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Natur und Revolution – Kants Geschichtsphilosophie
ОглавлениеVorlesung vom 1. November 1974
Wer sich mit Kants Geschichtsbegriff und seinem Begriff der bürgerlichen Revolution befasst, muss sich gleichzeitig auch mit seinem Begriff von Natur beschäftigen. Das geschichtliche Interpretieren von geschichtlichen Ereignissen der Gegenwart ist nicht nur bei Kant, sondern insgesamt in der bürgerlichen Gesellschaft der revolutionären und unmittelbar nachrevolutionären Periode immer gebunden an eine bestimmte, sehr differenzierte Vorstellung von Natur. Wir wollen hier jedoch nicht jenen Naturbegriff behandeln, wie er sich in der »Kritik der reinen Vernunft« findet. Dort ist Natur sehr abstrakt als das Dasein der Dinge unter Gesetzen definiert. Ebenso wenig geht es um jene Vorstellung von Natur, die mit dem Geniebegriff in der »Kritik der Urteilskraft« verbunden ist. Es geht vielmehr um den Naturbegriff in den geschichtsphilosophischen Arbeiten von Kant, und dieser lässt sich nach verschiedenen Gesichtspunkten aufgliedern.
Er bezeichnet zum einen eine anthropologische Dimension, zum anderen das, was später bei Marx »naturwüchsig« heißt.33 Darüber hinaus bezeichnet er schlicht geografische Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, also Natur in einem unmittelbaren Sinn, und schließlich das, was im Begriff ›Naturrecht‹ enthalten ist, also eine Vorstellung der Natur, die bei der gesamten Naturrechtslehre des Bürgertums eher das meint, was gerade nicht Natur ist. Eigentlich ist dieses Naturrecht ein Vernunftrecht, und es wird noch zu fragen sein, warum es gleichwohl als Naturrecht bezeichnet wird.
Für Kant hat die Französische Revolution einen elementaren Charakter, man kann fast sagen, sie ist für ihn ein Naturereignis und nicht etwas, das sich Individuen ausgedacht haben. Damit ist sie von den Vorstellungen der Konterrevolutionäre weit entfernt, die mutmaßen, es zögen bei Revolutionen nicht anders als bei einem Putsch schlicht einige Leute irgendwie die Fäden. Sie sind überzeugt, dass Revolutionen grundsätzlich dieselbe Struktur wie konterrevolutionäre Gewalt aufweisen und zu unterdrücken seien mit Manipulationen, Bestechungen, brutaler Gewalt, Bespitzelungen etc. Entsprechend, glauben sie, verlaufe auch der revolutionäre Prozess auf derselben Ebene manipulierter Gewalt. Eine solche Form der Revolution kann es bei Kant jedoch nicht geben: Revolution ist bei ihm ein elementares geschichtliches Ereignis, einbezogen in eine Vielzahl von materiellen und geistigen Konstellationen und nicht auf die Absicht Einzelner oder bestimmter Gruppen zurückzuführen. Revolution ist bei Kant ein Entwicklungsprozess, weshalb er sagt, die Revolution des geistreichen französischen Volkes sei die Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, eine Entwicklung, ein Prozess, der bestimmte geschichtliche Knotenpunkte habe, in denen Konstellationen zusammentreffen. Planungsabsicht komme bei diesem Prozess nur insofern zum Ausdruck, als er eventuell einem Plan der Natur folgt.
Diese Vorstellung von Revolution ist nicht ganz neu, worauf auch Karl Griewank hinweist.34 Auch er hat den neuzeitlichen Revolutionsbegriff als einen naturwüchsig durchsetzten interpretiert, bei dem nicht mehr die Vorstellung eines irgendwie planvollen Unternehmens vorherrscht, sondern sich eine Gesamtkonstellation der Kräfte ergibt. Der einzige Revolutionsbegriff im strengen Sinne ist demnach der neuzeitliche. Denn die Verwendung des Begriffs ›Revolution‹ tritt keineswegs erst mit dem rationalen Naturrecht auf, wovon zum Beispiel Kopernikus Hauptschrift »De revolutionibus orbium coelestium« (1543) zeugt. Bei ihm geht es um einen ganz anderen Zusammenhang, um die geordnete Bewegung der Gestirne und damit um etwas, das sich in einem berechenbaren und prognostizierbaren Zusammenhang bewegt. Gleichwohl ist in diesem Revolutionsbegriff ein Moment von Objektivität enthalten. Es geht nicht um eine willkürliche Anordnung gesellschaftlicher Objekte, sondern um einen Prozess, für dessen Zustandekommen alle Bestandteile wesentlich sind.
