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Bildung, Abstraktion und Breitseite der Gewalt
ОглавлениеVorlesung vom 21. November 1974
Die Veranstaltung begann mit einer viertelstündigen studentischen Diskussion über die Arbeitsbedingungen studentischer Tutoren und einen Streik von Studierenden der Germanistik. Hierauf beziehen sich auch die einleitenden Ausführungen von Negt, die sein eigenes Verständnis von dem, was seine Vorlesungen sein sollen, besonders deutlich machen.
Es ist ganz klar, dass in diese Universität gesellschaftliche Konflikte hineinspielen, deren Höhepunkt noch nicht erreicht ist, sondern die sich ungeheuer verschärfen werden. Daneben einen ruhigen Lehrbetrieb aufbauen zu wollen, halte ich für illusionär und ausgeschlossen und auch für fatal für die ablaufenden Bildungsprozesse. Ich glaube nicht, dass man neben diesem explosiven Potenzial, das an der Universität existiert und immer noch verstärkt wird, einfach einen normalen Betrieb aufrechterhalten kann.
Zudem führt der Numerus clausus zu zunehmender Konkurrenz zwischen den Betreffenden, schon bevor sie an die Universität kommen. Das heißt, hier sind auch charakterlich Momente im Spiel, mit denen wir eines Tages rechnen müssen. Die Leute werden wirklich nicht mehr kollektiv arbeiten wollen, sondern ihre Sozialisationsprozesse aus der Schule und ihre entsprechenden Verkümmerungen fortsetzen. Das Potenzial wird sich also verändern, nicht zuletzt durch den absurden Widerspruch eines erleichterten Zugangs zur Universität durch die Immaturenprüfung hier in Niedersachsen einerseits und der ständigen Einschränkung dieser Zugangsmöglichkeiten durch den Numerus clausus andererseits. Ich weiß gar nicht, wo da etwas wie Rationalität, technische Rationalität drinsteckt. Entsprechend werden sich die Explosionen vergrößern.
Dennoch wäre es falsch und ganz fatal, wenn wir nicht versuchen wollten, aus diesem Zusammenhang heraus doch noch Bildungsprozesse zu organisieren, die allerdings auch darauf beruhen, streckenweise tatsächlich Reflexionsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur Theoriebildung, für die Entfaltung eines Theoriebewusstseins zu schaffen. Von Standards will ich gar nicht reden, was eine mir widerliche Verkümmerung des Theorieanspruchs wäre. Es werden hier nicht Standards produziert, sondern ich versuche nichts weiter, als die Tatsache zu verdeutlichen, dass man für Einzelinterpretationen in der Germanistik wie für Forschung in der empirischen Sozialforschung, um Phänomene zu verstehen, Theorie braucht. Das ist unabdingbar. Man kann darauf nicht verzichten und sagen, wir gehen unmittelbar auf die Phänomene zu, denn ohne Theorie gehen wir den Phänomenen auf den Leim. Das können wir natürlich machen, eine Form von Unmittelbarkeit institutionalisieren, das aber führt auch zur völligen Destruktion aller Möglichkeiten von Bildungsprozessen. Was ich hier mache, ist nichts weiter, als eine als sträflich vernachlässigt betrachtete Tradition der Theorie aufzuarbeiten, und ich kann mir durchaus vorstellen, dass das in anderen Disziplinen genauso relevant ist, denn der Theorieüberhang ist nicht so groß, dass man auf ihn verzichten könnte. Vielmehr ist der Theoriemangel derart eklatant, dass beispielsweise Leute in der Germanistik nicht mehr wissen, wie sie ein Gedicht interpretieren sollen, weil sie keine ästhetische Theorie im Kopf haben – und dabei wäre es immer noch besser, eine falsche zu haben als gar keine. An der falschen kann man immerhin das Einzelne nachprüfen.
