Читать книгу Verfluchtes Taunusblut - Osvin Nöller - Страница 6

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4. Mai 2016

Diana schloss die Haustür auf und prallte gegen eine unsichtbare Wand aus abgestandener Luft.

Ihr Kopf dröhnte, während sich Schweiß den Weg, von ihrem Nacken ausgehend, den Rücken entlang nach unten suchte. Jeder Herzschlag schickte einen Stich in ihren Schädel.

Sie kickte die Pumps von den Füßen und schleppte die Einkaufstüten in die Küche, wo sie die Lebensmittel im Kühlschrank verstaute.

Erschöpft leerte sie eine angebrochene Wasserflasche in einem Zug, krempelte die Ärmel ihrer Baumwollbluse hoch und lief zur Spüle. Sie drehte den Wasserhahn auf, ließ das Wasser laufen, bis es eiskalt war und hielt die Unterarme in den Wasserstrahl.

Wie lange würde diese Hitze sie noch quälen? Es wurde langsam unerträglich!

Seit mehr als einer Woche waren es über 30 Grad im Schatten, was sie in Celle bisher selten erlebt hatte.

Nicht allein das Wetter belastete sie! Am Morgen war etwas geschehen, das sie seitdem beschäftigte. Es traf sich zwar gut, dass das Wartezimmer in ihrer Praxis den ganzen Tag voll mit kleinen Patienten gewesen war, die meist unter einem in den Schulen und Kindergärten grassierenden Darmvirus litten. Das hatte sie, ebenso wie der anschließende Einkaufsstress vor dem morgigen Feiertag im Supermarkt, abgelenkt. Hier daheim war jedoch leider alles wieder sofort präsent!

Sie ging in das Wohnzimmer und setzte sich an den Esszimmertisch, auf dem nach wie vor der Brief mit den beiden Fotos lag, den sie am Morgen aus dem Briefkasten gefischt hatte.

Warum sollten die Zeilen verschwunden sein? Hatte sie ernsthaft geglaubt, es sei ein böser Traum gewesen? Sie nahm das Blatt hoch und las erneut, was sie nicht glauben konnte:


Diana ließ den Brief auf den Tisch fallen, stützte die Ellbogen auf und vergrub das Gesicht in den Händen.

Ihre Eltern waren tot! Gestorben, als sie klein war! Was sollte das? Sie stöhnte und nahm sich den Umschlag vor: Ihr Name stand darauf: Dr. Diana Fiedler.

Besonders verwirrte sie die Fotos: Das Mädchen auf dem einen Bild, das ihren Jugendfotos unglaublich glich. Sie wusste genau, dass sie es nicht sein konnte, denn sie hatte in diesem Alter nie solche offenbar teure Kleidung besessen. Außerdem war ihr das herrschaftliche Portal der Villa, vor dem die Aufnahme entstanden war, unbekannt. Wer war die Frau auf dem zweiten Foto, die ihr ebenfalls ähnelte?

Hatte sich da jemand einen schlechten Scherz erlaubt? Sie hatte niemandem von dem Brief erzählt, nicht einmal ihrem Mann Kai, der am Morgen bereits auf dem Weg in seine Apotheke gewesen war, als sie das Schreiben gefunden hatte. Zuerst wollte sie wissen, was das alles zu bedeuten hatte.

Während sie grübelte, verdunkelte sich der Raum schlagartig. Sie stand auf und ging zum Fenster. Bedrohlich hatte sich der Himmel im Westen schwarzblau verfärbt, so als ob man schmutziges Wasser in das bisher leuchtende Blau geschüttet hätte.

Der Rasen musste gemäht werden, bevor es losging! Sie hastete die Treppe hinauf in das Schlafzimmer. Dort zog sie die Jeans, die Baumwollbluse sowie die Söckchen aus und rannte, nur mit Slip und BH bekleidet hinunter in den Keller. Hier sprang sie in ihre bequeme, abgewetzte Gartenhose und streifte ein löchriges T-Shirt über. Schnell band sie ihre Haare mit einem Haargummi zusammen und schlüpfte in ihre Gummischuhe.

Sie eilte die Außentreppe hoch in den Garten. In dem Moment, als sie den Rasenmäher aus der Garage holen wollte, sah sie eine ältere, etwas pummelige Person am Eingangstor stehen, die ihr zuwinkte.

„Guten Tag, Frau Dr. Fiedler. Haben Sie ein paar Minuten für mich? Ich möchte gern mit Ihnen reden“, rief diese ihr durch den Vorgarten zu.

Diana runzelte die Stirn. Ihr wurde es schlagartig eiskalt. Renate Hubert! Das musste sie sein!

Sie ging zögernd an das Tor und stand der Besucherin gegenüber, die zu ihr hochblickte. Das schwarze, ärmellose Kleid, dunkelgraue Sneakers und ihre dunklen, kurz geschnittenen Haare passten zu ihr. Über ihrer Schulter hing eine zu groß geratene Handtasche.

Diana beschloss, höflich zu bleiben. „Hallo, kennen wir uns?“

„Nein, oder besser gesagt, ich weiß, wer Sie sind. Ich heiße Renate Hubert und habe Ihnen geschrieben.“

Der Name traf sie trotz ihrer Vorahnung wie ein Blitz und in ihrem Kopf begann es noch stärker zu hämmern. Demonstrativ verschränkte sie die Arme.

„Sie sind das? Was bezwecken Sie mit diesem Pamphlet? Ist es ein Spaß für Sie, andere Leute zu verunsichern?“ Die letzten Worte schrie sie der Besucherin entgegen, die zwar zusammenzuckte, ansonsten hingegen ruhig blieb.

„Ich entschuldige mich, falls ich Sie verärgert habe. Ich möchte nur helfen! Es geht mir einzig um Ihre Mutter und Sie, glauben Sie mir das bitte!“

„Mama ist seit dreißig Jahren tot!“, antwortete Diana ein bisschen gelassener, jedoch nicht weniger bestimmt. „Wie können Sie behaupten, dass sie lebt?“

„Ich rede nicht von ihrer Adoptivmutter, sondern von Ihrer leiblichen! Hören Sie mir wenigstens einen Moment zu!“

„Ich wurde nicht adoptiert, gute Frau!“ Der Druck in ihrem Bauch riet ihr, dass es der richtige Augenblick sei, das Gespräch zu beenden. Schmerzhaft drückten sich die Fingernägel in ihre Handflächen. „Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber ich habe weder Zeit noch Lust, mir einen solchen Blödsinn weiter anzuhören.“ Sie schleuderte der älteren Dame ihre Worte entgegen.

Diese wurde kreidebleich. Gerade, als Diana sich umdrehen und zurück zur Garage gehen wollte, öffnete Renate hastig ihre Handtasche. „Oh Gott, Sie wissen nichts von Ihrer Adoption? Warten Sie bitte, jetzt wird mir klar, wie Ihnen das vorkommen muss. Ich besitze die Kopie eines Dokuments, das beweist, dass ich nicht lüge.“ Sie reichte ein Papier über den Zaun.

In Diana entbrannte ein Kampf. Sie sollte das Blatt nicht nehmen. Wenn sie es allerdings nicht tat, würde sie nie Gewissheit erlangen, ob die Besucherin nicht doch die Wahrheit sagte. Plötzlich sah sie das Bild mit der älteren Frau aus dem Umschlag vor ihrem geistigen Auge.

Als sie die Seite in den Händen hielt und las, begann sie am ganzen Körper zu zittern.

Es handelte sich um ein Schriftstück aus dem Jahr 1976, das besagte, dass eine Barbara Kessler ihre Tochter Diana zur Adoption freigegeben hatte. Als Geburtsdatum für das Mädchen war der 12. Februar und als Geburtsort Frankfurt am Main eingetragen.

Ihr wurde schwindlig und sie griff nach dem Torpfosten. Die Daten stimmten exakt mit ihren eigenen überein! Das durfte nicht sein!

„Frau Dr. Fiedler“, flehte Renate Hubert mit sanfter Stimme, „lassen Sie mich bitte eintreten. Ich besitze weitere Informationen, die wir nicht auf der Straße besprechen sollten.“

Wie in Trance schloss Diana das Tor auf und führte ihre Besucherin auf die Terrasse hinter dem Haus, wo sie sich an einen Gartentisch setzten. Sie hörte die Ausführungen wie durch Watte gedämpft.