Was Kopernikus innerhalb der Astronomie bezeichnet, findet vielfache Übertragungen und Transpositionen in den gesellschaftlichen Begriff von Revolution, wie er sich dann in den rationalen Naturrechtslehren beginnend mit Puffendorf, Grotius, Locke und Hobbes abspielt. Auch bei ihnen ist Revolution ein Ereignis, eine bestimmte Konstellation von Ereignissen, wobei sie Revolution noch als die Wiederherstellung einer Ordnung begriffen, die zuvor gestört oder zerstört war. John Locke (1632–1704) liefert dafür ein besonders gutes Beispiel, doch die ersten bürgerlichen rationalen Naturrechtslehren gingen alle darauf hinaus, eine gestörte Ordnung wiederherzustellen. Entsprechend begründeten sie Revolution auch als die Wiederherstellung einer alten Satzung und alter Gesetze, so etwa in den Debatten über den Abfall der Niederlande von der spanischen Krone. Zerstörungsprozesse, die im späten Mittelalter eingesetzt haben, etwa Enteignungsprozesse, sehen sie als die gesellschaftliche Grundlage an, von der aus altes Recht wiederherzustellen sei. Damit will diese Form des rationalen Naturrechts paradoxerweise vornaturrechtliche Zustände herstellen. Darin ist ein Moment des Konservativismus miteinbezogen.
Kants Revolutionsbegriff hingegen bezieht sich nicht auf die Wiederherstellung einer wie auch immer gearteten gestörten Ordnung, sondern auf die Etablierung eines Systems von Vertragsrechten. Grundlage dafür ist der Gesellschaftsvertrag, den die Menschen ursprünglich geschlossen haben, nicht als ein historisches Faktum, sondern als ein mit ihrer Vernunft verbundenes Postulat. Das heißt, die Vertragslehren werden von Kant nicht zurückbezogen auf irgendwelche Verträge, die empirisch geschlossen wurden, sondern es gehört zum Gemeinwesen und zur republikanischen Verfassung dazu, dass hier ein ursprünglicher Gesellschaftsvertrag geschlossen wurde. Damit ist das Naturrecht ein Vertragsnaturrecht, ein rationales Naturrecht, das die Unabhängigkeit der einzelnen Rechtspersonen unterstellt.
Gehen wir noch etwas weiter in dieser Bestimmung des elementaren objektiven oder naturwüchsigen Charakters. Sie kennen vielleicht jenen Ausspruch, der Marie Antoinette zugeschrieben wird, historisch nicht verbürgt, aber sachlich völlig zutreffend, als sie vor dem Fenster steht und sich mit den abgehalfterten Ministern unterhält. Was sich vor ihren Augen auf der Straße abspielt, ist keine vorübergehende Revolte, sondern eine elementare Revolution, ein Ereignis, gegen das man nichts machen kann. In allen Bestimmungen Kants ist etwas von dieser Unabänderlichkeit enthalten: Man mag dagegen sein und moralisch urteilen, ein wohldenkender Mensch mag sich auch vor einer Wiederholung fürchten, doch diese Sache ist fortan der Erinnerung der Menschheit eingeschrieben und verliert sich genauso wenig wieder aus ihrem Bewusstsein wie eine Naturkatastrophe, es sei denn durch Verdrängung.
