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Moralität, Politik und Anarchismus
ОглавлениеVorlesung vom 15. November 1974
Ich möchte zunächst an unsere RAF-Diskussion anschließen, die ich zugegebenermaßen etwas erregt geführt habe, wodurch ich nicht zuletzt mich selbst blockiert habe. Ich glaube auch, dass die Argumente, die ich brachte, zwar nicht falsch, aber zum Teil etwas abstrakt waren, weshalb ich hier einmal den Zusammenhang zur Kantinterpretation herstellen möchte. Vor leichtfertigen Analogien und Parallelitäten muss ich dabei allerdings ausdrücklich warnen.
Es geht mir darum, einige Linien der deutschen Geistesgeschichte aufzuzeigen, Linien, die sich natürlich nicht nur in den Köpfen der betreffenden Theoretiker abgespielt haben, sondern die Ausdrucksformen eines bedeutenden Teils der deutschen Geschichte gewesen sind und zwar bis heute. Auch wenn der Versuch, etwas wie die Thematik konkreter politischer Gewalt auf der Ebene philosophischer Theorie zu rekonstruieren, zunächst etwas zweifelhaft sein mag, möchte ich hier zwei Linien verfolgen, die von brennender Aktualität sind: Zum einen möchte ich am Beispiel Kants und Hegels etwas über das Verhältnis von Moralität und Politik sagen. Zum anderen möchte ich mich dem Anarchismus zuwenden, weil mir inzwischen meine Aussage, die RAF sei anarchistisch, zum Teil unzutreffend erscheint.
Zunächst möchte ich daran erinnern, was wir im Zusammenhang mit der Französischen Revolution gesehen haben, dass nämlich für Kant die Revolution ein Umwälzungsprozess ohne materielles Subjekt ist. Er will die Umwälzung und ihre Folgen, und er will die Veränderung der Denkungsart als eine innerliche Form der Umwälzung, aber die materiellen Voraussetzungen dieser Umwälzungen möchte er nicht. Deshalb sagt er, die Revolution sei ein Fanal, ein Geschichtszeichen, an dem man sich orientieren könne und das man in Innerlichkeit umsetzen müsse, denn nur dann habe es revolutionäre Folgen. Die Revolution einfach auf der objektiven Ebene zu belassen, sei unmöglich, man müsse dieses Fanal, diesen Hinweis der Natur auf eine moralische Anlage der Menschen, so auffassen, dass gewissermaßen der Einzelne angesprochen und aufgefordert ist, sich selbst zu verändern. Wie es bei Rilke in »Archaïscher Torso Apollos« heißt: »Du musst dein Leben ändern«87 – eine Forderung insbesondere des deutschen Bildungsbürgertums.
Dieses Geschichtszeichen ist zwar nichts Realitätsloses, hat es doch ein empirisches Ereignis zum Ursprung, aber es ist in seiner Komplexität und Vermitteltheit nicht fassbar. Geschichtszeichen oder Hinweise der Natur sind etwas Anschaubares, etwas Sichtbares, etwas Wirkendes, auch kausal Wirkendes, aber eben gleichsam mit dem Verbot versehen, sich der gesamten materiellen Vermitteltheit der Vorgänge, die für dieses Geschichtszeichen stehen, zu bemächtigen. Das heißt, es ist der Versuch der Depotenzierung materieller Vorgänge. Revolution spielt sich im Geiste ab, und nur das führt langfristig zu einer wirklichen Veränderung der Verhältnisse. Revolution ist damit eine moralische Angelegenheit und nicht bloß eine Angelegenheit der Veränderung von Besitzverhältnissen oder des Umsturzes von Regierungen und so weiter. All das mag zwar damit verbunden sein, ist aber nicht die Substanz, nicht die Hauptsache von revolutionären Veränderungen.
Hier zeigt sich deutlich eine spezifische Bildungstradition: Was in Deutschland Geist hieß, ist buchstäblich nicht zu übersetzen, weder in die englische noch in die französische Sprache. Natürlich ist Geist nicht esprit und auch nicht reason. Herbert Marcuse (1898–1979) hat einmal bitter darüber geklagt, man könne in Amerika keine Übung über die »Phänomenologie des Geistes« abhalten, weil dieser Geistbegriff schlicht nicht übersetzbar sei. Schon der Werktitel bedeute eine unüberwindbare Barriere, vom Inhalt ganz zu schweigen.
Geist enthält in den Traditionen, die ich hier anspreche, noch die Totalität der Welt und der Gesellschaft und ist noch nicht vollständig verinnerlicht. Er wird, wie auch Georg Lukács meint, erst im Stadium der parasitären Innerlichkeit, nämlich im Spätkapitalismus, zu einer totalen Innerlichkeit und Verinnerlichung. Hier, wenigstens bei Hegel, breitet sich das, was Geist heißt, noch in der realen Geschichte aus. Aber ein Strukturelement ist schon bei Kant gesetzt und wiederholt sich dann in der gesamten deutschen Philosophie und Bildungstradition: dass nämlich eigentliche, geschichtlich wirksame Politik auf Bildung beruht und ein Problem der Moral sei. Das ist eine spezifische Moralisierung von Politik, und Sie kennen die entsprechenden Beispiele des 20. Juli, wo die Moralität und was damit zusammenhängt, praktisch alle politischen Probleme aufgezehrt hat, um die es dabei ging.
