Читать книгу Verfluchtes Taunusblut - Osvin Nöller - Страница 11
Оглавление13. Mai 2016
Berger und Schubert saßen am frühen Morgen in ihrem gemeinsamen Büro in der Polizeidirektion Bad Homburg.
Um sie herum sah es wie auf einem Schlachtfeld aus. Sie sichteten die Kartons mit den Unterlagen, die ihnen am Vorabend die Kriminaltechniker vom Tatort mitgebracht hatte. „Also, Martin“, begann Berger, „was haben wir?“
Der Kollege las im Bericht der Rechtsmedizin. „Wir haben eine 60jährige Frau, die in ihrer Wohnung mit K.-o.-Tropfen betäubt und anschließend mit einem Sofakissen erstickt wurde. Der Doktor hat Benzodiazepine im Blut nachgewiesen, außerdem Fasern eines Kissens in der Lunge sichergestellt. Den Todeszeitpunkt schätzt er auf gestern, zwischen 18:30 und 19:30 Uhr.“ Er legte die Seite auf die letzte freie Stelle auf dem Schreibtisch und nahm stattdessen eine Mappe aus dem Postkorb, den er auf den Boden gestellt hatte. „Auf den ersten Blick fehlt nichts. Geldbörse, Schmuck und ein paar Antiquitäten sind vorhanden. Demnach erscheint ein Raubmord zunächst als unwahrscheinlich. Interessant ist, dass mehrere Flächen an den Türen, den Klinken, im Eingangsbereich, im Wohnzimmer und in der Küche abgewischt wurden.“
Berger stützte den Kopf mit den Armen auf der Tischplatte ab. „Der Täter oder die Täterin hat sich in verschiedenen Räumen bewegt und anschließend die Spuren beseitigt.“
Schubert nickte. „Sieht so aus. Zum Opfer ist wenig zu sagen. Lebte seit einigen Jahren in dem Haus und war anscheinend völlig auf die Hauseigentümerin, Barbara Lautrup, fixiert. War ihre Gesellschafterin, Pflegerin und Freundin. Frau Hubert half zweimal im Monat im Krankenhaus bei den Grünen Damen.“
„Das ist ein Damenkränzchen, das sich ehrenamtlich um Patienten kümmert, stimmt's?“ Berger nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht, als er feststellte, dass er kalt geworden war.
„Genau. Darüber hinaus besaß sie ein Theaterabonnement für das Kurtheater. Das war's. Sie scheint ausschließlich Kontakt zu den Mitgliedern der Vermieterfamilie gehabt zu haben. Als da wären …“
„Alles klar, Martin. Siehst du bei einem von denen ein Motiv, ihre Freundin umzubringen? Streit, Missgunst, irgendetwas?“
„Außer den merkwürdigen Unterlagen zum Tod des Familienvaters erkenne ich da nichts. Vielleicht war dabei was faul und sie hatte jemanden im Verdacht, den sie unter Druck gesetzt hat. Ich warte auf die Akte. Klingt für mich weit hergeholt, denn der Absturz liegt fünfzehn Jahre zurück. Warum sollte das heute ein Thema sein?“
Berger strich sich über die Nase, was er immer tat, wenn er angestrengt nachdachte. „Sehe ich ebenso. Was ist mit der Aufnahme? Ich hatte den Eindruck, dass die Hausherrin wusste, wer die fünfte Person auf dem Foto ist. Wieso sagt sie es uns nicht?“
„Kann sein. Sie hat kurz gestutzt. Dem müssen wir nachgehen und sie ein bisschen löchern. Wir könnten diesen Hugo Hausmann befragen. Er ist der Anwalt der Familie und müsste die Rothaarige ebenfalls kennen.“ Schubert kraulte sich am Kinn. „Versprich dir nicht zuviel davon. Das Bild liegt vielleicht seit Jahren unter der Couch.“
Der Kollege wiegte den Kopf. „Weiß nicht. Die Wohnung war penibel aufgeräumt. Wir gehen dem nach.“ Er nahm eine Klarsichthülle vom Tisch. „Das Opfer scheint am 4.5. in Celle gewesen zu sein. Wir haben hier eine Bahnfahrkarte und einen Zettel mit einer Adresse. Eine Diana Fiedler. Schau doch mal.“
Schubert bearbeitete die Tastatur des Computers. „Zu der Person habe ich nichts im System.“ Er tippte weiter. Plötzlich weiteten sich seine Augen. „Harald, komm rum. Das glaubst du nicht!“
Berger mühte sich vom Bürosessel hoch und schlappte um den Schreibtisch herum. Er runzelte die Stirn, als er die aufgerufene Webseite sah. „Das ist Julia Lautrup! Wie geht das denn?“
Schubert grinste. „Eher ihre Zwillingsschwester! Von ihr hat bisher keiner gesprochen. Wir haben einen Ansatz, mein Freund!“
***
Diana schmunzelte, als die Männer die Auffahrt zum Parkhotel hochkamen. Sofort war ihr klar, dass dieser riesige Anzugtyp und die langhaarige Bohnenstange die beiden Kriminalbeamten sein würden, mit denen sie vor zwanzig Minuten telefoniert hatte. Die beiden steuerten direkt auf Diana zu.