Die Staatsweisheit wird sich also in dem Zustande, worin die Dinge jetzt sind Reformen dem Ideal des öffentlichen Rechts angemessen zur Pflicht machen; Revolutionen aber, wo sie die Natur von selbst herbei führt, nicht zur Beschönigung einer noch größeren Unterdrückung, sondern als Ruf der Natur benutzen, eine auf Freiheitsprinzipien gegründete gesetzliche Verfassung, als die einzige dauerhafte, durch gründliche Reform zu Stande zu bringen.35
Mit anderen Worten bedeutet das: Wo Revolution stattfindet, kann man nichts machen, weil sie ein »Ruf der Natur ist«. Aber wohldenkende Staatsmänner, die gesehen haben, wie elementar sie sich Bahn bricht, um Vernunft durchzusetzen, werden sich sehr wohl überlegen, ob sie diesen Prozess nicht kompensieren, ausgleichen, ihm gar vorgreifen können, indem sie dasselbe auf dem Wege von Reformen durchsetzen. Wenn sich die Natur auch in Gestalt von revolutionären Bewegungen gegen den Willen der Beteiligten durchsetzt, kann das nur eine Aufforderung dazu sein, sich im aufklärerischen Sinne seines Verstandes zu bedienen, sodass jene Vernunft, die elementar und blutig in der Französischen Revolution durchgesetzt wurde, sich friedlich und mithilfe staatsmännischer Weisheit etabliert. Auf jeden Fall liegt darin für Kant eine Warnung an die europäischen Staatsmänner, sich nicht darauf zu verlassen, dass die Französische Revolution von Jakobinern und einigen Gruppen der französischen Gesellschaft inszeniert worden sei, sondern sie als einen Aufbruch der Natur, ein Zeichensetzen der Natur zu betrachten. Wenn sich Gesellschaften nicht auch in anderen Ländern revolutionär verändern sollen, müssen sie sich durch Reformen verändern. Entsprechend hätte – wie Hegel – auch Kant die Napoleonischen Kriege, wenn er sie noch erlebt hätte, im Sinne der Realisierung dieses Naturzwecks begreifen können, weil sie zerstörte und innerlich ausgehöhlte Systeme mit Gewalt weggefegt und den revolutionären Gedanken auch über die europäischen Fürstentümer gebracht haben. Aber welche Natur bricht sich hier Bahn, um etwas durchzusetzen, was sie selbst nicht ist?
In der Revolution produziert Natur ihr eigenes Gegenteil, sie produziert eine Verfassung, die Natur beherrscht. Zwei Gesichtspunkte zu diesem Naturbegriff sind dabei wesentlich. So ist der friedliche Zustand der Gesellschaft bei Kant ein unnatürlicher, der mit der Natur des Menschen nichts zu tun hat. Ein friedlicher Gesellschaftszustand muss vielmehr gestiftet werden. Das bedeutet für Kant gleichzeitig, dass die Hobbes’sche Konstruktion eines kriegerischen Zustands zutrifft, des Kampfes aller gegen alle. Er sagt an einer Stelle: »Der Krieg aber selber bedarf keines besonderen Beweisgrundes, sondern scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein.«36 Der Krieg als Ausdruck natürlicher Kräfte und Bewegungen sitzt der menschlichen Natur auf, jenes Naturerbteils, der ihn auch mit der Natur in der »Kritik der reinen Vernunft« verbindet, nämlich dem Dasein unter Gesetzmäßigkeiten. Mit diesem Erbteil hängt der einzelne Mensch an der Gattungsentwicklung, ist er Natur im Sinne des Nicht-Domestizierten. Es gibt zuweilen in Anlehnung an Friedrich II., den man auch den Großen genannt hat, geradezu eine Geringschätzung Kants gegenüber den Menschen. Friedrich II. hat einmal von dieser verdorbenen und verkommenen Rasse gesprochen, die man domestizieren müsse, damit aus ihr etwas werden könne. Kant ist nicht nur auf dieser Ebene, sondern auch auf jener der theologischen Betrachtung von der Bösartigkeit der menschlichen Natur überzeugt. Aber gleichzeitig schließt sich diese Bösartigkeit mit dem Vernunftvermögen zusammen: Bei ihm hat, wie bei keinem Denker sonst, der Mensch die Möglichkeit, sich nicht nur von dieser Bösartigkeit, sondern gleichzeitig von der Natur selbst zu lösen. Die Vernunft ist das radikal Andere der Natur. Wie Herder gesagt hat, die Sprache und der aufrechte Gang seien die eigentlichen Elemente der menschlichen Natur, sagt nun Kant, was Instinktsteuerung gewesen ist, muss Vernunft werden. Erst dann sei Emanzipation möglich.
Außer Frage steht, dass der Krieg zum Grundbestandteil der gesamten Gattungsentwicklung gehört. Aber dieser Krieg ist nicht als Naturzweck, sondern nur als Mittel zu denken, um Zwecke durchzusetzen, die mit diesen Mitteln nichts zu tun haben. Mit anderen Worten ist für Kant der Krieg derjenige materielle Zusammenhang, der nicht nur die Menschen zur Vernunft treibt, sondern auch Verkehrsformen und Verkehrsverhältnisse herstellt, Berührungen zwischen den Völkern, wo Grenzen durchbrochen werden. Der Krieg ist auch in seinen ganz fatalen, von Kant verhassten Formen ein Stück Vorbereitung auf den weltbürgerlichen Zustand. Alles Übel kommt von diesem Krieg, doch Kant ist weit genug Bürger, um darauf zu bestehen, dass der Krieg nicht nur zerstörerisch wirke. Vielmehr ist dahinter ein versteckter Plan der Vorsehung zu vermuten, der die Menschen selbst gegen ihren Willen und sogar gegenüber ihren guten Absichten dazu zwingt, eine naturrechtliche Verfassung in die Realität umzusetzen. Unter diesem Gesichtspunkt kommt in der Schrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) einiges zum Tragen, das eindeutig von Adam Smith (1723–1790) stammt. Kant sagt, diese Auseinandersetzung, dieser Antagonismus der gesellschaftlichen Kräfte, die gesellige Ungeselligkeit oder die ungesellige Geselligkeit, treibe darauf hin, wenn es nicht ein sinnloses Spiel sein soll, dass die Menschen sich einigen müssen im Sinne der Erhaltung ihrer Gattung. Im Übrigen hat Kant das Aussterben der ganzen Gattung nie ausgeschlossen. Hegel hat das nicht für möglich gehalten, weil sonst der absolute Geist selbst ausgestorben wäre, aber für Kant war diese Perspektive einer tellurischen Katastrophe, einer Weltkatastrophe in der Menschengeschichte durchaus denkbar.
Kant geht, wie erwähnt, davon aus, dass der Mensch bösartig ist, andere verletzt, sich nicht an Regeln hält und so weiter. Daraus ist aber nicht abzuleiten, dass Kant es angesichts der Schöpfung und der Realität als unerheblich ansieht, ob die Menschen zur Vernunft kommen oder nicht. Er argumentiert vielmehr, und darauf hat sich auch Bloch immer wieder bezogen,37 gemessen am Weltall sei der Mensch in seiner ganzen geschichtlichen Entwicklung zwar eine Kleinigkeit. Ihn wegen dieser mediokren Stellung im Naturzusammenhang unverändert zu lassen, sei aber mit Blick auf sein Potenzial eine Verkehrung der Schöpfung.
Es ist also ein nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz: daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde, welches, wenn man nicht bloß auf das sieht, was in irgend einem Volk geschehen kann, sondern auch auf die Verbreitung über alle Völker der Erde, die nach und nach daran Teil nehmen dürften, die Aussicht in eine unabsehliche Zeit eröffnet; wofern nicht etwa auf die erste Epoche einer Naturrevolution, die (nach Camper und Blumenbach) bloß das Tier und Pflanzenreich, ehe noch Menschen waren, vergrub, noch eine zweite folgt, welche auch dem Menschengeschlechte eben so mitspielt, um andere Geschöpfe auf diese Bühne treten zu lassen, u.s.w. Denn für die Allgewalt der Natur, oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache, ist der Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit. Daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen, und als eine solche behandeln, indem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sie schlachten zu lassen, – das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst.38
Es gibt also ein kontingentes Moment in der Gesamtentwicklung, und deshalb ist Kant in vielen Punkten ein Materialist. Diese Materie ist für ihn offen, nicht geschlossen, die Katastrophe ist möglich. Die Naturrevolution im Sinne einer Gesamtmutation, die anderen Wesen den Weg öffnet, ist nicht ausgeschlossen. Aber wenn man jetzt wie Jacques Monod, der französische Nobelpreisträger, der ein sehr witziges Buch über »Zufall und Notwendigkeit« geschrieben hat,39 den Menschen als ein kleines Plasmateilchen im Weltall lokalisiert, das eigentlich gar nicht viel ausrichten kann, dann ist das jedenfalls für Kant die Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung, keine Kleinigkeit, sondern eine Verkehrung des Ganzen. Zu schlussfolgern, man könne den Mensch als Kleinigkeit behandeln, ist demnach ein Versuch, aus der Möglichkeit einer Naturrevolution Herrschaft abzuleiten, und gegen diesen Versuch, Herrschaft zu legitimieren, wendet sich Kant entsprechend deutlich.