Die Moralisierung der Politik oder exakter ausgedrückt, die Transposition des Politischen in den Alltag, in zwischen Individuen sich abspielende gesellschaftliche Verhältnisse, in die Objektivität von moralischen Forderungen hat Kant in einem Anhang zu »Zum ewigen Frieden« thematisiert, in dem er sich über die Misshelligkeit zwischen Politik und Moral äußert. Dort heißt es, objektiv bestehe zwar kein Widerspruch zwischen Moral und Politik, subjektiv müsse er aber bestehen, weil der Widerspruch der »Wetzstein der Tugend«88 sei. Das heißt, diese Misshelligkeiten zwischen Moral und Politik bestehen objektiv nicht. Die Politik ist nämlich – und die Moral auf einer anderen Ebene genauso – für Kant angewandte Rechtslehre und damit eigentlich umgesetzte Vernunft. So lassen sich also gewisse politische Klugheitslehren verbinden, doch das macht noch nicht diesen etwas pathetisch gefassten Begriff der Politik als Umsetzung von allgemeinen Rechtsgesetzen in Realität aus. Es stellt sich hier vielmehr die Frage, inwieweit ein Zusammenhang zwischen dem Versuch, den revolutionären Prozess als einen objektiven, zwangsläufigen ohne handelndes Subjekt zu begreifen, und dieser Form von Einschmelzung von Moralität und Politik besteht.
Zunächst ist festzustellen, dass diese empirische Depotenzierung des Politikbegriffs auch damit zu tun hat, dass das als Souverän definierte Volk in der Tat nicht verbunden ist mit dem Begriff der Politik und des Politischen, sondern mit dem Begriff des Räsonnements. Kant bezieht sich dabei auf Friedrich II., der gesagt hat, das Volk könne nicht nur räsonieren, es solle sogar räsonieren, aber es solle auch gehorchen. Das ist preußische Aufklärung. Aus politischem Räsonnement ergibt sich aber keine Verbindlichkeit und auch nichts Allgemeines. Was Allgemeines ist, kommt demnach in der Politik immer von oben und ist selbst schon Ausdruck von Gesetzmäßigkeit, ein Allgemeines, das umgesetzt wird. Es ist ein äußerliches Allgemeines im Unterschied zur Moralität, dem innerlichen Allgemeinen.
Ich möchte diese Tendenz zur Verinnerlichung, die in der deutschen Geistesgeschichte als Prozess zu belegen ist, an der Dialektik entfalten, die sich bei Hegel auf einer bestimmten Stufe der Moralität als einer noch nicht zur Sittlichkeit gereiften Beziehung zwischen Individuen abspielt. Moralität erkennt Hegel als eine Form des abstrakten Geistes wie auch des abstrakten Rechts. Diese Begrifflichkeit, die Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« im Kapitel »Der sich entfremdete Geist« unter dem Abschnitt »Die absolute Freiheit und der Schrecken« entwickelt, ist ein Versuch, die Französische Revolution zu interpretieren. Ich möchte nun die Begriffe und die Dialektik, die Hegel hier entfaltet und die zunächst einmal schwer zu fassen sind, etwas genauer bezeichnen und verdeutlichen.
Es geht Hegel dabei um das Problem von Innerlichkeit schlechthin, um die Frage, was bedeutet diese Moralität, die bei Kant ein Allgemeines darstellt, ein allgemeines Gesetz mit der Handlungsmaxime: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als allgemeines Gesetz gelten könnte«. Nicht der Wille, sondern die Maxime, das subjektive Gesetz deines Willens soll so sein, dass es als allgemeines Gesetz verbindlich für alle Menschen gelten könnte, nicht aber gelten muss. Nun hat Kant dabei ganz die Subjektivität ausgespart, die Subjektivität in einem empirischen, zufälligen Sinne. Wie kommt der Mensch dazu, allgemein zu handeln, wo er doch ein Individuum ist mit bestimmten Neigungen und Vorstellungen? Diese Dialektik und den damit verbundenen Vermittlungsprozess entfaltet Hegel in einem Abschnitt, in dem er auch die Herr-Knecht-Dialektik noch einmal anführt.
Der Geist wäre aus diesem Tumulte zu seinem Ausgangspunkte, der sittlichen und realen Welt der Bildung, zurückgeschleudert, welche durch die Furcht des Herrn, die wieder in die Gemüter gekommen, nur erfrischt und verjüngt worden. Der Geist müßte diesen Kreislauf der Notwendigkeit von neuem durchlaufen und immer wiederholen, wenn nur die vollkommene Durchdringung des Selbstbewußtseins und der Substanz das Resultat wäre […]. Die Bildung, die es in der Wechselwirkung mit jenem Wesen erlangt, ist daher die erhabenste und letzte, seine reine einfache Wirklichkeit unmittelbar verschwinden und in das leere Nichts übergehen zu sehen.89
Hegel betrachtet die einzelnen Stufen der Philosophie als Ausdrucksformen realer Vorgänge und verbindet die abstrakte Moralität bei Kant mit jener Dialektik, in welcher der Knecht in Todesfurcht vor dem Herrn lebt und dadurch erst sein abstraktes Selbstbewusstsein gewinnt. Der Herr seinerseits erfährt nie selbst diese Bedrohung, sondern nur die Bedrohung des anderen als eine vermittelte Erfahrung, eine abstrakte, disponierende Erfahrung. Der Knecht hingegen erfährt die Bedrohung des Todes unmittelbar, ist gezwungen zu arbeiten, und das ist der Schritt hinaus aus seinem abstrakten Selbstbewusstsein. Er arbeitet sein abstraktes Selbstbewusstsein im Stoffwechsel mit der Natur ab, er agglomeriert Realität in sich mit dem abstrakten Selbstbewusstsein. Er hat also beides, während der Herr nicht arbeitet und so allmählich in der Geschichte die Substanz seines disponierenden Selbstbewusstseins verliert. Es ist der Feudalherr, den Hegel dabei im Auge hat, und dieser arbeitet sich nicht ins Allgemeine oder, anders ausgedrückt, seine Subjektivität vergegenständlicht sich nicht in der Objektivität, sondern bleibt abstraktes Subjekt. Mit anderen Worten: Er macht keine Erfahrungen und bleibt Disposition. Der Knecht aber, der Selbstbewusstsein gewonnen hat – das ist die Figur des Bourgeois, des Bürgers –, dieser Knecht arbeitet sich an der Natur und der Gesellschaft ab, objektiviert Innerlichkeit und nimmt Äußerlichkeit ins Innere auf. Er konkretisiert also das Allgemeine für sich selbst und subjektiviert die Realität, vergegenständlicht sein Selbst in den Objekten, die er anschauen kann. Hier ist die Dialektik von Selbstbewusstsein und Arbeit noch einmal aufgenommen und wird jetzt in Bezug auf revolutionäre Prozesse interpretiert: Was sich aufseiten des Bourgeois vollzogen hat, vollzieht sich nun aufseiten des Citoyen. Diese Stelle behandelt die Beziehung zwischen Selbstbewusstsein und Realität beim Citoyen.