Sie saß auf einem Korbstuhl mit zwei Armlehnen vor dem Eingang des Hotels. Auf einem Tischchen neben ihr standen die Reste eines Cappuccinos.
Der Anruf der Beamten und die Bitte um einen kurzfristigen Termin hatte sie überrascht. Julia habe ihnen die Telefonnummer gegeben, erzählten die Polizisten. Dem Gespräch schaute sie mit einer Mischung aus Neugier und leichter Anspannung entgegen.
„Frau Dr. Fiedler, vermute ich, guten Morgen“, begrüßte sie der Kleiderschrank. Er gab ihr die Hand und stellte sich und seinen Kollegen kurz vor. Schubert nickte ihr zu, während sich beide auswiesen. Berger blickte mit hochgezogenen Augenbrauen auf den zweiten Korbstuhl.
„Gibt es einen anderen Ort, wo wir uns ungestört unterhalten können?“
„Ja, im Foyer befinden sich mehrere Sitzecken.“
Sie betraten das Hotel durch die sich selbstständig öffnende Tür und Berger steuerte auf ein Sofa zu, auf das er sich fallen ließ. Schubert und Diana setzen sich ihm gegenüber in zwei Sessel.
Der Dürre holte ein Notizbuch und einen Kugelschreiber aus seiner Hosentasche und schaute sie mit einem freundlichen Blick an.
Der Hauptkommissar räusperte sich. „Frau Dr. Fiedler, kennen Sie eine Renate Hubert?“
Sie hatte vermutet, dass der Besuch der beiden mit dem Mord zusammenhängen musste. Sie schob sich zurück bis zur Rückenlehne und saß kerzengerade.
„Ja, ich habe sie letzte Woche in Celle kennengelernt. Sie hat mich besucht.“ Ein Schauer überlief sie, als sie an die Tote dachte.
„Aha, weshalb war sie bei Ihnen? Sie wissen, dass sie vorgestern ermordet wurde?“
Sie nickte. „Ja, meine Zwillingsschwester hat es mir gesagt.“ Sie überlegte einen Augenblick, und erzählte dann die wesentlichen Einzelheiten ihrer Begegnung mit Renate. Die Augen der Polizisten wurden immer größer und Schubert schrieb hastig in sein Notizbuch.
„Deswegen bin ich hier in Bad Homburg. Gestern traf ich erstmals Julia und heute Abend lerne ich meine leibliche Mutter kennen.“ Sie beobachtete die Beamten. Berger wirkte gemütlich, obwohl er vermutlich unbequem sein konnte, wenn ihm etwas nicht passte. Schubert verkörperte eher den Typ eines Künstlers, der ein bisschen in einer eigenen Welt lebte. Sie bekam den Verdacht, dass er diesen Eindruck pflegte, um unterschätzt zu werden.
Harald Berger räusperte sich und schüttelte den Kopf. „Sachen gibt's! Haben Sie die Verstorbene noch einmal gesehen?“
„Nein.“
Er schien nachzudenken. „Sagen Sie, finden Sie es nicht merkwürdig, dass Frau Hubert Sie in Celle aufsucht, Ihnen Ihre tatsächliche Abstammung offenlegt und, kaum, dass Sie hier ankommen, ermordet wird?“ Die bisherige Freundlichkeit war einem provozierenden Unterton gewichen.