„Ich bin eine Jugendfreundin Ihrer leiblichen Eltern. Ihre Mutter Barbara wurde schwanger, als die beiden neunzehn Jahre alt und noch nicht verheiratet waren. Ihr Vater Karl-Heinz war mit seiner zukünftigen Rolle völlig überfordert und bedrängte Barbara, etwas gegen die Schwangerschaft zu unternehmen. Sie wehrte sich zunächst, gab Sie dann doch zur Adoption frei. Das hat sie ihr ganzes Leben lang bereut. Sie lebt in Bad Homburg, in der Nähe von Frankfurt, und leidet unheilbar an Leukämie. Sie wird bald sterben. Ich fände es großartig, wenn Sie sich einmal treffen könnten!“

Diana erhob sich mit zitternden Knien, schob die Terrassentür auf und schlich im Wohnzimmer zu einem Sideboard. Von einem Tablett nahm sie eine Flasche, öffnete diese und goss sich Kais Lieblingswhisky in ein Becherglas ein. Die Gedanken jagten durch ihren Kopf, gleichzeitig rann ihr die rauchige Flüssigkeit durch die Kehle.

Sie stellte das Glas ab, ging langsam zurück auf die Terrasse und blieb hinter ihrem Stuhl stehen. „Was ist mit meinem …, was ist mit Karl-Heinz?“

„Er ist tot, aber das ist eine lange Geschichte.“ Renate zeigte auf einen Ordner, den sie auf den Tisch gelegt hatte. „Hier drin sind weitere Unterlagen, die Ihnen mehr über Ihre Familie verraten. Studieren Sie das in Ruhe. Ich verabschiede mich jetzt.“ Sie erhob sich.

Am Eingangstor gab Diana Renate stumm die Hand. Sie wusste einfach nicht, was sie hätte sagen sollen, und war froh darüber, dass die Besucherin sie verließ.

Renate lächelte. „Lassen Sie alles sacken und treffen Sie bitte die richtige Entscheidung.“

„Wer ist das auf den Bildern aus dem Umschlag?“, flüsterte Diana.

„Die Frau ist Ihre Mutter und das Mädchen Ihre Zwillingsschwester Julia.“ Renate musterte sie von oben bis unten und schüttelte plötzlich den Kopf.

„Ihre Ähnlichkeit mit Julia! Unglaublich! Sie haben sogar dieselben brünetten Haare!“

Bevor sie antworten konnte, drehte sich die alte Dame um und eilte die Straße hinunter. In diesem Moment zuckte ein Blitz vom Himmel, der nahezu zeitgleich in ein Donnergrollen überging. Erste Regentropfen klatschten auf den Asphalt.

***

Diana surfte mit ihrem Laptop im Internet. Unterdessen verwandelten die Klänge von Vivaldis Vier Jahreszeiten das Wohnzimmer in einen Konzertsaal. Sie summte die Musik mit, was sie entspannen ließ. Auf dem Esszimmertisch lag der Inhalt aus Renates Mappe ausgebreitet.

Im Zimmer war es schummrig. Der Regen trommelte gegen die Fenster, wo er in Sturzbächen an den Scheiben entlanglief. Blitze, die sich überlappten, zeugten davon, dass das Gewitter zurückgekommen war. Lang anhaltende Donner bildeten einen grotesken Kontrast zu den leichten Tönen von Vivaldis Der Frühling.

Die Welt schien zu versinken, während sie das Konzert mit der Fernbedienung lauter stellte.

Plötzlich fiel ein Schatten auf den Tisch. Jemand bewegte sich hinter ihr! Sofort pochte ihr Herz bis zum Hals und sie erstarrte, unfähig zu schreien.

„Mensch Diana“, schrie Kai gegen die Musik an, „sorry, ich wollte dich nicht erschrecken!“ Er nahm die Fernsteuerung und schaltete die Stereoanlage aus. „Was für ein Sauwetter! Ich bin klatschnass! Was machst du hier im Dunkeln?“

Sie grinste. Ihm lief das Wasser über das Gesicht und in den Kragen. Das hellblaue Hemd hatte sich an verschiedenen Stellen dunkel verfärbt.

Kai glich einem riesigen, begossenen Pudel! „Wieso steht dein Golf mitten in der Einfahrt? Ich musste den ganzen Weg hochrennen und seh aus, wie durch den Gully gezogen.“ Er stutzte. „Warum sitzt du in Gartenklamotten im Wohnzimmer und erfreust die Nachbarschaft mit einem Konzert?“

Sie sprang auf und rannte an ihm vorbei zur Zimmertür, wobei sie ihm „du hast geraucht!“ zuraunte.

Als sie aus der Küche zurückkam, betrachtete er ein Foto. „Was sind das für Bilder? Die kenn ich gar nicht! Das bist doch du!“ Er griff nach einer weiteren Fotografie.

Sie nahm ihm die Aufnahmen aus der Hand, gab ihm ein Handtuch und hockte sich wieder auf ihren Stuhl.

„Das bin nicht ich. Du wirst nicht glauben, was ich erlebt habe!“ Ihre Worte überschlugen sich, als sie ihm von ihrem Besuch berichtete. Anfangs trocknete er sich ab, hielt dann mit einem Mal inne und setzte sich neben sie.

„Das ist vermutlich meine Zwillingsschwester.“ Sie hob einen Zeitungsartikel vom Tisch. Zwei Frauen lächelten in die Kamera. Unter dem Bild stand: Die Ärztin und Unternehmerin Julia Lautrup (links) wird heute 40 Jahre alt. Rechts ihre Mutter, die Mäzenin Barbara Lautrup. Bad Homburg, 12.02.2016.

Kai kniff die Augen zusammen. „Das ist dein Geburtstag und die da“, er deutete auf die Jüngere, „sieht genau so aus wie du!“ Er nahm ihr den Zeitungsausschnitt aus der Hand.

„Stimmt. Sieh hier, sie ist ebenfalls Medizinerin, allerdings Gynäkologin.“ Sie zeigte auf ihren Computer. „Das ist die Website ihrer Praxis. Die Ältere ist wohl meine leibliche Mutter!“

Kai zog die Augenbrauen hoch. „Ich weiß nach wie vor nicht, was das hier wird! Du müsstest doch wissen, wenn du adoptiert worden wärst!“ Er legte den Artikel zurück auf den Tisch. „Das wird eine Fälschung sein!“

Diana grinste schief. „Das dachte ich anfangs auch. Je länger ich mir das ansehe, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass diese Hubert vorhin die Wahrheit gesagt hat! Denkst du, man stellt Webseiten ins Netz, um mir das einzureden? Es wimmelt im Internet von Einträgen zu der Familie! Das kann man nicht fälschen, Kai!“

Ihr Mann erhob sich. „Ich bin trotz allem der Ansicht, dass es für den Spuk eine logische Erklärung geben muss und die Frau eine Betrügerin ist. Ich gestehe ja, dass das echt aussieht, glaube es trotzdem nicht. Pass auf, die taucht wieder auf und verlangt Geld. Für deine angebliche Mutter!“

„Wir wollen es nicht wahrhaben! Bald wissen wir, ob es stimmt. Ich habe Gunter angerufen und ihm die Unterlagen per Mail geschickt. Er versucht, das zu überprüfen, und will sich Anfang kommender Woche melden.“

Kai fasste sich an die Nase. „Gute Idee! Ein Anwalt hat bessere Möglichkeiten. Dann lass uns abwarten. Ich hab Hunger. Was gibt es denn?“

Sie zögerte kurz. „Ich hab übrigens für den nächsten Donnerstag einen Termin für eine Vorsorgeuntersuchung bei meiner Zwillingsschwester in Bad Homburg gemacht!“

Er schüttelte den Kopf und seine Stimme wurde hart. „Was hast du? Das verstehe ich jetzt nicht! Wart erst mal ab, was Gunter rausfindet! Schnellschüsse bringen nichts!“

Ihr Magen zog sich zusammen, doch sie wollte den sich anbahnenden Streit vermeiden. „Das ist nicht alles! Sieh hier.“ Sie hielt ihm einen anderen Zeitungsartikel entgegen. „Mein leiblicher Vater ist vor einigen Jahren mit dem Flugzeug abgestürzt. Schau dir die Seite genau an!“

Verfluchtes Taunusblut

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