Die Theorielosigkeit aber ist ein ungeheurer Mangel – auch in der Linken, das ist überhaupt nicht zu bestreiten –, und dieser Theoriemangel ist eine ungeheure Schwierigkeit für alle langfristigen studentischen Bildungsprozesse. Theoriearbeit hat aber eine bestimmte Zeitstruktur: Man kann nicht über Kant diskutieren, wenn man nicht wenigstens vier Wochen etwas über ihn gehört hat. Es ist völlig ausgeschlossen, das muss Unsinn werden. Es lässt sich nicht aus dem hohlen Bauch heraus über den Kategorischen Imperativ diskutieren, den ich hiermit im Übrigen zum ersten Mal erwähne, wie mir auffällt. Man kann darüber nicht diskutieren, wenn man nicht weiß, was es ist, und wenn man weiß, was es ist, weiß man noch lange nicht, was es bedeutet. Erst wenn man mit Begriffen umgehen kann, kann man eines Tages auch wirklich ihren Zusammenhang diskutieren. Das ist genauso mit Dialektik. Die Dialektik aber ist derart auf den Hund gekommen in der Universität, das ist unbeschreiblich.
Das ist die gleiche Situation wie 1850, als Hegel an deutschen Universitäten wirklich tot war und nur die verschiedensten Irrationalismen vom späten Friedrich Schelling (1775–1854) und von Arthur Schopenhauer (1788–1860) sich breitmachten und über Hegel herfielen. Auch heute sind Hegel und die Dialektik nicht mehr da. Das heißt natürlich auch, dass ein zentrales Stück des Marxismus fehlt, woran die eifrige Lektüre des »Kapitals« nichts zu ändern vermag. Es nützt nämlich überhaupt nichts, wenn man sich vom ersten Satz des »Kapitals« bis zum letzten durchzwängt, weil man die darin behandelten Prozesse nicht begreifen kann, wenn man nicht wenigstens ein paar Seiten Hegel gelesen und verstanden hat. Das bedeutet, dass wir von dieser hetzenden, mit heraushängender Zunge den Theorien und den aktuellen Ereignissen nachlaufenden Struktur der Bildungsprozesse wegkommen müssen. Wir müssen einerseits ein Bewusstsein gegenüber dringenden aktuellen Problemen entwickeln und andererseits dafür sorgen, dass eine solche Vorlesung trotz laufender Aktion ungehindert stattfinden kann.
Beides sind unsere Probleme, und es lässt sich nichts davon abtrennen. Ich erinnere mich daran, dass nach dem Putsch in Chile (11.9.1973) der Rosa Luxemburg Kongress in Reggio, Italien ablief. Da fand, das ist kritisch einzuwenden, zum Teil eine Akademisierung statt, doch dabei war die Problematik Chiles permanent präsent, ohne dass der Kongress durch irgendwelche Aktionen unterbrochen worden wäre. Vielmehr sind wir anschließend abends demonstrieren gegangen. Die aktuelle Zerfaserung aber ist etwas Fürchterliches, und das erlebe ich jetzt schon seit 1967.
Ich fing an mit einem Seminar über Marx. Dahin kamen 1000 Leute, und alle waren sie dabei, Cohn-Bendit, Krahl u. a. Das war phantastisch und lief auch die ersten Stunden ausgezeichnet, selbst beim frühen Marx. Aber dann schien ihnen allmählich die Materie zu trocken, auch zeitlich zu weit entfernt und mit den damaligen Ereignissen nicht zu vermitteln. Als ich das merkte, sagte ich mir: »Nimm Lenin, und zwar den Linksradikalismus, das muss doch etwas sein, was sie unmittelbar berührt«, und als wir uns da durchgequält hatten, kam endlich die Institutsbesetzung.110 Befreit zogen die Leute ins Institut und ließen das Seminar fallen. Man merkte buchstäblich die Erlösung, als Genossen auftraten und sagten: »Was sollen wir hier über Lenin diskutieren, da wird das Institut besetzt. Das sind unsere Aufgaben. Also marschieren wir dahin.«
Das ist die Fatalität der Ad-hoc-Gewichtung in der Überzeugung, mit Lenin könne man sich immer noch beschäftigen, aber ein Institut besetzen, das mache man nicht jeden Tag. Diese Kalkulation mit der Aktualität ist etwas ganz Ruinöses. Deshalb müssen wir gemeinsam Formen entwickeln, die an Theoriebildung festhalten in der Überzeugung, dass das langfristig gesehen auch eine politische Tätigkeit ist. Wenn wir in der Beschäftigung mit Kant, Hegel aber nur eine Pflichtübung sehen, dann bedarf es nur noch des Anlasses, um diese Anstrengungen sofort wieder aufzugeben. Das ist genauso, wenn in der traditionellen Schule, Gott sei Dank nicht in allen Schulen, eine Klasse sitzt, die aufmerksam zuhört, was Karl der Große einst gemacht hat, und plötzlich kommt einer mit einem Kaninchen herein: Natürlich springt die Klasse auseinander. Die Autonomie von Aufmerksamkeit muss sich durch die Sache herstellen. Wenn sie nicht da ist, nützt alles nichts. Wenn aber diese Autonomie hergestellt ist, wie in der Glocksee Schule, dann stört eine solche Klasse kein Kaninchen und kein Frosch. Diese Konstitution von Aufmerksamkeit gelingt nur durch eine Form von selbstreguliertem politischem Lernen. Es muss dazu kommen, dass diejenigen, die hier sitzen – und es ist sehr eindrucksvoll, dass hier so viele sitzen –, dass Sie tatsächlich das, was vorgetragen wird, als wichtig für sich selbst betrachten.
Wer hier ist, dem unterstelle ich ein ganz zentrales Interesse und ein Bewusstsein dafür, dass es sich hierbei nicht um eine akademische Angelegenheit handelt – das wäre das schlimmste Missverständnis. Ich betrachte diese Vorlesung nicht als akademische Angelegenheit, und wer sie als solche betrachtet, versteht grundlegend falsch, was ich beabsichtige. Das bedeutet natürlich nicht, dass man bei jedem nachprüfen kann, ob er es richtig oder falsch versteht, und schon gar nicht, dass jeder reden muss oder das nur in Kleingruppen aufarbeiten könnte. Es vollziehen sich Bildungsprozesse auch dadurch, dass Leute aufmerksam zuhören. Meine Bildungsprozesse zum Beispiel sind wesentlich durch Zuhören gelaufen. Ich habe bei Adorno kaum je ein Wort gesagt. Das heißt aber nicht, dass ich nicht wirklich gearbeitet hätte. Dieser ständige Druck, etwas sagen zu müssen und nicht zu können, nicht zu wissen was, führt doch zu Blockierungen. Ich sehe daher in der Vorlesung keinen Rückschritt zur Tradition, sondern auch eine Reaktion aus Unzufriedenheit mit bestimmten Kleingruppenarbeiten. Zwar ist es in Einführungsseminaren absolut notwendig, dass kleine Gruppen einen Text interpretieren und sich den erarbeiten. Aber es gibt Stufen im Bildungsprozess, auf denen diese Kleingruppen ruinös sind.
Aktuell geht es mir nicht darum, den Protest der Tutoren abzuschneiden oder abzuwürgen. Ich bin überzeugt, da besteht ein Ausbeutungsverhältnis gegenüber Leuten, die häufig mehr machen in der Universität als Hochschullehrer. Das muss tatsächlich verschwinden, und es gibt keine anderen Möglichkeiten, als das mit manifesten Streiks und so weiter zu machen. Diese Sache halte ich für außerordentlich wichtig, und ich solidarisiere mich auch vollkommen mit diesen Protesten. Gleichzeitig möchte ich aber daran festhalten, dass wir in unserem Zusammenhang an dem Faden weiterspinnen, den wir bereits aufgenommen haben, weil ich glaube, dass bei den hier Anwesenden auch große Theoriebedürfnisse bestehen, und das ist nur durch eine bestimmte Abstraktion von der unmittelbaren Praxis zu machen.