„Was denken Sie, worüber ich mir die ganze Zeit das Hirn zermartere? Der zeitliche Zusammenhang ist wirklich auffallend.“
„Wo haben Sie sich vorgestern Abend zwischen 18 und 20 Uhr aufgehalten?“
Sie erschrak, als Schubert sich zum ersten Mal mit schnarrender Stimme meldete. Sie rutschte im Sessel nach vorne. „Warum? Glauben Sie, ich hätte etwas mit dem Tod von Frau Hubert zu tun?“
Bergers Ton klang sofort versöhnlicher. „Wir wollen uns ein Gesamtbild machen. Beantworten Sie bitte die Frage meines Kollegen.“
Diana schluckte. „Hier im Hotel. Ich habe im Restaurant gegessen.“
„Kann das jemand bestätigen?“
„Ja, der Geschäftsführer. Er hat mich mit Julia verwechselt.“
Der Hauptkommissar ergriff erneut das Wort. „Gibt es irgendetwas, was Ihnen, außer dieser unglaublichen Geschichte, bei Frau Hubert eigenartig vorkam?“
Sie überlegte. Dann gab sie sich einen Ruck und erzählte den Polizisten von dem Zeitungsartikel mit dem handschriftlichen Vermerk.
Sie schauten sich einen Augenblick an, bevor sich Berger ihr wieder zuwandte. „Haben Sie die Seite hier?“
Sie nickte. „Oben in meinem Zimmer.“
***
Diana blickte den beiden Kommissaren hinterher. Ihre nackten Arme kribbelten, als ob Ameisen über sie wuselten.
Sie hatte an der Hotelrezeption eine Kopie des Artikels erstellen lassen und den Beamten übergeben.
Warum geschah der Mord just an dem Tag, als sie hier angekommen war? War das wirklich ein Zufall? Andererseits wusste bis auf Kai und Biggi niemand, dass sie hierher fahren würde. Welches Geheimnis verbarg sich hinter all dem? Die ganze Sache begann ihr unheimlich zu werden.
Schließlich stand sie auf, ging zum Lift und fuhr hinauf in ihr Zimmer. Dort zog sie eine Jogginghose, ein Sportshirt sowie ihre Laufschuhe an. Sie verließ den Raum, nahm dieses Mal die Treppe nach unten und durchquerte den Eingangsbereich. Mit eiligem Schritt erreichte sie die Kaiser-Friedrich-Promenade, überquerte die Straße und betrat den Kurpark. Sie sah kurz auf ihre Uhr und rannte los.
Joggen war für sie ein wichtiger Ausgleich zu ihrem Arbeitsalltag. Wenn sie einen Tag nicht laufen konnte, fühlte sie sich unzufrieden.
Sie bemerkte, dass ihr Tempo zu schnell war, ließ es dennoch zu. Es begann zu nieseln und bald darauf stärker zu regnen, ohne, dass es sie störte.
Ihre Gedanken umkreisten Renate und ihre leibliche Familie. Primär den mysteriösen Tod des Vaters. Zwischendurch drifteten sie zu Kai ab, auch ihre Adoptiveltern und Großeltern erschienen vor ihrem geistigen Auge. Ein schlechtes Gewissen stellte sich bei ihr ein, als sie an Biggi dachte, die sie derzeit in ihrer Praxis vertrat. Diana hatte sich, seit sie in Bad Homburg war, nicht bei ihr gemeldet. Das musste sie unbedingt nachholen.
Nach neunzig Minuten kehrte sie völlig erschöpft zurück und blieb eine Weile in der Hoteleinfahrt stehen, um den Puls zu beruhigen und normal atmen zu können. Sie hatte von der Laufstrecke kaum etwas wahrgenommen und war quasi wie in einem Tunnel gerannt.
Unter der Dusche war ihr, als ob sie die Vorkommnisse gerade abzuwaschen versuchte.
Nachdem sie sich abgetrocknet und die Haare geföhnt hatte, zog sie eine frische Bluse sowie ihren Sommerrock an. Dazu flache Schuhe, mit denen sie längere Strecken laufen konnte. Das Zimmer erschien ihr mit einem Mal eng und beklemmend.
Als sie das Hotel am frühen Nachmittag verließ, hatte es aufgehört zu regnen, immer größer werdende blaue Flecken am Himmel ließen sie auf einen Schirm verzichten. Das flaue Gefühl im Magen sagte ihr, dass sie etwas essen sollte. Sie ging die wenigen Meter bis zur Fußgängerzone und steuerte dort eine Metzgerei an, in der sie eine köstlich schmeckende Rindswurst mit Brot aß. Sie kannte diese Wurstsorte nicht, nahm sich deshalb vor, daheim beim Fleischer danach zu fragen.