Hegel sieht hier ganz klar, dass durch bloße Bildung, durch bloß anschauende Rezeption der Dinge, dieser Prozess der tödlichen Bedrohung und damit auch des Selbstbewusstseins nicht zustande kommen kann. Für Hegel wie für Kant steht fest, dass die Entfaltung der Menschen durch Gewalt erfolgt. Es hat geschichtlich keinen Sinn, dem Knecht äußerlich klar zu machen, dass er etwas ist, sondern er muss erfahren, dass er etwas ist, das man zerstören kann. Es sind praktische und geschichtliche Prozesse, die sich hier abspielen, allerdings transponiert in die Selbstbewegung des absoluten Geistes, der sich hier auf einer bestimmten Stufe befindet:
In der Welt der Bildung selbst kommt es nicht dazu, seine Negation oder Entfremdung in dieser Form der reinen Abstraktion anzuschauen; sondern seine Negation ist die erfüllte, entweder die Ehre oder der Reichtum, die es an die Stelle des Selbsts, dessen es sich entfremdete, gewinnt; – oder die Sprache des Geistes und der Einsicht, die das zerrissene Bewußtsein erlangt […]. Alle diese Bestimmungen sind in dem Verluste, den das Selbst in der absoluten Freiheit erfährt, verloren.90
Die absolute Freiheit ist die Kantische Stufe der geschichtlichen Entwicklung, denn Moralität kann nur aus absoluter Freiheit gesetzt werden. Das moralische Gesetz ist ein Produkt absoluter Freiheit. Für die Moralität gilt nichts anderes, kein Reichtum, keine Ehre, keine Bildung, keine Herkunft und so weiter. Die gesamte Statushierarchie fällt deshalb zusammen, weil Reichtum nicht konstituierend ist für das moralische Handeln, sondern allein das schlicht Allgemeine selbst. Insofern steckt wirklich ein bürgerlich-emanzipatives Moment in diesem Allgemeinen. Weiter sagt Hegel hier, diese äußerlichen Dinge fallen vom Menschen ab, der nur noch im Notstand, wenn sein Leben gefährdet ist, die Möglichkeit hat, unmoralisch zu handeln. So ist das jedenfalls bei Kant.
»[S]eine Negation ist der bedeutungslose Tod, der reine Schrecken des Negativen, das nichts Positives, nichts Erfüllendes in ihm hat.«91 Zunächst ist hier nur bezeichnet, dass die Negation von Realität nicht zum physischen Tod führen muss, sondern der Tod des Begriffs ist. Tod bezeichnet hier zunächst nur eine Abstraktion, in der kein Inhalt ist, in der alles Spezifische von außen wegfällt. Der Mensch ist reines Selbst, auf sich selbst reduziert. Sie müssen hier auf die Untertöne bei Hegel achten: Bei ihm ist das bürgerliche Individuum, das sich ganz auf sich stellt, todgeweiht. Hegel durchschaut hier sehr genau die gesellschaftliche Vermitteltheit und die Vergesellschaftungsprozesse, denen das Individuum auch schlicht im Sinne der Lebenserhaltung unterliegt. Bei Hegel heißt es weiter:
Zugleich aber ist diese Negation in ihrer Wirklichkeit nicht ein Fremdes, sie ist weder die allgemeine, Jenseits liegende Notwendigkeit [der Antike, des Schicksals, Anm. Negt], worin die sittliche Welt untergeht, noch der einzelne Zufall des eigenen Besitzes oder der Laune des Besitzenden, von dem das zerrissene Bewußtsein sich abhängig sieht, – sondern sie ist der allgemeine Wille, der in dieser seiner letzten Abstraktion nichts Positives hat und daher nichts für die Aufopferung zurückgeben kann; […].92
Dieser allgemeine Wille kann der Realität nichts zurückgeben, weil er aus der Negativität dieser Realität entspringt. Diese Verbindung von Freiheit und Willen, von absoluter Freiheit und reinem Willen, ist natürlich die Ausdrucksform der Kantischen Philosophie, die Ausdrucksform auch, darauf möchte ich Sie immer wieder lenken, der Depotenzierung vom empirischen Willen, von Willensverhältnissen und von Freiheit in konkreter Realität. Es ist eine Generalisierung des Willens. Der allgemeine Wille drückt die moralischen Gesetze aus, »aber eben darum ist er unvermittelt eins mit dem Selbstbewußtsein, oder er ist das rein Positive, weil er das rein Negative ist«.93
Das ist Hegel. Wie ist das zu deuten? Das Positive für das Individuum, der allgemeine Wille, ist seine Realität. Nichts weiter hat er. Die Behauptung dieses Willens ist der Erdenrest in diesem Willen und bedeutet damit, dass die Behauptung gleichzeitig der Aufhänger ist, an dem der Einzelne sich festhalten kann. Ein solcher Wille ist für den Betreffenden das absolut abstrakt Positive. Die reine Negativität des Selbstbewusstseins und Willens, das ist für den Einzelnen das einzig Positive, was er hat. Das ist gewissermaßen seine Identität, und nur daraus gewinnt er Identität. Käme auf dieser Stufe schon ein Stück Realität mit hinein, würde diese Identität zerfasern, und so ist gerade das Allgemeine für den Einzelnen das Positive, das