel zuhalten müssen.

Neben dem zentralen Anliegen der sozialen Gerechtigkeit ging es der Linken immer um die Demokratisierung der Macht und die Veränderung von Herrschaftsstrukturen.Als sie noch echten Kaisern und Königen gegenübertrat, brauchte das nicht erläutert zu werden. Aber längst gibt es neue Kaiser. Sie beherrschen die großen Finanzhäuser und multinationalen Konzerne, die in der Welt eine wichtigere Rolle spielen als viele Staaten. Vor diesen neuen Kaisern, die oft nackt sind und ohne Kleider dastehen, verharren die Mächtigen der Politik in unterwürfiger Demut.Manchmal stehen sie auch auf ihrer Spendenliste oder auf ihrer Gehaltsliste.Die Demokratisierung der Unternehmen und die Schutzrechte der Arbeitnehmer bleiben zentrale Anliegen der Linken, auch wenn der Zeitgeist dem entgegensteht. Mitbestimmung, Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung drücken nach Meinung der neoliberalen Glaubensgemeinde den Aktienkurs und halten angelsächsische Unternehmer davon ab, in Deutschland zu investieren.

Aber wo ist die Linke? Das werde ich oft mit aggressivem Unterton gefragt. Eine Antwort lautet: Am Beginn des Jahres 2002 versammelte sich die Rechte auf dem World Economic Forum in New York, während die Linke im brasilianischen Porto Alegre tagte. 3000 Führungskräfte aus aller Welt kamen in New York zusammen. Bis zu 25 000 Dollar Teilnahmegebühr wurden bezahlt. Das Motto der Tagung hieß: »Führungsstärke in ungewissen Zeiten«. Aber was wussten die dort Versammelten – verglichen mit den Kriegs- und Armutsflüchtlingen der Welt – von ungewissen Zeiten? In Porto Alegre sah man nicht die Reichen und Mächtigen, sondern Globalisierungskritiker, Gewerkschafter und Kirchenvertreter, kurz, Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit in der Welt engagieren. Ihr Motto hieß: »Eine andere Welt ist möglich.« Ihr Programm ist überzeugend. Sie fordern die Entschuldung der armen Länder, das Austrocknen der Steueroasen, die Bekämpfung der Steuerflucht, eine neue Weltfinanzarchitektur mit stabilen Wechselkursen und Kapitalverkehrskontrollen, die Demokratisierung der internationalen Organisationen, den Abbau der Agrarsubventionen, die Änderungen der Spielregeln des Welthandels, die Steigerung der Entwicklungshilfe und die Einführung einer Tobin-Steuer. Das sozialdemokratische Zeitalter kann nicht zu Ende gehen, weil die soziale Gerechtigkeit immer wieder durchgesetzt werden muss. Der Unterschied zu früher: Heute haben politische Antworten globale Dimensionen und können nur durch internationale Zusammenarbeit Wirklichkeit werden.

Wer der Linken das Totenglöckchen läutet, hat die Signale von Seattle bis Genua nicht verstanden. Auf den Verlust politischer Gestaltungsmöglichkeiten im nationalen Rahmen antwortet die Linke mit Vorschlägen zur politischen Steuerung auf übernationaler Ebene. Die Massenarbeitslosigkeit kann mit einer nationalstaatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik allein nicht mehr erfolgreich bekämpft werden. Der notwendige soziale und ökologische Umbau setzt internationale Reformen voraus. Die Vorschläge der Globalisierungskritiker liegen auf dem Tisch.Zur Realität können sie aber nur werden, wenn Europa zu einer gemeinsamen Politik findet, und wenn die einzige Führungsmacht der Welt, die Vereinigten Staaten, bereit ist, ihren Unilateralismus und ihren Anspruch auf Weltherrschaft aufzugeben. Die kritische Auseinandersetzung mit der amerikanischen Politik nach den Terroranschlägen in New York und Washington ist notwendig, um Konzepte und Handlungsoptionen für eine gerechtere Welt auszuloten.