Jetzt hatte sie Energie getankt und schlenderte durch die Ludwigstraße hinunter zum Kurpark zurück. Die Sonne sorgte für eine angenehme Wärme. Diana spürte eine beginnende Vorfreude auf den Besuch bei ihrer Mutter, gepaart mit einer vagen Unsicherheit. Was erwartete sie?
Mitten im Park entdeckte sie ein fremdländisch wirkendes Gebäude. Es handelte sich um vier Eckpfeiler, auf denen ein zweistöckiges Dach auflag. Figuren verzierten die Enden. Glöckchen bimmelten leise im Wind. Am beeindruckendsten fand sie die golden dekorierten Dachziegel, die von roten Punkten durchsetzt waren. Eine niedrige Mauer, die an zwei Seiten unterbrochen war, umgab das Gebilde. Sie glaubte, einen fernöstlichen Tempel vor sich zu haben. Interessiert las sie die Informationstafel und suchte mit ihrem Smartphone im Internet nach Erklärungen.
Im Jahr 1907 weilte der damalige thailändische König Chulalongkorn mit Herz- und Nierenproblemen in der Stadt, wo ihm mit einer Kur geholfen wurde. Zum Dank schenkte er Bad Homburg diesen Sala Thai, ein Gotteshaus. Diana faszinierte der im Sonnenlicht glänzende Pavillon, der eine unsagbare Ruhe ausstrahlte. Genau das, was sie jetzt brauchte. Sie blieb nahezu eine halbe Stunde dort. Schließlich gelang es ihr, abschalten.
Endlich raffte sie sich auf und spazierte durch den Jubiläumspark zur Altstadt und zum Kurfürstenschloss. Sie war froh, dass sie die flachen Schuhe angezogen hatte, denn das letzte Stück Weg zum Schlosshof war mit Kopfsteinpflaster bedeckt. Trotzdem spürte sie ihre Füße und Muskeln, die sich zunehmend beschwerten. Mental fühlte sie sich so frisch wie lange nicht mehr.
Vom Innenhof aus ließ sie den Blick über die Stadt bis hin zum Taunuskamm schweifen. Unweit von ihr entfernt arbeitete ein Handwerker.
„Entschuldigen Sie bitte.“ Er blickte interessiert auf. „Können Sie mir sagen, welcher Berg das ist, der mit den zwei Türmen?“
Der Mann lachte. „Klar. Das ist der Große Feldberg, mit 879 Metern die höchste Erhebung im Taunus. Auf seinem Plateau stehen ein Aussichtsturm und Sendeanlagen.“ Er schien stolz darüber zu sein, sein Heimatkundewissen ausbreiten zu dürfen. Sie hörte die letzten Worte wie aus weiter Entfernung, ihr Herz pochte plötzlich bis zum Hals. Das war der Ort, an dem ihr Vater gestorben war! Flüsternd bedankte sie sich bei dem Arbeiter, der sie irritiert ansah, und ging in aller Ruhe an das andere Ende des Hofes, wo sie sich auf eine Bank setzte.
Langsam beruhigte sie sich. Spontan nahm sie ihr Handy und rief Kai an. Sie erzählte ihm von ihrer Begegnung mit Julia und dem Termin bei ihrer Mutter. Außerdem berichtete sie von dem Besuch der Polizei. Ihr Mann gab sich am Telefon versöhnlicher und stellte eine Reihe von Fragen. Gleichwohl wurde Diana das Gefühl nicht los, dass er noch immer nicht mit ihrem Handeln einverstanden war. Sie glaubte vielmehr, dass er keine Lust mehr verspürte, mit ihr zu streiten, weil er erkannt hatte, dass sie sich von ihrem Vorhaben, ihre Familie zu treffen, ohnehin nicht abhalten ließe.
Als sie aufgelegt hatte, sah sie kurz auf die Uhr und bemerkte, dass Biggi Sprechstunde hatte. Diesen Anruf musste sie verschieben.