sich noch nicht vermittelt hat mit der Realität. Die Dialektik dieser Verknüpfung von reiner Positivität des Willens und des Selbstbewusstseins und reiner Negativität, was die Reduktion von Erfahrung und Realität anbetrifft, will Hegel hier behandeln. Denn die sich darin abspielende Erfahrung des Begriffs und der Sache mit sich selbst ist für ihn ein dialektischer Prozess. Dialektik ist Erfahrung, soweit sie sich an Gegenständen und in den Begriffen, die diese Gegenstände fassen wollen, selbst vollzieht. Ich habe früher bereits gezeigt, dass Erfahrung bei Hegel unendlich differenzierter ist als jener etwas vergreiste Erfahrungsbegriff Poppers, bei dem nur eine Erfahrung gilt, nämlich die durch Methodologien abgesicherte. Alle anderen Erfahrungen gebe es natürlich auch, sie seien aber nicht Wissenschaft, was für Popper sehr viel bedeutet.94
Zurück zur eben zitierten Stelle bei Hegel, wo es weiter heißt: »[…] – aber eben darum ist er [der allgemeine Wille, Anm. Negt] unvermittelt eins mit dem Selbstbewußtsein, oder er ist das rein Positive, weil er das rein Negative ist; und der bedeutungslose Tod, die unerfüllte Negativität des Selbsts, schlägt im inneren Begriffe zur absoluten Positivität um.«95 Tod begegnet uns hier in einer doppelten Funktion: Für Hegel ist die Reduktion des Menschen von der Realität, die Vereinseitigung der Realitätswahrnehmung ein Moment des Todes. Abstraktion hat immer etwas mit Tod, Tötung, toter Arbeit zu tun. Abstraktion trennt etwas aus konkreten Zusammenhängen, isoliert etwas. Das Isolierte ist das Todgeweihte im Begriff wie in der Realität. Der abstrakte Rückzug von der Realität ist auch ein Moment der physischen Zerstörung und Aufzehrung. »Für das Bewußtsein verwandelt sich die unmittelbare Einheit seiner mit dem allgemeinen Willen«.96 Es ist nicht einfach die Beziehung auf einen Willen, sondern das absolute Selbstbewusstsein kann sich an einem Allgemeinen und Außenstehenden stabilisieren ohne die Vermittlung durch die Realität. Es gibt gewissermaßen einen heißen Draht zwischen dem abstrakten Selbstbewusstsein und der ganzen Menschheit, der sich im allgemeinen Willen ausdrückt. Das ist das befriedigende, das libidinöse Moment in dieser Abstraktion, dass hier also eine Kurzschaltung zwischen dem allgemeinen Willen und dem Selbstbewusstsein besteht.
»Für das Bewußtsein verwandelt sich die unmittelbare Einheit seiner mit dem allgemeinen Willen, sich als diesen bestimmten Punkt im allgemeinen Willen zu wissen«,97 also sich zu lokalisieren im allgemeinen Willen und im allgemeinen Gesetz. Das heißt, die Identität zwischen Allgemeinem und Besonderem ist nicht vermittelt, sondern es ist eine unmittelbare Identität, die es dem Einzelnen ermöglicht, sich in diesem allgemeinen Willen einen Platz zu sichern als Ausdrucksform dieses allgemeinen Willens: »Für das Bewußtsein verwandelt sich die unmittelbare Einheit seiner mit dem allgemeinen Willen, seine Forderung, sich als diesen bestimmten Punkt im allgemeinen Willen zu wissen, in die schlechthin entgegengesetzte Erfahrung um. Was ihm darin verschwindet, ist das abstrakte Sein oder die Unmittelbarkeit des substanzlosen Punkts«.98 Das Selbstbewusstsein hat nicht nur das Gefühl, die ganze Realität in sich zu haben, sondern noch viel mehr: die Gesetze darüber, wie die Realität aussehen soll. Der allgemeine Wille als gesetzgebendes Organ für diese Realität steckt in diesem Selbstbewusstsein mit drin. Das sich entwickelnde Selbstbewusstsein hat das Gefühl, mehr zu haben als die Realität, weil es den Anspruch an die Realität festhält. Es macht die entgegengesetzte Erfahrung: »und diese verschwundene Unmittelbarkeit ist der allgemeine Wille selbst«, die aufgehobene Unmittelbarkeit ist der allgemeine Wille selbst, »als welchen es sich nun weiß«. Es weiß sich nicht mehr als abstraktes Selbstbewusstsein, es weiß sich als allgemeinen Willen, als das, was es selbst nicht mehr ist und was es nicht mehr sein muss, weil es der allgemeine Wille ist, »insofern es aufgehobene Unmittelbarkeit, insofern es reines Wissen oder reiner Wille ist. Hierdurch weiß es ihn als sich selbst und sich als Wesen, aber nicht als das unmittelbar seiende Wesen, weder ihn als die revolutionäre Regierung oder als die die Anarchie zu konstituieren strebende Anarchie«.99 Das heißt, die Auflösung von äußerer Herrschaft kann von dieser Position aus nur zu einem Zustand führen, den Hegel als Anarchie bezeichnet. Der Anarchist kann nur Anarchie erzeugen, deshalb kann der allgemeine Wille in dieser abstrakten Form nur das erzeugen, was in ihm selbst steckt. So kann man das vielleicht verstehen.