In den Anschlägen vom 11.September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington sah ich anfangs ein Ereignis, das die Welt verändern würde. Nichts wird wieder so sein, wie es einmal war, lautete das allgemeine Urteil und ich stimmte dieser Einschätzung zu. Vielleicht kam darin auch die Angst vor weiteren Terroranschlägen zum Ausdruck. Sie konnten jeden treffen. Als die ersten Anthraxbakterien in der amerikanischen Post entdeckt wurden, öffnete ich meine Briefe etwas vorsichtiger. Man kann ja nie wissen. Aber im Lauf der Zeit kamen mir Zweifel, ob die Ereignisse in Amerika wirklich einen welthistorischen Einschnitt bedeuteten. Hatte sich tatsächlich etwas Neues ereignet, und was war das Besondere an den Terroranschlägen? Zum ersten Mal war die ganze Welt durch das Fernsehen Zeuge eines Massenmordes, der die Vereinigten Staaten bis ins Mark erschütterte. Aber auch in den Jahren davor gab es viele Kriege, in denen Millionen ihr Leben ließen. Täglich verhungern 30 000 Menschen, ohne dass die Welt etwas daran ändert. Für die Beurteilung der weltpolitischen Lage war die Reaktion der Vereinigten Staaten und der übrigen Länder auf die Anschläge wichtiger als das Ereignis selbst. In beeindruckender Weise wurde deutlich, welche Vormachtstellung die USA heute in der Welt haben. Diese historisch einmalige Machtfülle ist zum Problem für die Weltinnenpolitik geworden, weil die mächtigste Militär- und Wirtschaftsmacht der Welt auf das Recht des Stärkeren pocht. In vielfältiger Form sabotiert sie Vereinbarungen, die zu einer internationalen Rechtsordnung gehören.

Die viel beschworene Globalisierung ruft aber geradezu nach Regeln, an die sich alle halten müssen. Von dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau stammt der Gedanke: »Entre le faible et le fort c’est la liberté, qui opprime, et c’est la loi, qui libère«, zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit. Das ist, auf den Punkt gebracht, der Gegensatz zwischen neoliberalem Marktfundamentalismus und sozialdemokratischer Politik. Eine gerechtere Welt kann nicht allein auf den Interessen der Stärkeren aufgebaut werden.Vielmehr muss eine internationale Rechtsordnung, die eine neue Weltwirtschaftsordnung einschließt, die Schwachen vor den Starken schützen.

Die Mächtigen selbst sind sich oft über ihre Motive nicht im Klaren. Das gilt vor allem für »gods own country«. Die Politikerin und Kolumnistin Eleanor Roosevelt, Ehefrau des Präsidenten Franklin D. Roosevelt, meinte dazu: »Das ist … ein Wesenszug, den keine andere Nation in gleichem Maß aufweist wie wir – nämlich das Gefühl der Schmach und der fast kindischen Verletztheit, weil die übrige Welt nicht erkennt, dass wir nur die großzügigsten und besten Vorsätze hegen.« Unter dem Schock der Terroranschläge hieß es in Deutschland: Wir sind alle Amerikaner. Trauergottesdienste wurden mediengerecht veranstaltet. Aber es blieb ein fader Beigeschmack. Viele Menschen werden in der Welt Opfer von Gewalt und Terror, ohne dass bei uns getrauert wird. Ein Israeli kommentierte kurze Zeit später die Betroffenheit der US-Bürger nach den Ereignissen in New York und Washington wie folgt: »Jetzt erlebt ihr einmal, was bei uns Alltag ist.« Das Bekenntnis,»wir sind alle Amerikaner«, veranlasste mich nach der Bombardierung Kabuls im Freundeskreis zu sagen: »Wir sind alle Afghanen.« Die Reaktion war Heiterkeit, weil einige an die Hunderasse dachten. Nach Lachen war mir aber nicht zumute. Wenn ich nicht schlafen konnte, stellte ich mir vor, unter welchen Bedingungen afghanische Familien die Nacht verbrachten. Und ich malte mir aus, dass bald wieder von »Kollateralschäden« die Rede sein würde, weil unschuldige Menschen im Bombenhagel ums Leben gekommen waren. Wenn man weit weg und nicht betroffen ist, kann man mit den Schultern zucken und realpolitische Weisheiten von sich geben wie:Wo gehobelt wird, fallen Späne. Aber der Afghane, dessen Familie durch die amerikanischen Bomben umgebracht wurde – ich komme später darauf zurück – erlebt das anders. Es empörte mich auch zu sehen, wie der amerikanische Militärminister Donald Rumsfeld mit geschwellter Brust und dem zynischen Lachen des Siegers von den Erfolgen der amerikanischen Bomberflotte berichtete. Das waren tapfere Helden, die aus mehreren tausend Meter Höhe Bauernjungs, die nur mit Kalaschnikows bewaffnet waren, bombardierten, um sie aus ihren Schutzgräben und Verstecken zu verjagen. Rumsfeld erinnerte mich an den Nato-Sprecher Jamie Shea, der im Kosovokrieg auch dann charmant lächelte, wenn er vom Leid und Elend der Bombenopfer erzählte.

Viele in Deutschland scheuen vor einer schonungslosen Analyse der Vormachtstellung Amerikas und ihrer Folgen für die Welt zurück. Wer sucht nicht gerne Schutz bei dem Stärkeren? Aber es gibt noch eine andere Veranlagung in uns Menschen, die Gott sei Dank noch nicht abgestorben ist. Wir wollen den Schwächeren helfen.Und in der Welt gibt es mehr Schwache als Starke.Die Amerikanische Verfassung von 1776 gilt für die ganze Menschheit:»Wir halten es für selbstverständliche Wahrheiten, dass alle Menschen gleich geschaffen wurden, dass sie alle von ihrem Schöpfer mit gewissen unabdingbaren Rechten ausgestattet wurden und dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.«

Die militärisch gestützte Außenpolitik der einzig verbliebenen Supermacht dient dazu, die Profitinteressen der Finanzindustrie durchzusetzen, die Marktmacht der internationalen Konzerne auszuweiten und den reichen Nationen die Rohstoffe der armen Länder zu sichern. Schon 1991 hatte der Hardliner des Pentagons, Paul Wolfowitz, gefordert, die USA sollten jeden Industriestaat daran hindern, die Vormachtstellung Amerikas herauszufordern oder auch nur eine größere regionale oder globale Rolle zu spielen. Das ist das ungeschminkte Verlangen nach der Weltherrschaft. Jeder Versuch, die Hegemonie der USA irgendwo auf dem Erdball infrage zu stellen, soll unterdrückt werden.

Wie soll sich Deutschland in dieser Situation verhalten und welche Außenpolitik soll es angehen? Von der rot-grünen Koalition durfte man eine Fortsetzung der Friedens- und Entspannungspolitik Willy Brandts erwarten. Brandt setzte auf die nichtmilitärische Lösung von Konflikten und warb für internationale Abrüstung und Beschränkung der Waffenexporte. Der Friedensnobelpreisträger trat dafür ein, die Entwicklungshilfe für die armen Länder deutlich zu erhöhen. In den Programmdiskussionen der Sozialdemokratischen Partei befürwortete er die Stärkung der UNO und die Beachtung des internationalen Rechts. Seine Politik gründete auf den Ideen des Gewaltverzichts und der gemeinsamen Sicherheit.

Der außenpolitische Sündenfall der Regierung Schröder war der Kosovokrieg, bei dem auch die Nato auf das Recht des Stärkeren setzte. Es war ein großer historischer Fehler, die USA darin zu bestärken, das internationale Recht zu missachten.Und es war ein ebenso großes Versäumnis, die militärische Vorgehensweise der Supermacht nicht zu thematisieren. Meine in der letzten Kabinettssitzung, an der ich im März 1999 teilgenommen habe, wiederholt gestellte Frage »Kann mir jemand sagen, was in Jugoslawien militärisch unternommen werden soll?« wurde weder von Außenminister Fischer noch von Militärminister Scharping beantwortet. Wenn die US-Strategie – möglichst »keine eigenen Toten« – zum Sterben unschuldiger Zivilisten führt, dann darf sich Deutschland an dieser Art der Kriegführung nicht beteiligen. Der jugoslawische Staatspräsident Vojislav Kostunica klagte, die »humanen Bomben« der Nato hätten 1500 Zivilisten getötet, darunter 81 Kinder. Richtig wäre die Einrichtung von Schutzzonen gewesen, um das Leben der Zivilbevölkerung zu verteidigen. Obwohl viele gerade von der Regierung Schröder etwas anderes erhofften, stiegen die deutschen Waffenexporte. In Afghanistan versprach die Bundesregierung uneingeschränkte Solidarität auch dann noch, als die Fehler der Amerikaner und der UNO nicht mehr zu übersehen waren.Wenn die USA auf Terroranschläge mit Flächenbombardements und Streubomben antworten können, dann dürfen das die Inder auch in Pakistan, die Russen in Tschetschenien, die Israelis in Palästina und die Mazedonier gegen die UCK. So setzt man die Welt in Brand. Zweifellos steht es jedem Staat zu, sich gegen Terrorismus zu verteidigen.Dabei muss er sich aber bei der Wahl der Ziele und der Mittel an moralische und rechtliche Regeln halten. Die Schuldigen müssen einwandfrei festgestellt werden. Strafrechtliche Verantwortung ist immer eine personelle Angelegenheit. Sie kann nicht auf Nationen, Ethnien und Religionen, denen die Terroristen zufällig angehören, übertragen werden. Bei der Kriegführung und der Gefangenenbehandlung müssen alle Staaten, auch die USA, die Genfer Konventionen und das internationale Völkerrecht beachten.

Wie gerufen kam mir die Erklärung von Bürgerrechtlern der ehemaligen DDR zur Politik der rot-grünen Regierung, die ich auszugsweise zitiere: »Wir fühlen uns in wachsendem Maße ohnmächtig gegenüber wirtschaftlichen, militärischen und politischen Strukturen, die für Machtgewinn und Profit unsere Interessen in lebenswichtigen Fragen einfach ignorieren. Wir sind verblüfft und entsetzt, dass unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit mit höhnischem Gelächter und dem süffisanten Verweis auf den Rechtsstaat beantwortet wird. Wir sind entsetzt, wie selbstverständlich von hochrangigen Politikern gebilligt wird, dass die vermeintlichen Anstifter des Terroranschlags mit einer grotesk übermächtigen Militärmaschinerie umgelegt werden. Wir sind entsetzt, mit welcher Dumpfbackigkeit Gegnern des Kriegseinsatzes in Afghanistan entgegengehalten wird, dass Krieg gegen Terroristen helfen kann. Weshalb traut sich niemand an die Waffenhändler in den USA und in der Bundesrepublik heran? Wir haben einen Bundeskanzler satt, der um der Macht willen Abgeordnete dazu bringt, Ja zum Krieg zu sagen, wenn sie Nein meinen, und Nein zu sagen, wenn sie Ja meinen. Wir machen nicht mit, wenn Kriegseinsätze mit Worthülsen wie ›Verantwortung übernehmen‹, ›der neuen Rolle Deutschlands in der Welt‹, mit ›Politikfähigkeit‹ und ›der Durchsetzung der Rechte der Frauen‹ verharmlost werden. Wir verweigern uns diesem Krieg.«

Es war kaum zu verstehen, dass ausgerechnet die rot-grüne Koalition gegenüber den Amerikanern eine Servilität an den Tag legte, die mit dem Wort Renegatentum noch zurückhaltend beschrieben ist. Sowohl beim Kosovo- als auch beim Afghanistankrieg machten Schröder und Fischer einfach mit. Das internationale Recht wurde missachtet und Fragen zur Kriegsführung Washingtons – Streubomben, Flächenbombardements, Uranmunition – wurden nicht gestellt.Sich mit der mächtigsten Macht der Welt zu verbünden, ist im deutschen Interesse.Aber die moralische Versuchung besteht darin, zum bequemen Mitläufer zu werden und auch dann zu schweigen, wenn ein offenes Wort unter Partnern geboten ist. Als George W. Bush von der »Achse des Bösen« sprach – gemeint waren der Irak, der Iran und Nordkorea – und dem irakischen Diktator Saddam Hussein immer unverhohlener mit Krieg drohte, wurden in Europa kritische Stimmen laut. Konservative Politiker warnten vor dem rücksichtslosen amerikanischen Unilateralismus. Da wollte auch Außenminister Joschka Fischer nicht mehr zurückstehen und kritisierte zur Abwechslung mal wieder Amerika. Die Opposition warf ihm billigen Populismus vor, weil der Wiedereinzug der Grünen in den Bundestag nach aktuellen Umfragen gefährdet war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Bundesregierung immer erklärt, sie halte sich mit öffentlicher Kritik zurück, um Einfluss bei den amerikanischen Entscheidungen zu nehmen. Es war aber im Lauf der Zeit offenkundig geworden, dass die Mitsprache der Bundesregierung wie die der anderen Nato-Partner bei den Entscheidungen der Bush-Regierung gleich Null war. Die Kritik des Bundesaußenministers wirkte auch deshalb unglaubwürdig, weil in Kuwait deutsche ABC-Einheiten zusammen mit US-Soldaten eine Übung abhielten.Schröder erklärte dann, die Einheiten blieben bei einem Krieg der USA gegen den Irak auch dann in Kuwait, wenn der Angriff ohne einen Beschluss der UNO erfolge. Wie schon im Kosovo wollte der Kanzler auch dann mitmachen, unabhängig davon, ob das internationale Recht beachtet wird. Die Amerikaner ließen sich deshalb auch von Fischers doppelzüngiger Kritik nicht beeindrucken. Außenminister Colin Powell nannte sie lapidar »heiße Luft«.

Da Militärinterventionen in aller Welt zum selbstverständlichen Instrument der Politik geworden sind, nenne ich Verteidigungsminister »Militärminister«. Als ich vor Jahren einmal die bulgarische Hauptstadt Sofia besuchte, spazierte ich mit einem einheimischen Germanistikprofessor am Verteidigungsministerium vorbei. Er blieb stehen und sagte mir: »Hier beginnt die Lüge. In meiner Jugend stand über dem Portal des Gebäudes ›Kriegsministerium‹. Das war ehrlicher.«

In seiner Abschiedsrede von 1961 warnte der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower vor dem »militärisch-industriellen Komplex« seines Landes. Er bedrohe den Staat und richte sich gegen das Volk. An den Universitäten werde nicht mehr geforscht, sondern für die Rüstung gearbeitet. Eisenhower ahnte noch nicht, in welchem Umfang Ronald Reagan zwei Jahrzehnte später den Militäretat steigern würde. Und er konnte sich damals sicher nicht vorstellen, dass er im Zuge des Antiterrorfeldzuges des Präsidenten George W. Bush bis zum Jahr 2007 auf 451 Milliarden Dollar steigen soll. Das von Ozeanen und friedlichen Nachbarn umgebene Amerika mit 4,5 Prozent der Weltbevölkerung benötigt zu seiner »Verteidigung« mehr als 40 Prozent der Militärausgaben der gesamten Welt.

Die Wut wächst

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