Sie seufzte und erhob sich. Ihr Weg führte durch die Straße Am Schulberg bergauf in die Fußgängerzone und später am Kurhaus vorbei zurück zum Hotel, wo sie sich vor den Eingang setzte und eine Tasse Kaffee gönnte.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich und in ihrem Magen stellte sich ein flaues Gefühl ein. Sie grübelte, wie die anstehende Begegnung werden würde. Sie war gespannt, ob sie eine zufriedenstellende Antwort auf die entscheidende Frage bekäme: Warum hatte ihre Mutter sie weggegeben?
Wenn das Gespräch negativ verliefe, stände sie auf und ginge. Dann führe sie morgen nach Celle. Sie war vierzig Jahre ohne diese Familie ausgekommen!
Sie wusste, dass sie sich etwas vormachte, denn der Schweiß auf dem Rücken strafte sie Lügen!
***
Julia holte Diana Viertel vor sechs in einem weißen Opel Corsa mit der Aufschrift BioGenüsse – Leben Sie gesund vor dem Hoteleingang ab.
Wenige Minuten später bogen sie in der Nähe des Schlosses in die Tannenwaldallee ab. Wer wohnte in den herrschaftlichen Häusern mit deren riesigen Grundstücken?
Weiter ging es linkerseits in eine schmale Straße. Kurz darauf bremste Julia vor einem eisernen, zweiflügeligen Tor. Eine mehr als zwei Meter hohe Hecke verdeckte den Einblick in das Anwesen. Sie nahm einen Funksender. Sofort glitten die Tore im Zeitlupentempo auf.
Diana stieß einen überraschten Schrei aus, als die lange Auffahrt auftauchte. Das war unzweifelhaft die Villa auf dem Foto, das ihr Renate Hubert in Celle gegeben hatte.
Ihre Zwillingsschwester lachte. „Sieht dekadent aus, nicht wahr?“
„Entschuldige, ich hatte mit so etwas nicht gerechnet.“ Dianas Blut geriet in Wallung. War das hier ihre Welt?
Julia parkte das Auto auf einem geschotterten Streifen, sie stiegen aus. Diana folgte ihrer Schwester zum rechten Gebäude. Diese öffnete die Haustür, sie betraten die Eingangshalle. Als ihr die Dimension des Raums bewusst wurde, wäre Diana um ein Haar auf dem Absatz umgekehrt und weggelaufen. Im Vergleich zu ihrem, von den Großeltern geerbten, Fachwerkhaus, handelte es hierbei um ein Schloss! Julia ging auf eine breite dunkle Holztür zu, durch die sie in das Wohnzimmer eintraten.
Man musste nicht Medizin studiert haben, um zu erkennen, dass die weißhaarige Frau, die in einem Sessel neben dem Kamin saß, dem Tode geweiht war und unter Schmerzen litt. Im krassen Gegensatz dazu leuchteten die flink hin und her schweifenden Augen. Diana zitterte ein wenig und ihr Mund wurde dermaßen trocken, als ob sie die letzten Stunden in einer Wüste ohne Wasser verbracht habe.
„Mein Kind, herzlich willkommen. Lass mich dich ansehen.“ Barbara streckte die Hände aus.
Diana blieb stehen, saß dort doch eine Wildfremde, die so tat, als ob ihre Tochter aus einem Kurzurlaub komme. Dennoch fühlte sie, dass sich ihre Mutter ehrlich über ihr Erscheinen freute, und begrüßte sie.
„Nehmt Platz, Mädchen.“ Die Kranke zeigte auf den zweiten Sessel und ein Sofa. „Gießt euch Kaffee ein und esst von dem Kuchen. Wir haben eine Menge zu erzählen.“ Auch die feste Stimme passte nicht zu ihrem äußeren Erscheinungsbild.
Sie schaute Diana an, während Julia die Tassen füllte. „Ich bin froh, dass du gekommen bist, und kann mir vorstellen, wie du dich fühlen musst. Ich weiß, dass ich eine Erklärung schuldig bin!“
Barbara trank einen Schluck. „Euer Vater und ich haben in unserer Jugend ein wildes Leben geführt. Ich liebte ihn abgöttisch. Die kleine Studentin aus einfachen Verhältnissen, wie ich es war, und er, der Unternehmersohn. Einmal haben wir nicht aufgepasst. Ich vergaß die Pille. Da war ich neunzehn. Kurz zuvor hatte ich das Studium begonnen. Seine Eltern, die mich von Anfang an abwiesen, gebärdeten sich fuchsteufelswild. Sie forderten die Abtreibung! Was ich strikt ablehnte! Karl-Heinz stand zunächst auf der Seite der Alten. Es stellte sich heraus, dass ich Zwillinge erwartete. Daraufhin kam es zu einer schrecklichen Erpressung: Der Vater verlangte, dass ich zumindest ein Kind zur Adoption freigeben müsse. Ansonsten werde Karl-Heinz die Vaterschaft leugnen und alle juristischen Hebel in Bewegung setzen, dass ich nie wieder einen Fuß auf den Boden bekäme. Ich war geschockt und verzweifelt!“ Sie nahm vorsichtig die Tasse und trank einen Schluck.