Was passiert mit dem Einzelnen in dieser Situation, was geht in ihm vor mit so einer direkten Beziehung zum allgemeinen Willen?:
[…] der allgemeine Wille ist sein reines Wissen und Wollen, und es ist allgemeiner Wille, als dieses reine Wissen und Wollen. Es verliert darin nicht sich selbst, denn das reine Wissen und Wollen ist vielmehr es, als der atome Punkt des Bewußtseins. Es ist also die Wechselwirkung des reinen Wissens mit sich selbst; das reine Wissen als Wesen ist der allgemeine Wille; aber dieses Wesen ist schlechthin nur das reine Wissen. Das Selbstbewußtsein ist also das reine Wissen von dem Wesen als reinem Wissen. Es ferner als einzelnes Selbst ist nur die Form des Subjekts oder wirklichen Tuns, die von ihm als Form gewußt wird; […].100
Das ist der springende Punkt: Diese Subjekte vermitteln sich mit sich selbst, mit einem Allgemeinen, das sich als das Besondere ihres Allgemeinen herausstellt. Die Besonderung erweist sich darin, und die Vermittlungsprozesse, durch die sich das vollzieht, sind ihre eigenen, spielen sich in ihrer Innerlichkeit, in ihrer Subjektivität ab. Sofern der Einzelne wirklich handelt, wird das als Form gewusst. Das heißt, er handelt nicht als empirisches Individuum und wo er so handelt, begreift er das Handeln als Form, als immer schon Allgemeines, mit der absoluten Zumutung des Allgemeinen an jeden möglichen anderen: »[…] ebenso ist für es [das Selbstbewusstsein, Anm. Negt] die gegenständliche Wirklichkeit, das Sein, schlechthin selbstlose Form, denn sie wäre das nicht Gewußte; dies Wissen aber weiß das Wissen als das Wesen.«101
Das heißt, die gegenständliche Realität erscheint als die schlechthin selbstlose Form, als jene Form, in die man beliebige Inhalte einbringen kann. Die Realität wird selbst zur Form in dem Maße, wie das Individuum formale, allgemeine Tätigkeit wird. Sie wird zu einem undifferenzierten Ganzen, zu einer bloßen Form von Aktivität des Allgemeinen. Und in der Tat ist es für diese Form auch völlig gleichgültig, an welchem Punkte man ansetzt und ob man überhaupt etwas Konkretes von ihr weiß. Das ist gleichgültig, wenn man nur die Realität als das schlechthin andere des Allgemeinen begreift. Das ist der wichtigste Punkt der Fixierung des anderen. Es ist ein selbstloses Sein. Auch hier die Ambivalenz des Begriffes. Warum ein selbstloses Sein? Es bringt keinen Widerstand auf. Es ist ein selbstvergessenes Sein. Es gibt niemanden, der in diesem Sein tatsächlich Widerstand leistet, sondern es ist als Allgemeines subjektlos, wie es der Kantische Revolutionsbegriff ist. Es hat keine Subjekte, die handeln und ihm Widerstand leisten.
Was ist die Folge von dieser Abstraktion? Hegel versucht hier, diese Unvermitteltheit aufzuzeigen am Problem des Terrors während der Jakobinerherrschaft. Dieser allgemeine Wille ist die jakobinische Form der Realitätsbeziehung und ist eine bürgerliche Form geblieben. Die Individuen lassen die Realität, so wie sie ist, genau durch die Absolutheit dieses Anspruchs. Durch die Moralität bleibt die Realität das, was sie ist. Dieser Anspruch, dass eine Identität zwischen Allgemeinem und Besonderem immer schon besteht und nicht erst hergestellt werden muss, macht es möglich, dass man die Realität so lässt, wie sie ist. »Das Verhältnis also dieser beiden, da sie unteilbar absolut für sich sind und also keinen Teil in die Mitte schicken können, wodurch sie sich verknüpften, ist die ganz unvermittelte reine Negation, und zwar die Negation des Einzelnen als Seienden in dem Allgemeinen.«102 Und jetzt kommt die Konsequenz von Hegel, die wirklich bestürzend ist: »Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat; denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolut freien Selbsts; er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers.«103
Diese Dialektik der Gewalt, die verknüpft ist mit dem allgemeinen Willen und der Transposition des Selbst in diesen allgemeinen Willen und mit einer unvermittelten Stellung zur Realität, lässt nur eine Selbstbehauptung des Einzelnen zu, die völlig unangesehen konkreter Vermittlungen gleichzeitig auch das Risiko des Todes einschließt. Das ist ein Grundmotiv bürgerlichen Denkens und der deutschen Geschichte.
Meine Schlussfolgerung aus dem Ganzen ist, dass jene, und ich beziehe mich hier gar nicht nur auf die RAF, die dieser Dialektik von gegenseitiger Abstraktion unterliegen – von Selbstbehauptung des Willens, Moralität und dem Einsatz der lutherischen Form, »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« –, dass jene diese Dialektik nur mit der Realität erfahren, die sich in ihnen selbst abspielt, wenn diese Realität nichts dazwischen schickt, wenn die Vermitteltheit nicht gesichert ist.
Das heißt allerdings auch, dass man sich die Realität, in der man handelt, nicht aussuchen kann. Diese erfahrende Dialektik ist, glaube ich, ein wesentliches Element für das Verständnis des absoluten Unterschieds zwischen bürgerlicher und revolutionärer Gewalt. Denn die revolutionäre Gewalt besteht in der Tat darin, diese Vermittlungsebenen zwischen Individuum und Gesellschaft bis aufs Äußerste durchzuführen. Das ist gewissermaßen revolutionäre Gewalt: das Begreifen des gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhangs als eines Ganzen, wobei das Moment von Moral und politischer Moral in allen diesen Ebenen mitenthalten sein muss, weil keine Vermittlung ohne Unmittelbarkeit stattfindet. Das bedeutet auch, wenn ich das auf die Protestbewegung beziehe, dass diese unter anderem dadurch große Bedeutung gehabt hat, weil sie die von Liberalen und anderen angebotenen und angepriesenen Vermittlungen nicht beachtet hat, dass folglich der Schritt, den man politisch tut, nicht immer die Kalkulation aller Vermittlung enthalten muss, sonst würde keine politische Aktion zustande kommen. Dieses Moment von Unmittelbarkeit bezeichnet Dialektik genauso wie das Moment der Vermittlung. Wo eins vom anderen abgetrennt ist, wo Gewalt sich auf Unmittelbarkeit reduziert, wird sie zum Bestandteil des bestehenden Systems, genauso wie bei jenen, die glauben, man müsse sämtliche analytischen und praktischen Vermittlungsschritte erst vollzogen haben, um einen einzigen politischen Schritt zu tun. Ich sage: Beides sind Abstraktionen. Es gilt nicht so sehr, für die eine oder andere Seite zu plädieren.
Diesen dialektischen Gewaltbegriff finden wir bei Lenin, Luxemburg, Marx und bei Mao Tse-tung im Besonderen. Ich möchte das an einem Beispiel aus der chinesischen Geschichte des Langen Marsches erläutern. So war es in der ersten Phase keineswegs so, dass die Truppen der Roten Armee, die ein Dorf okkupierten, zu requirieren, wenn nicht zu plündern verzichtet hätten. Das heißt die Rote Armee trat hier als revolutionäre Gewalt auf, auch wenn das bedeutet, revolutionäre Gewalt auf das zu beschränken, was personell identifizierbar ist. Mao Tse-tung hingegen hat in den verschiedenen Analysen der Klassenverhältnisse Chinas darauf gedrungen, dass alles bezahlt werde und dass es dabei völlig gleichgültig sei, ob es einen konterrevolutionären Bauern trifft oder nicht, sondern das zunächst einmal Vertrauensverhältnisse hergestellt werden müssen, die durch die Unmittelbarkeit und die Demonstration revolutionärer Gewalt als Geschichtszeichen nicht herzustellen sind.
Nicht durch die Fanale ist die Revolution zustande gekommen, sondern durch die auf konkrete, entfremdete Bedürfnisse der Bauern eingehende revolutionäre Gewalt, durch den Prozess der Selbstveränderung im kollektiven Sinne, während die Geschichtszeichen Metaphysik sind und eine Veränderung nur im individuellen Sinn beanspruchen und zulassen. Der Individualismus, der in dieser Fanal-Metapyhsik, in dieser Zeichen-Metaphysik steckt, ist genau das, was die bürgerliche Gesellschaft in ihrem abstrakten Gewaltbegriff auszeichnet, während die revolutionäre Gewalt in dem Sinne tatsächlich darauf angewiesen ist, Bedingungen herzustellen, unter denen die Individuen mehr oder weniger zwanglos in den Prozess der Revolutionierung der Verhältnisse einbezogen werden.
Eine Form der Gewalt, das ist mein Hauptargument, die sich nicht in dieser Weise gesamtgesellschaftlich vermittelt und wie sie in Deutschland zudem verbunden mit Innerlichkeit und Moralität auftritt, ist ein Stück bürgerlicher Gewalt und bürgerlicher Geschichte. Diese Gewalt ist von den Betreffenden nicht gewollt, sondern ein Stück deutscher Geschichte, die eigentlich nur Restauration kennt, wie Marx einmal gesagt hat, und nicht die Revolution der westlichen Länder.104 Das hat im kollektiven Unbewussten auch das Moment der Moralisierung von Politik verankert, was unverändert bis in die Linke hineinwirkt.
Aber nehmen wir erneut diese Konnotation, diese Assoziation mit dem Anarchismus auf. Im letzten Satz der »Anthropologie« definiert Kant Anarchie, wie wir gesehen haben, als »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt«. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass das zunächst eine sehr bemerkenswerte Definition ist, die gängigen Vorstellungen gerade einer Verbindung von Anarchie und Gewalt widerspricht. Aber hier gilt es doch geschichtlich zu differenzieren, um den Anarchismusbegriff nicht auf diese verbreiteten Vorstellungen zu beschränken.
Man kann sagen, in fast allen bürgerlichen und nachbürgerlichen Klassen ist der Vorwurf des Anarchismus zunächst immer einer, der die Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse bestätigt, also ein Indiz dafür, dass die Inhalte, die im Anarchismus mitgedacht wurden, nicht realisiert sind. Er belegt ein Bedürfnis der bestehenden Systeme, möglichst viele Gruppierungen als anarchistisch zu bezichtigen. Der Vorwurf wurde beim Aufstand von Kronstadt (1921) erhoben, gegenüber der Münchener Räterepublik, gegenüber den spanischen Anarcho-Syndikalisten – und nicht zuletzt von Marx, der mit den Anarchisten geradezu eine Privatfehde in äußerster Verbitterung und Verbissenheit geführt hat, die unter seiner Würde war.
Warum hat Marx diesen Kampf geführt? Zunächst hat er festgehalten, dass die Ziele des Anarchismus, die Aufhebung des staatlichen Zwangs, identisch sind mit jenen des Marxismus und der Kritik der politischen Ökonomie. Marx hat nie bestritten, dass die Anarchisten Ziele verfolgen, die mit den seinigen im Großen und Ganzen übereinstimmen. Er hat ihnen aber jenen Vorwurf gemacht, der seitdem in der Luft schwebt, dass sie diese Ziele mit völlig unvermittelten, inadäquaten Mitteln erreichen wollen und, was noch schwererwiegender ist, mit Zeitvorstellungen, die den langwierigen Prozessen nicht gerecht werden.
Als Anarchisten werden hier also diejenigen bezeichnet, die übereilt revolutionäre Prozesse in Gang bringen wollen, um ein sehr kompliziertes und komplexes Herrschaftssystem zu beseitigen. Aus diesen Gründen erblickte Marx in ›den Anarchisten‹ buchstäblich die größte Gefährdung für den Marxismus. Dabei sind Anarchisten in dieser Weise gar nicht auf einen Nenner zu bringen und schon gar nicht auf einen Punkt zu reduzieren, etwa mit der Feststellung, Bakunin habe in Genf bei Uhrenmachern, also bei Kleinbürgern gearbeitet und auch Proudhon habe sich wesentlich auf sie gestützt. Die klassentheoretische Zuordnung des Anarchismus ist äußerst schwierig, auch wenn ein soziologisches Element durchgehend in den verschiedenen Formen des Anarchismus zu finden ist. So spielen vorbürgerliche handwerkliche oder bäuerliche Produktionsweisen, Produktionsweisen also, die noch nicht industriell durchrationalisiert sind, in allen Formen des Anarchismus eine konstitutive Rolle. Ich will dafür einzelne Beispiele aufgreifen.
Natürlich war Michail Bakunin (1814–1876) ein revolutionärer Scharlatan. Er war buchstäblich bei allen Revolutionen gegenwärtig, die damals irgendwo in Europa abliefen, und der Auffassung, Wesentliches zu ihrem Gelingen beitragen zu können. Tatsächlich sind sie aber, wenn auch nicht durch sein Zutun, meist gescheitert, was auch er nicht verhindern konnte. Schon über Bakunins Mobilität haben sich Marx und Engels aufgeregt, die zeit ihres Lebens an einem Platz der Welt festgenagelt waren, Marx noch dazu in einem Museum.105 Das ist nur eine lustige Anekdote, aber wer einmal den Briefwechsel verfolgt, kann nicht übersehen, dass solche subjektiven Momente eine Rolle spielen. Bakunin hatte etwas Zigeunerhaftes an sich, während Sesshaftigkeit gewissermaßen die Definition für die Arbeitsmoral von Marx war, der am »Kapital« förmlich klebte und nicht weiterkam. Diese Form der Sesshaftigkeit, des Beständigen und dessen, was Geltung hat und lange dauert, was mit Schweiß erworben ist, alle diese Momente spielen im privaten Briefwechsel von Marx eine Rolle, und im Grunde ist das die Produktionsweise eines bürgerlichen Gelehrten, der sich bis zum Tode in seinen Ideen aufzehrt. Tatsächlich war Marx auch durchaus darauf bedacht, als Bürger zu gelten. Ich möchte das mit einer weiteren Anekdote illustrieren. Als eine seiner Töchter heiraten wollte, setzte sich Marx hin und fragte denjenigen, der um ihre Hand anhielt: »Sie wollen meine Tochter heiraten, wie ich erfahre. Was haben Sie denn anzubieten, was haben Sie für Besitz, haben Sie geregeltes Einkommen?«106
Doch auch von solchen persönlichen Momenten abgesehen haben die Hektik, die Unbeständigkeit, das Zigeunerhafte, der Dilettantismus, der sich darin ausdrückte, dass Anarchisten innerhalb von zwei Tagen fertige Programme produzierten für irgendeine Bewegung, die im Gange war oder in Gang gesetzt werden sollte, diese Schnelligkeit, mit der sie auf Situationen reagierten, haben bei Marx und Engels größte Vorbehalte hervorgerufen.
Was jedoch inhaltlich als Anarchismus verstanden wurde, ist sehr verschieden. Zum Beispiel war bei Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865), der als Anarchist bezeichnet wird, die Wohnungsfrage, welche die Arbeiter tatsächlich berührte, entscheidend. Alle Auseinandersetzungen mit Proudhon, abgesehen von Marx’ »Misère de la Philosophie« (1847), drehen sich um diese Wohnungsfrage. Mit welcher Intensität sich auch Marx und Engels mit diesem Problem beschäftigt haben, ist kaum nachvollziehbar, wobei das Argument von Engels war, man könne das Wohnungsproblem erst lösen, wenn das Kapitalverhältnis abgeschafft ist.107 Das konnten die Arbeiter natürlich nicht verstehen, weil die Lösung der Wohnungsprobleme viel zu dringend gewesen ist und hier unmittelbare Interessen angesprochen und mobilisiert wurden. Proudhons Verbreitung bei den Massen beruhte darauf, dass er die Massen nicht auf eine radikale Wendung ihres Schicksals vertröstete, sondern ihnen konkrete Schritte anbot.
Hier ist schon zu sehen, dass Anarchisten nicht immer nur im Sinn hatten, was Marx ihnen vorwarf, den Staat mit einem Schlag zu beseitigen, sondern als Anarchismus wurde auch bezeichnet, was Alltagsvermittlungen anbot wie der Proudhon’sche Versuch, die Wohnungsfrage zu lösen. Dieser Versuch war ganz zweifellos eine Illusion, aber er hatte in der europäischen Arbeiterschaft bedeutende Wirkung entfaltet.
Ein zweiter Punkt ist, dass die Anarchisten durchgängig vorgeschlagen haben, bestimmte korporative und kooperative Selbstregulierungsformen nicht erst nach der Beseitigung des Kapitalverhältnisses zu entwickeln, Produktivgenossenschaften etwa, die bereits in dieser Gesellschaft auf die neue Gesellschaft vorbereiten sollten. Des Weiteren haben die Anarchisten die Kommunalisierung gefördert, die Dezentralisierung der Selbstregulierung, was im Übrigen im spanischen Anarcho-Syndikalismus Realität wurde. Nicht der Staat soll demnach alles in der neuen Gesellschaft lösen, sondern die Kommunen. Der föderalistische Gedanke, die föderative Struktur relativ autonomer Kommunen im Sinne selbstverwalteter Einheiten, spielt auch bei Proudhon eine große Rolle.
Ein weiteres Element dringt in diesen Anarchismus ein, das vielleicht nicht von Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921) stammt, aber dort wie in der russischen Geschichte und auch bei Lew Tolstoi (1828–1910) eine große Rolle gespielt hat: die Assimilierung, die Transposition christlicher Nächstenliebe in das, was bei Proudhon Mutualismus heißt, Gegenseitigkeit oder brüderliche Hilfe. Diese Verbindung von humanitärer Weltanschauung und Christentum, auch von deutschem Idealismus und Christentum, findet sich dann auch in Formen des Anarchismus wieder, etwa bei Gustav Landauer (1870–1919), einem der Rätesozialisten. Er gehört zu denjenigen, die glauben, dass ein Stück Selbstbildung, Selbstorganisation und Selbstregulierung notwendig ist für die Beseitigung von Herrschaft – und zwar schon in dieser Gesellschaft. Das ist zwingend aus der Perspektive zu sehen, dass die Anarchisten nichts vertagen wollten, sondern es unter den Bedingungen realisieren und durchsetzen wollten, die existieren. In Landauers Begriff von Anarchismus, von Herrschaftslosigkeit, von Vertrauen auf die autonome Selbstregulierung der gesellschaftlichen Kräfte in überschaubaren Zusammenhängen ist der Humanismus fast schon penetrant. Schließlich ist im Rätegedanken selbst etwas von anarchistischen Vorstellungen eingegangen. Zumindest lässt sich sagen, dass sich eine bestimmte, subversive Komponente innerhalb des orthodoxen Marxismus der II. und der III. Internationale im Zusammenhang solcher anarchistischen Ideen und des Vorschlags von Selbstverwaltungsorganen, von Räten, herausgebildet hat. Es ist erstaunlich, dass gerade in den Bruchstellen des Übergangs von der II. zur III. Internationale – als die II. noch kritisiert wird, die III. sich aber noch nicht verfestigt hat – ein Werk wie Lenins »Staat und Revolution« (1917) entstehen konnte. Ich kann nur empfehlen, das fünfte Kapitel über die ökonomischen Bedingungen für das Absterben des Staates zu lesen. Hier wird von Lenin selbst eine Tradition eingebracht, die heute völlig vergessen ist, allerdings anti-anarchistisch gewendet, weil die Anarchisten eben doch von einer Abschaffung oder Zerschlagung des Staates gesprochen haben. Das Absterben des Staates ist bei Lenin hingegen ein langwieriger, fast organischer Prozess, aber die Bedingungen dieses Absterbens bestehen darin, dass sich so etwas wie Selbstverwaltung zur Gewohnheitsregel der Menschen ausbildet. Lenin spricht wörtlich davon, dass die Zeit kommen muss und kommen wird, wo die Regierung und die Selbstverwaltung der Dinge für jeden zu einer solchen Selbstverständlichkeit werden, dass keine gesonderte Gewalt über den Individuen notwendig ist. In dieser Lenin’schen Rätekonzeption fanden sich auch die späteren Rätesozialisten wieder wie zum Beispiel Erich Mühsam (1978–1934). Sie verbindet den Anarchismus mit einem Stück Leninismus, womit sich zwei Traditionen treffen, die vorher völlig auseinanderfielen.
Ich möchte hier nur noch erwähnen, dass Franz Mehring (1846–1919), der eine Geschichte der Sozialdemokratie und auch der Entwicklung des Marx’schen Denkens geschrieben hat,108 als einer von wenigen versucht hat, diesen Streit zwischen Marx und den Anarchisten auf Persönlichkeitsstrukturen zurückzuführen, also auf den Anspruch von Marx, innerhalb der weltweiten Linken das Interpretationsmonopol innezuhaben. Mehring sieht darin auch ein psychologisches Problem und weist das relative Recht des Anarchismus im Marxismus nach. Böse Zungen gehen sogar so weit, zu behaupten, Marx habe eine Reihe von wichtigen Gedanken aus dem Anarchismus übernommen. Das glaube ich nicht. Aber es hat sich in der politischen Geschichte selbst etwas wie eine ewige Wiederkehr des Anarchismus gezeigt, worauf noch einzugehen sein wird.
Worauf ich hier hinauswill, ist der im Anarchismus enthaltene Populismus, seine Ausrichtung auf das Volk. Das Volk ist Adressat seiner Ideen, ob es sich um die Gewaltsamkeit der russischen Anarchisten oder die Gewaltlosigkeit von Landauer handelt. Davon abgesehen, haben wir es dabei aber mit völlig verschiedenen Phänomenen zu tun. Die praktizierenden Anarchisten in Russland warfen Bomben und zwar in der richtigen Erwartung, sogar Engels hat das bestätigt, dass in einem despotischen System, wo sich das Wertgesetz noch nicht entfaltet hat, also ein gesellschaftlicher Zusammenhang durch Personen gestiftet wird, der Wegfall eben dieser Personen eine erhebliche Wirkung entfaltet. Die Personalisierung der Gewalt und der Objekte, die Gegenstand dieser Gewalt sind, sind aufeinander angewiesen. In bestimmten Phasen der Russischen Revolution ging das so weit, dass Engels sagte, vielleicht könnte der Blanquismus in Russland – von Anarchisten zu sprechen, wagte er nicht – wirkungsvoll sein: wenn also eine Handvoll Leute die Lunte an das Pulverfass hält, damit es zur Explosion kommt.109 Die explosive, widersprüchliche Lage verschiedener Produktionsweisen mit einer despotischen Struktur eröffnet individuellem Terror eine Möglichkeit, weil Einzelpersonen, die verschwinden, nicht völlig ersetzbar sind: Die akkumulierte Legitimation eines Potentaten ist in solchen Systemen nicht einfach ersetzbar. Es sind zwar Nachfolgeverhältnisse gesichert, aber das ersetzt nicht diese Legitimation. Insofern hatte natürlich der Anarchismus hier auch seinen Gegenstand und seine Berechtigung.
Der Anarchismus Gustav Landauers ist hingegen ein pazifistischer Anarchismus. Im Übrigen ist es eine der Katastrophen des Anarcho-Syndikalismus in Spanien, dass sie als kommunale Pazifisten bewaffnet gekämpft haben. Die Bauern haben noch aus ihren Lastwagen Panzer gemacht. Da war Phantasie am Werk. Doch als das von oben, von Juan Negrin (1892–1956) diktiert wurde, verloren sie ihre Phantasie und ihre Lust zu kämpfen. Hier sind ganz andere Formen des Anarchismus assimiliert, und natürlich noch ganz andere bei Sorel und anderen. Ich wollte einmal zeigen, dass der Begriff ›Anarchismus‹ nur in einem Punkt Identität herstellt, nämlich was die Produktion des Herrschaftssystems selbst anbetrifft. Da gibt es identische Elemente, insofern, dass alles das als anarchistisch bezeichnet wird, was in irgendeiner Weise dieses Herrschaftssystem infrage stellt. Aber diese Identifikation des Anarchismus hat mit seiner geschichtlichen Gestalt außerordentlich wenig zu tun.