Ich möchte hier kurz in wenigen Sätzen einschieben, warum Kant überhaupt auf diese Naturvoraussetzungen bei geschichtlichen Prozessen reflektiert. Dafür will ich den Begriff ›transzendental‹ einführen, den ich bisher nicht erläutert habe, der aber charakteristisch ist für die Kantische Philosophie. Transzendental bedeutet die Feststellung all jener Bedingungen des Denkens und Handelns, ohne die Denken und Handeln nicht möglich sind. Das heißt, transzendental bedeutet immer Reflexion auf etwas und seine Bedingungen. Unter welchen Bedingungen ist also Natur möglich? Kant sagt schlicht, unter der Bedingung, dass es ein apriorisches Gesetz in der Vernunft gibt, das Naturzusammenhang stiftet: Kausalität. Nur deshalb ist Natur möglich. Unter welchen Bedingungen sind ästhetische Gebilde möglich? Unter der Bedingung, dass ein Genie Gesetze für interesseloses Wohlgefallen erlässt. In Bezug auf eine weltbürgerliche oder republikanische Verfassung fragt Kant nun nicht, ob diese notwendig sei. Diese Frage ist für ihn ausgestanden. Sie ist notwendig aufgrund von Vernunft. Aber wie ist sie möglich? Unter welchen Bedingungen lässt sich eine weltbürgerliche Verfassung durchsetzen? Unter welchen Bedingungen kann sie Realität werden? Deshalb tastet er alles in einem gewissermaßen empirischen Verfahren ab: Er fragt nicht, wie sollte der Mensch sein, sondern wie ist er erfahrungsgemäß. Um nun festzustellen, dass die Menschen bösartig sind, braucht man keine große Analyse, ja man braucht dafür noch nicht einmal Erfahrung, sondern das ist etwas Apriorisches.
Diese Reflexion auf die Bedingungen für die Möglichkeit ist durchgängig bei Kant festzustellen, auch in den geschichtsphilosophischen Schriften. Deshalb fragt er sich: Welche Naturbedingungen machen die friedliche Verfassung der Menschheit subjektiv-transzendental notwendig und objektiv-empirisch möglich, selbst wenn sie noch nicht realisiert ist. Eine solche Möglichkeit ist der Krieg, die Tatsache, dass sich Völker und Menschen bekämpfen und mit der Nase darauf gestoßen werden, dass es so nicht weitergehen könne. Wenn sie anfangen, Leute zur Schlachtbank zu führen, wenn Fürsten ihre Untertanen verkaufen, um bestimmte Ziele durchzusetzen, dann widerspricht das dem Vernunftgesetz des Schöpfungszwecks: Es kann nicht Sinn der Schöpfung sein, dass Menschen sich töten, und zwar deshalb nicht, weil der Mensch Anlagen der Natur hat, die ihn darüber hinausführen. Daher rührt die Reflexion auf die Naturanlage, sich moralisch zu verhalten, das heißt nach allgemeinen Prinzipien und Maximen. Eine solche Anlage kann die Natur nicht sinnlos produziert haben – davon geht Kant, gehen wir als vernunftbegabte Menschen aus, auch wenn es sich nicht beweisen lässt.
Lassen wir es zunächst einmal dabei bewenden, denn ein weiterer Punkt ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Kant stellt sich die Frage: Warum müssen die Menschen eigentlich friedlich miteinander leben? Warum werden sie mit der Nase darauf gestoßen, dass eine republikanische, also friedliche Verfassung, denn mehr besagt dieser Begriff zunächst nicht, möglich ist? Kant begründet diese Tatsache merkwürdigerweise aus der Kugelform der Erde. Er sagt: Die Menschen können es nicht verhindern, prinzipiell aufeinanderzustoßen, weil sie sich nicht ausweichen können. Menschen und Völker sind prinzipiell nicht imstande, sich irgendwo friedlich niederzulassen, ohne auf andere zu stoßen. Damit begründet die Kugelform der Erde tatsächlich etwas wie die Notwendigkeit des Rechts. Für Kant hat Recht mit Moral nichts zu tun. Diese Trennung von Recht und Moral ist bei Kant zentral und exakt formuliert. Eine rechtliche Verfassung der Menschen muss demnach auch in einer Gesellschaft von Teufeln möglich sein, wenn sie nur Vernunft haben. Dann spielt ihre Moralität keine Rolle. Sie können absolut böse und bösartig handeln, sie müssen nur Vernunft haben.40 Das ist keine Deduktion, sondern eine transzendentale Ableitung, eine Feststellung der Bedingung der Möglichkeit. Kant leitet aus der Kugelform der Erde das allgemeine Hospitalitätsrecht ab, das heißt, das Gastrecht. Mit einem Wort: Jeder Mensch hat ein Naturrecht auf einen Platz auf dieser Erde, und niemand hat von Natur aus das Recht, ihn davon zu vertreiben. Nun bedeutet das nicht, dass er Recht hat auf den Platz, den er bewohnt, sondern er hat ein Anrecht auf einen Platz überhaupt. Das heißt, wer sich in friedlicher Absicht irgendwo auf dieser Erde niederlässt, kann mit naturrechtlicher Begründung nicht von dort vertrieben werden. Die Erde, das ist die erste Rechtskategorie, ist Gemeinbesitz der Menschen, und aller Privatbesitz ist Besonderung und muss aus dem Allgemeinbesitz begründet werden. Die Erde ist der erste Gemeinbesitz aller Menschen.
Ich darf Ihnen eine Stelle aus dem Fragment »Zum ewigen Frieden« vortragen.41 Im dritten Definitivartikel steht dort: »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.« Hospitalität bedeutet nicht einfach Gastrecht, sondern Gastrecht in dem Sinne, dass niemand aus dem Hause der Erde oder der Natur vertrieben werden darf. Es ist hier wie in den vorigen Artikeln nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, »und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann«. Er hat ein Recht, ihn von dem Boden zu vertreiben, wenn es »ohne seinen Untergang«, ohne seine physische Schädigung geschehen kann. Darin, das folgt in der Rechtstheorie, ist die Auslieferung an andere Länder miteinbezogen:
Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde.42
Jeder Mensch hat ein Naturrecht, sein Gesellschaftsbedürfnis, seine Gesellschaftlichkeit, das heißt eigene Kräfte dem anderen zur Kommunikation und zur Beteiligung an der Entwicklung anzubieten. Darauf hat er ein Recht, und er darf deshalb nicht vertrieben werden, weil es einen gemeinschaftlichen ursprünglichen Rechtsbesitz der Erdoberfläche gibt, »auf der, als Kugelfläche, [die Menschen] sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden [zu] müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere.«43
Hier kommt Kant auf die Frage zu sprechen, und darin steckt ein Stück Imperialismus, wie sich Kommunikation mit abgelegenen Teilen der Erde ergebe. Ihm nach, kann man andere Völker durchaus überfallen, wenn diese sich der Gesellschaftlichkeit verschließen, nicht mit anderen kommunizieren wollen. Das sei letztlich in ihrem Interesse, weil sie sich nur so zur weltbürgerlichen Gesellschaft öffnen und damit ihre von der Natur angelegten Vernunftfähigkeiten entfalten würden. Kant geht sogar so weit, dass derjenige, der sich weigere diese Naturanlagen zu entfalten, in gewisser Weise dazu gezwungen werden könne.
Die Kugeloberfläche der Erde zwingt die Menschen folglich dazu, sich zu tolerieren und miteinander auszukommen. Das ist eine transzendentale Bedingung dafür, dass Recht nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. Man kann es auch so ausdrücken: Es ist, da niemand ewig ausweichen kann, von der empirischen Seite und nicht nur vonseiten der Vernunft notwendig. Heute, im Zeitalter der Ausweichmöglichkeiten ins Weltall, wäre dieses Modell auf das Sonnensystem zu erweitern.
Einen weiteren Punkt, den Kant hier aufgreift, möchte ich noch erwähnen, weil er auf das Naturrecht zurückgeht. Sie wissen vielleicht, dass für die Entwicklung des Naturrechts etwa bei Hugo Grotius (1583–1645) die Frage nach dem Gemeinbesitz der Meere zentral war.44 Es ist nicht zufällig, dass diese Theorie in Holland entwickelt worden ist, das ein fundamentales Interesse an der Offenheit der Meere hatte. Ein Stück von ihr steckt auch in diesem Hospitalitätsrecht bei Kant und der Verfügung über Meere und Länder. Kant selbst deutet das an:
Unbewohnbare Teile dieser Oberfläche, das Meer und die Sandwüsten, trennen diese Gemeinschaft, doch so, daß das Schiff, oder das Kamel (das Schiff der Wüste) es möglich machen, über diese herrenlose Gegenden sich einander zu nähern, und das Recht der Oberfläche, welches der Menschengattung gemeinschaftlich zukommt, zu einem möglichen Verkehr zu benutzen. Die Unwirtbarkeit der Seeküsten (z. B. der Barbaresken), Schiffe in nahen Meeren zu rauben, oder gestrandete Schiffsleute zu Sklaven zu machen, oder die der Sandwüsten (der arabischen Beduinen), die Annäherung zu den nomadischen Stämmen als ein Recht anzusehen, sie zu plündern, ist also dem Naturrecht zuwider, welches Hospitalitätsrecht aber, d. i. die Befugnis der fremden Ankömmlinge, sich nicht weiter erstreckt, als auf die Bedingungen der Möglichkeit, einen Verkehr mit den alten Einwohnern zu versuchen.45
Jemanden zu überfallen, ist also dem Naturrecht zuwider, nicht aber etwas anzubieten, also der Warentausch. Der Versuch des Tauschverkehrs ist gerechtfertigt unter der Voraussatzung, dass er nicht gewalttätig erfolgt. Auf diese Art können entfernte Weltteile miteinander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden, was das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringt.
Vergleicht man hiermit das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren, bei ihrer Entdeckung, für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts. In Ostindien (Hindustan) brachten sie, unter dem Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederlagen, fremde Kriegesvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingebornen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag.46
Die Kommunikation des gesellschaftlichen Weltverkehrs ist bei Kant sehr weit entwickelt und auch mit der nötigen materiellen Prächtigkeit der Kommunikation, nämlich des Warenhandels, begründet, wobei dieser Warenhandel ein materielles Element der Notwendigkeit dieser Kommunikationen darstellt. Ich möchte nicht diese aus der Natur kommenden Probleme auf die bürgerliche Gesellschaft übertragen, sondern zeigen, dass sich die Interpretation von Kant durchgehend durch eine sehr präzise Deutung des Systems von Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft auszeichnet und einerseits einen Kommunikationszusammenhang begründet sowie andererseits die Notwendigkeit der Entfaltung von Naturanlagen. Dazu ziehe ich am besten die »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« heran. Diese Schrift unternimmt nicht den Versuch, ein Geschichtszeichen für die Evolution einer naturrechtlichen Verfassung zu finden, um die Behauptung des Rechts zu institutionalisieren, sondern will ein Leitfaden für die geschichtliche Entwicklung sein.
Wer von Leitfaden spricht, macht gleichzeitig klar, dass es nicht um einen konstitutiven Zusammenhang geht. Kant behauptet also nicht, dass die Dinge tatsächlich so laufen, aber er liefert uns einen »Leitfaden«47, an dem wir mögliche Absichten der Natur in diesem Prozess verstehen können. Dabei greift er schlicht auf statistische Annahmen zurück, also auf Annahmen, die mit Durchschnittswerten arbeiten. Wie Geburten oder Todesfälle in einem bestimmten Land zu mitteln sind, arbeitet auch er mit Durchschnittswerten von Handlungen und möglichen Absichten, um festzustellen, ob nicht doch im »trostlose[n] Ungefähr«48 etwas wie eine Ordnung stecke.
Die Menschen wollen zwar alle etwas ganz Verschiedenes; jeder hat seine Vorstellung von Glück und seine Vorstellung von Interessen. Und doch kommt, wie Kant bemerkt, dabei etwas heraus, das grundverschieden ist von dem, was jeder Einzelne gewollt hat, und das eine bestimmte Entwicklungslinie zeigt. Auf dieser Entwicklungslinie, die gewissermaßen einen Durchschnittswert darstellt, wird merkwürdigerweise Vernunft erkennbar. Daran gemessen verhalten sich die Einzelnen vernunftlos. Auch im Krieg laufe alles vernunftlos ab, was aber dabei herauskommt, könnte für Kant etwas Vernünftiges sein, dass nämlich die Völker begreifen, dass sie keine Kriege mehr führen dürfen:
Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.49
Die Menschen haben alle ihren Plan oder – nach Brecht – machen einen Plan und noch einen Plan, und beide gehen sie nicht.50 Jeder hat seine subjektiven Pläne und Absichten, seine teleologischen Zweckvorstellungen. Einen Gesamtplan, wie eine weltbürgerliche Ordnung, auf die Kant hinauswill, gibt es jedoch noch nicht. Er fragt sich daher, ob da nicht etwas heranwachse, von der Natur getrieben, was einen Gesamtplan vorbereitet, der allerdings nur durch Vernunft gestiftet werden kann: »Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden; und wollen es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie darnach abzufassen.«51 Sehr viele haben sich seither für diesen Mann gehalten, und dass Kant selbst einige benennt, hat im Historismus eine gewisse Rolle gespielt: »So brachte sie [die Natur, Anm. Negt] einen Kepler hervor, der die exzentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf; und einen Newton, der diese Gesetze aus einer allgemeinen Naturursache erklärte.«52
Es geht Kant also bei diesem Leitfaden darum, methodisch festzustellen, ob in der ganzen Gattung eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen zu erkennen ist: ob in der empirischen Welt der Erscheinungen, wo Kausalität waltet, wo nicht Freiheit vorherrscht, Kräfte festzustellen sind, welche Naturanlagen zu entwickeln helfen. Denn »[a]lle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.«53 Dieser Satz zielt auf den öffentlichen Gebrauch der Vernunft nicht nur in der Gattung insgesamt, sondern auch im einzelnen Individuum. Der Zweite Satz ist wie gesagt eine Vernunftbestimmung der Naturanlagen oder anders im Sinne der transzendentalen Reflexion ausgedrückt: Es ist nicht anzunehmen, dass es Naturanlagen gibt, die nicht entwickelt werden sollen. Warum sollte es sie sonst geben? Folglich kann ein Vernunftwesen nicht denken, dass es Naturanlagen des Menschen zur Vernunft gibt, die nicht entwickelt werden sollen.
Der Dritte Satz lautet entsprechend: »Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat.«54 Er sagt hier weiter, das sei eine »Anzeige«: »Die Natur tut nämlich nichts überflüssig, und ist im Gebrauche der Mittel zu ihren Zwecken nicht verschwenderisch. Da sie dem Menschen Vernunft und darauf sich gründende Freiheit des Willens gab: so war das schon eine klare Anzeige ihrer Absicht in Ansehung seiner Ausstattung.«55 Sie finden bei Kant immer wieder diesen Zeichencharakter, Hinweise, um die herum sich empirische Tatbestände organisieren lassen, die das aber nicht ausdrücken.
Abschließend sei hier noch Kants Antwort darauf wiedergegeben:
Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit des Menschen; d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung sich zu vergesellschaften; weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu vereinzelnen (isolieren).56
Hier ist die Verbindung zu Adam Smith offensichtlich, nicht zu jener invisible hand, von der er spricht, sondern insofern als der Antagonismus der gesellschaftlichen Kräfte etwas wie eine gesetzmäßige Ordnung erzeugt: Ordnungslosigkeit erzeugt Ordnung, und wenn jeder seinen eigenen Triebkräften und Neigungen folgt, entsteht doch etwas zum Vorteil aller. Es gehört zu den merkwürdigsten Phänomenen der bürgerlichen Denkweise, wie Bernard Mandeville (1670–1733) davon auszugehen, dass private Untugend zu öffentlichen Gewinnen führe: privat vices, public benefits.57 Schon in seiner »Bienenfabel« (1714) ist diese Substanz des bürgerlichen Denkens polemisch zusammengezogen, die sich bei Kant unter transzendentalen Gesichtspunkten noch einmal ausdrückt, wenngleich ganz klar ist, dass dasselbe Prinzip in den verschiedenen Theorien auch verschieden gestaltet ist. Was dann bei Hegel auftritt, ist ein absoluter Geist, der durch die Geschichte und die Dinge marschiert, das Allgemeine, das die Besonderheit aufzehrt.