Diana hörte gebannt zu, ihr Herz begann zu rasen.
Die Mutter fuhr fort. „Einerseits wusste ich, dass Lautrup senior das richtige Netzwerk besaß und ich keine Chance gegen ihn gehabt hätte. Anderseits liebte ich Karl-Heinz trotz seines Verhaltens. Naiv, wie ich war, sah ich in ihm den Schlüssel, in eine unbeschwerte Welt einzutreten. Letztlich willigte ich ein, dich, Diana, wegzugeben.“
„Warum sie“, fragte Julia.
Barbara zögerte. „Du wurdest zuerst geboren. Das hat den Ausschlag gegeben,“ flüsterte sie.
Die Geschichte hörte sich unwirklich an. Die Ausführungen klangen sachlich und dennoch spürte Diana, dass sich ihre Mutter sehr beherrschen musste, denn einige Male bebte ihre Stimme. Sie war sicherlich nicht derart gefasst und geradlinig, wie sie vorgab!
Was Diana vor allem schockte, war der Umstand, dass ihr Schicksal an zwanzig Minuten gehangen hatte! Unglaublich!
Julia schien ähnlich irritiert zu sein. „Wie ging es weiter?“
„Wir heirateten und ich zog in die Familie ein. Damit begann die härteste Zeit in meinem Leben. Der Vater war nicht nur ein Patriarch, wie er im Bilderbuch stand, sondern behandelte mich wie den letzten Dreck. Karl-Heinz versuchte, mir beizustehen, war ihm gegenüber aber viel zu schwach. Ich schwor mir, stark zu sein und Widerstand zu leisten. Ich wollte verhindern, eine sklavische Ehefrau und Schwiegertochter zu werden. Dieser Kampf, den ich neben dem Studium führte und der mir einige Erniedrigungen bescherte, dauerte ein Jahr.“
Ihr brutaler Gesichtsausdruck spiegelte Hass wider. Was mochte passiert sein?
Urplötzlich wurden Barbaras Züge weich. „Ich hatte unsagbares Glück. Das Scheusal starb plötzlich während eines Urlaubs. Wir bekamen unsere Chance!“
Die Zwillinge starrten ihre Mutter an. Diana war nicht fähig zu sprechen. Die geschilderten Erlebnisse trafen sie bis ins Mark.
„Davon hast uns nie erzählt!“, meldete sich Julia.
„Das hätte euch nur belastet.“ Barbara machte eine winzige Pause. „Außerdem bin ich bis zum heutigen Tag alles andere als stolz auf das, was damals geschah! Ich bezahlte die Freiheit und ein besseres Leben, indem ich meine Tochter verstieß!“ Sie zögerte wieder. „Ich habe furchtbare Schuld bei all dem auf mich geladen!“, flüsterte sie.
Julia ließ nicht locker. „Wolltest du nie wissen, was aus Diana geworden war?“
„Doch!“ Sie wandte sich Diana zu. „Ich beauftragte Hugo ein paar Monate nach der Hochzeit, dich zu suchen. Er hatte keinen Erfolg. Die Behörden waren nicht bereit, Auskunft zu gewähren. Bis gestern hörte ich nichts von dir und hatte die Hoffnung längst aufgegeben, dass wir uns wiedersehen.“
Diana saß steif im Sessel, ihr Kopf war leer. Wie schaffte sie es, ruhig zu bleiben? Spätestens jetzt war der Augenblick gekommen, um aufzuspringen und Barbara zu beschimpfen. Die lapidar klingende Begründung, dass einige bornierte und grausame Menschen ihrem Leben einen anderen Verlauf gaben, hätte sie gehen und nie mehr wiederkommen lassen sollen. Stattdessen saß sie hier still, und betrachtete die Weißhaarige. Warum? War es die Wärme, die ihre Stimme jetzt ausstrahlte und überhaupt nicht zum Inhalt passte? Die lachenden und herzlichen Augen, die im Moment Freude ausdrückten? Irgendetwas ließ sie trotz der rationalen Rede und den schrecklichen Erlebnissen eine Verbindung zu der Frau entwickeln. Sie spürte die Zerrissenheit, die diese damals in sich gehabt haben musste.