Ich habe in der letzten Stunde den Versuch unternommen, bestimmte Kriterien und Merkmale der deutschen Geistesgeschichte im Interpretationszusammenhang von Kant und Hegel aufzuzeigen, wobei die Beziehung zwischen Politik und Moral ins Zentrum rückte. Dieses Verhältnis ist außerordentlich in dem Sinne, dass sich in Deutschland nie wie in Westeuropa eine politische Sphäre ausgebildet hat, die von jener der traditionellen, vorbürgerlichen Gewalten abgetrennt war. Das bedeutet, dass die Tendenz zur Moralisierung und Verinnerlichung des Politischen und weiter gefasst zur Umsetzung revolutionärer Bewegungen in Denkweisen ein Strukturelement dieser deutschen Geschichte gewesen und geblieben ist. Diese Form der objektiven Einhelligkeit, wie Kant sagt, von Politik und Moral hat immer auch den deutschen Politikbegriff bestimmt. Dieser hatte nie die liberale, abwägende, kommunikative Struktur, wie sie im Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgeprägt ist. Habermas hat im Öffentlichkeitsbuch111 analysiert, wie sich auf der Ebene der Kommunikation, der Verständigung von Privatleuten politische Entscheidungen vollziehen. Diese Kommunikationsebene hat sich jedoch in Deutschland nie als eine autonome ausgebildet, anders als zum Beispiel in England oder in Frankreich während der Revolution ab 1789 und zum Teil auch in den späteren Revolutionen. Das bedeutet, dass in Deutschland ein Überhang von Innerlichkeit vorliegt, der auch die Linke mitbetrifft, ein Überhang von Moralität und Willen gegenüber einer sich nicht dem Willen gemäß strukturierenden Realität, der zugleich produziert ist von dieser Realität: Als Ergebnis der Realität stellt sich der Wille dieser Realität gegenüber – das ist die eigentliche Dialektik, die Hegel im Kapitel »Die absolute Freiheit und der Schrecken« entfaltet. Ein Produkt der Abstraktion stellt sich demgegenüber, wovon es abstrahiert ist. Das heißt aber, eine gewaltsame Auflösung trifft zwangsläufig beide Abstraktionen. Es gibt den berühmten Satz von Hegel, den Krahl mal als Motto völlig richtig benutzt hat: Abstraktionen zu realisieren, heißt Realität zerstören, Abstraktionen verwirklichen, in die Wirklichkeit umsetzen, heißt Wirklichkeit zerstören.112
Was bedeutet das? Abstraktionen, die Momente eines Ganzen fixieren, festhalten und als das Ganze setzen, sind in dem Augenblick, da sie von der Realität abgezogen werden, der Realität als Komplexität nicht mächtig. Die Breitseite der Gewalt, wie Hegel sagt, läuft immer zuungunsten dessen, der Gewalt ausübt, und mit der Breitseite der Gewalt verändern sich nicht die Verhältnisse. Hegel hat sehr wohl begriffen, dass die geschichtliche Entwicklung wesentlich durch Gewalt abläuft. Gewalt und List sind eigentlich die beiden konstitutiven Elemente der Geschichte, aber es geht dabei um eine Gewalt, die durch die Objekte hindurchgeht, die sich ihnen nicht gegenüberstellt. Mit anderen Worten: Eine Gewalt, eine Abstraktion ist nur dann der Realität mächtig, wenn sie in die Bewegungsgesetze der Realität eingeht und sie als Hebel für ihre eigenen Zwecke benutzt. Das ist geschichtlich gesehen ein Stück List, eine List der Vernunft. Diese benutzt etwas ganz anderes, die Realität, für eigene Zwecke, sie benutzt vorhandene Gewalt, um sie im eigenen Sinne umzusetzen. Sie benutzt die Naturgesetze, um sie für sich und ihre eigenen Zwecke arbeiten zu lassen. Subjektivität schaltet sich dabei in die Realität ein und stellt sich ihr nicht gegenüber, sondern schaltet sich als wollende Subjektivität, als mit Willen begabte Subjekte in die Realität mit ein und bringt sie in Hegel’scher Terminologie auf ihren Begriff. Das heißt, Gewalt ist bei Hegel immer mit einem Stück List verbunden. Man überlistet die Realität dadurch, dass man mehr weiß als sie selbst, dass man ein höheres Bewusstsein als der Gegner hat. Dieses höhere Bewusstsein bedeutet, dass man die eigenen Mechanismen der Realität besser begriffen hat, als sich die Realität selbst begreift. Nur das ermöglicht listiges Verhalten, und nur das bedeutet ein Verhalten, in dem Realität für eigene Zwecke mobilisierbar ist und sich nicht einfach der abstrakten Macht, der abstrakten Gewalt überstülpt und kaputtmacht. Das meint diese »Breitseite der Gewalt«, mit der man nichts an der Realität ändert. Mit der Breitseite der Gewalt gegen die Realität vorgehen, bedeutet vielmehr, einzelne Momente dieser Realität zu zerstören, dabei aber gleichzeitig selbst zerstört zu werden. Das Opfer ist gesetzt in der Zerstörung von einzelnen Elementen dieser Realität. Die Breitseite der Gewalt ist immer das Produkt bestehender Verhältnisse.
Napoleons Erfolg bestand darin, um das an einem historischen Beispiel zu veranschaulichen, dass er im höchsten strategischen und politischen Bewusstsein, das von der Französischen Revolution herrührte, begriffen hatte, dass die feudalen Systeme partikulare Gewaltverhältnisse aufrechterhielten und perpetuierten, die nicht mehr das Ganze der Gesellschaft ausdrückten. Deshalb konnte er diese Gewaltverhältnisse selbst noch als Hebel benutzen, um sie zu zerstören. Seine ganze Bündnispolitik war auf diese Zerstörung gerichtet, und selbst seine militärischen Siege verdanken sich seinem geschichtlichen Bewusstsein von der Überholtheit etwa des Systems der geschlossenen Schlachtordnung, die Friedrich der II. entwickelt hatte. Denn diese Schlachtordnung bestand vor allem darin, Disziplin aufrechtzuerhalten, damit die Soldaten nicht wegliefen. Die Technologie, über die Napoleon verfügte, war genau die partikulare Gewalt, um diese Systeme und Heere zu zerstören.
Nun vollzieht sich in dieser Gewaltfrage eine Transposition, die sich gleichermaßen fast wörtlich bei Kant und Hegel findet und die eben für die deutsche Situation kennzeichnend ist. Die Materialität der Revolution, die schon Kant in Zweifel zog, wurde auf Geschichtszeichen, auf Symbole, auf Fanale und so weiter reduziert, ihres materiellen Charakters entkleidet. Das heißt, sie wurde in die Komplexität von Subjekten transponiert, aufgenommen, subjektiviert, und da, frei von Materialität, in aller Kompliziertheit entwickelt. Das bedeutet, der deutsche Idealismus ist sicherlich auch ein Abwehrprodukt dieser Revolution, also eine Verarbeitung von bedrohlicher Realität.
Immer hat die Herrschaft im Reiche des Begriffs etwas von der realen Herrschaft an sich oder ist ein Kompensationsprodukt realer Herrschaft. Die Entfaltung dieser begrifflichen Systeme ist auch ein Produkt der Reduktion des Realitätsgehaltes. Aber gerade deshalb konnte diese Philosophie eine Dimension und Tiefe erreichen, die politisch in dem Sinne nicht angreifbar und anfechtbar war wie andere Systeme, die nur im Bereich des Gedankens sich entfalteten, und somit Methoden entwickeln, die weit über diese Systeme hinausgingen. Das heißt, die Widersprüchlichkeit innerhalb des deutschen Idealismus erzeugt zwei Dinge: auf der einen Seite eine Entmaterialisierung der politischen und ökonomischen Bewegungen und bürgerlichen Revolutionen, insbesondere der Französischen Revolution, auf der anderen Seite die Freisetzung des spekulativen Gedankens, der sich aus der Spekulation heraus dieser Realität bemächtigt und sie mit dem Begriff noch einmal durchgeht und zwar relativ unabhängig von unmittelbarer politischer Repression.
Wir wissen heute durch die Arbeiten von Karl-Heinz Ilting (1925–1984), der Kollegnachschriften der Hegel’schen Rechtsphilosophie aufgedeckt hat, dass Hegels Vorlesungen von seiner veröffentlichten Rechtsphilosophie abwichen. Er sprach sehr viel offener, als er sich in der Druckfassung äußerte, die nach den Karlsbader Beschlüssen, nach dem Einläuten dieser ungeheuer reaktionären Periode verfasst wurden. Aber gleichwohl ändert das nichts Grundsätzliches an der These, dass die Revolution bereits auf einen ruhigen Boden der geistigen Entwicklung in Deutschland hinübergerettet war. In der »Phänomenologie des Geistes« heißt es:
Die absolute Freiheit hat also den Gegensatz des allgemeinen und einzelnen Willens mit sich selbst ausgeglichen; der sich entfremdete Geist, auf die Spitze seines Gegensatzes getrieben, in welchem das reine Wollen und das rein Wollende noch unterschieden sind, setzt ihn zur durchsichtigen Form herab, und findet darin sich selbst. – Wie das Reich der wirklichen Welt in das Reich des Glaubens und der Einsicht übergeht, so geht die absolute Freiheit [das ist die Freiheit, wie sie sich in der Französischen Revolution darstellt als Wirklichkeit zerstörende Abstraktion, Anm. Negt] aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewußten Geistes über [das ist Deutschland im Gegensatz zu Frankreich, Anm. Negt], worin sie in dieser Unwirklichkeit [die Materialität ist abgezogen und erscheint in der Unwirklichkeit von Moralität, Anm. Negt] als das Wahre gilt, an dessen Gedanken er sich labt, insofern er Gedanke ist und bleibt, und dieses in das Selbstbewußtsein eingeschlossene Sein als das vollkommne und vollständige Wesen weiß. Es ist die neue Gestalt des moralischen Geistes entstanden.113
Wenn Sie so wollen, kehrt die Revolution zu Kant zurück. Der eigentliche Übergang besteht für Hegel aber darin, wie der Geist von der Französischen Revolution wegkommt. Wenn er bei Kant ist, dann ist er auf derselben Ebene wie die Hegel’sche Philosophie. Wenn die geschichtliche Substanz in die Moralität Kants gerettet ist, dann ist der Gedanke gesichert in seinem ruhigen Reich. Die Kritik bezieht sich ja auch auf die abstrakte Moralität, die in dieser Revolution steckt.
Wir können hier die Interpretation von Kant einbeziehen: Sofern die Revolution Gedanke und Geschichtszeichen ist, Zeichen der Natur, ist die Revolution bei sich, ist sie nichts völlig anderes mehr. Diese Transposition in die Denkweise und in das Geschichtszeichen ist die Rückkehr des Geistes aus einer entfremdeten Realität in sich selbst. Diese neue Gestalt bleibt aber nicht der moralische Geist, und das ist der Schritt, den Hegel weit über Kant hinaus vollzieht. Sondern dieser moralische Geist ist die absolute Freiheit seiner selbst. Das ist die Grundlage der neuen Welt, der bürgerlichen Welt, aber in der Kantischen Form abstrahiert von der Realität. Das heißt, Moralität und Realität waren bei Kant absolut nicht aufeinander beziehbar, hatten keine Vermittlungsmomente in sich. Diese Vermittlungsmomente zeigt Hegel hier nun auf, wenn er sagt: Es ist schon die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit, nicht die Wahrheit, die sich innerhalb des Begriffs und in der Realität entfaltet.