Plötzlich ergriff Julia das Wort. „Wieso hast du mir nie gesagt, dass ich eine Zwillingsschwester habe?“
„Ich schämte mich und konnte es nicht zugeben! Irgendwann war es zu spät!“
„Du machst es dir sehr einfach, Mama!“ Als die Angesprochene aufsah, sprach Julia weiter. „Ist die Geschichte auch der Grund, warum ich Papa gleichgültig war?“
Barbara erschrak sichtlich. „Vater hat dich geliebt!“
„Hör doch auf!“ Julias wurde lauter. „Für ihn gab es nur Björn und Christian. Du warst meine einzige Bezugsperson!“
Die Mutter gab keine Antwort und stierte vor sich hin.
„Woher hat Renate gewusst, wo Diana lebt? Hast du eine Idee?“ Julia hatte sich anscheinend etwas beruhigt.
Barbara seufzte. „Wenn ich das wüsste! Wir gern würde ich sie fragen! Schließlich hat sie mir ein wunderbares Geschenk gemacht!“ Ihre Augen glänzten feucht. „Jetzt ist sie tot!“, murmelte sie.
Die Stimme wurde fester. „Julia, ruf deine Brüder an. Sie sollen morgen hierher kommen. Verrate nicht den Grund für das Treffen. Ich möchte ihnen das lieber selbst sagen.“
Das Gespräch erschöpfte die kranke Frau unübersehbar. Unauffällig stupste Diana ihre Zwillingsschwester an, die sofort verstand und sich erhob.
„Bitte vergebt mir!“, flüsterte die Mutter zum Abschied.
***
Barbaras Körper war ein einziger Schmerz. Wie sollte das weitergehen? Sie fühlte sich müde, nach Renates Tod mehr denn je. Sie vermisste ihre Freundin unendlich. Vor allem als Gefährtin, mit der sie ihre Gedanken austauschen und der sie vertrauen konnte.
Sie nahm das Telefon vom Tischchen neben ihr, öffnete das Adressbuch und suchte eine Nummer. Schließlich wählte sie den Anschluss von Jörg Bahlinger.
Sie hielt sich nicht lange mit Vorreden auf. „Guten Abend, Jörg. Barbara hier. Ich benötige deine Hilfe.“
„Hallo Barbara, das ist ja eine Überraschung. Wie geht es dir?“ Der Anwalt schien sich über den Anruf zu freuen.
„Muss gehen. Wie gesagt, du musst mir helfen. Kannst du morgen Vormittag zu mir kommen? Ich möchte ein neues Testament aufsetzen. Sagen wir, 10 Uhr?“
Er lachte lauthals. „Ganz die Alte! Du weißt schon, dass morgen Samstag ist?“
Ihr Ton wurde eine Spur härter. „Ich würde nicht darum bitten, wenn es nicht dringend wäre.“
„Da du mich dermaßen charmant einlädst, besuche ich dich selbstverständlich“, lenkte er ein.
„Danke.“ Sie legte auf. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen und sie bekam einen heftigen Hustenanfall, der ihre Schmerzen unerträglich werden ließ. Sie hatte Mühe, Luft zu bekommen.
Kurz darauf drückte sie sich vorsichtig in ihrem Sessel hoch und erhob sich wackelig. Sie schleppte sich zu einem Sekretär, dessen oberste Schublade sie öffnete. Aus der hintersten Ecke holte sie ein Schächtelchen hervor, das sie aufklappte. Zufrieden registrierte sie, dass der Inhalt genauso da lag wie vor zwei Jahren, als sie das Kästchen zuletzt in den Händen hielt. Sie stellte es an seinen Platz zurück, schloss das Schubfach und bewegte sich im Zeitlupentempo zum Fenster, wo sie sich auf der Fensterbank abstützte und einem Meisenpaar zuschaute, das in der Eiche spielte. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht.