Читать книгу Die Verschwörung der Schatten - Otto Eicke - Страница 7
3. Die ‚Hüter des Lichts‘
ОглавлениеDer Ritt dieses Tages war ungewöhnlich anstrengend. Schuld daran trug für Halef und mich zunächst der Verlust unserer unvergleichlichen Rappen. Es ist auch für einen gewandten Reiter eine Pein, auf einem minderwertigen Gaul zu sitzen. Ferner fehlten uns die gewohnten Sättel und endlich sorgte das unwegsame, bergige, oft steinige Gelände redlich dafür, in uns auch nicht das geringste Behagen aufkommen zu lassen.
Wenn in unserer Lage von Behagen überhaupt hätte die Rede sein können! Sich als Reisender in fremden, halbzivilisierten Landstrichen der unentbehrlichsten Dinge, der Waffen und der Reittiere, berauben zu lassen, den Räubern nachzujagen, und zwar in Gesellschaft von höchst unzuverlässigen Begleitern, ständig darauf gefasst, einer Heimtücke begegnen zu müssen, das sind Umstände, die auch einem unerschrockenen, selbstsicheren Mann zu schaffen machen.
Melef und seine Stammesgenossen zeigten sich heute von einer wenig liebenswürdigen Seite. Seitdem ich am Morgen nach der Entdeckung des Diebstahls so energisch aufgetreten war, hüllten sie sich in trotziges Schweigen. Uns konnte das recht sein. Es gelüstete uns nicht nach einer Plauderei mit ihnen. Aber ihr Verhalten vermehrte doch das Unbehagen, das Gefühl der Unsicherheit.
So kam es, dass ich mit Halef schon im Laufe des Vormittags hinter den Kurden zurückblieb. Ich mochte nicht ständig den Nachfolgenden den ungedeckten Rücken bieten. Freilich hatte das auch seine Schattenseite. Ich musste mich nun ganz der Führung Melefs überlassen, während anfangs ich die Richtung des Rittes angab, indem ich mich an die Spuren der Pferdediebe hielt.
Halef mochte das ebenso erwägen wie ich. Sobald der Klang unserer Stimmen nicht mehr bis zu den Kurden dringen konnte, öffnete er die Schleusen seiner erprobten Beredsamkeit.
„Sihdi, fürchtest du dich vor den armseligen Flinten dieser Leute? Ich sage dir, dieser Melef ist nichts als ein ganz gewöhnlicher Herambas61, dem ich am liebsten mit der Eindringlichkeit meiner Kurbatsch und mit der Deutlichkeit meiner Fäuste zeigen möchte, was ich von ihm halte. Und sein Gefährte, der so schief auf seinem Gaul sitzt wie der graue Röhrenhut auf dem Kopf deines Freundes Lindsay...“
„Halef“, mahnte ich, „beleidige meinen Freund nicht! Hol dir deine Vergleiche anderswo her! Was sollte überhaupt deine Frage wegen meiner Furcht? Weil ich zurückbleibe?“
„Sihdi, ich sehe, dass die Breite deines Verstandes...“
„...der Länge des deinigen zumindest gleichkommt! Schon gut! Ja, ich möchte den beiden nicht unausgesetzt den Rücken bieten. Aber das nenne ich Vorsicht, noch lange nicht Furcht.“
Er lächelte überlegen.
„Allah kerîm – Gott ist gnädig! Er verzeihe dir, dass du die Begriffe verwechselst wie eine Bent el Umm62 die Gewürze, wenn ihre Gedanken beim Kochen dem Gebieter ihres Herzens statt der Zubereitung der Speisen gelten, sodass sie die Salsa63 verdirbt und der Herr des Zeltes sich schämen muss vor den Gästen, die er...“
„Halef“, unterbrach ich ihn abermals, „bleib bei der Sache! Du beschuldigst mich der Begriffsverwechslung. Wieso?“
„Weil du Vorsicht nennst, was in Wirklichkeit die größte Unvorsichtigkeit ist.“
„Das Zurückbleiben?“
„Ja, Sihdi! Bedenke, dass du dich damit ganz der Führung dieser Kurden überlassen hast! Wie nun, wenn man uns von der Fährte fort und womöglich gar in einen Hinterhalt lockt!“
„Das alles habe ich bedacht und grad darum überließ ich Melef die Führung.“
„Allah akbar – Gott ist groß! Er kennt jede Verborgenheit unserer Gedanken und versteht jede Unverständlichkeit unserer Entschlüsse. Ich aber kann dich nicht begreifen.“
„So will ich der Mangelhaftigkeit deines Begriffsvermögens zu Hilfe kommen...“
„Sihdi!“
„...und will dich daran erinnern, dass ich in schwierigen und gefährlichen Lagen gewohnheitsmäßig nach oft bewährten Grundsätzen handele, die du eigentlich kennen solltest. Ich will diesen Melef auf die Probe stellen.“
„Ob er versucht, uns irrezuführen oder nicht?“
„Ja.“
„Sihdi, das begreife ich erst recht nicht. Da kommst du mir vor wie ein Mann, der in einem Kellek den Phrat64 überquert und mitten auf dem Strom auf den unsinnigen Einfall kommt, zu versuchen, ob das Wasser einen Menschen trägt oder nicht. Er springt hinein und ertrinkt, weil er des Schwimmens nicht kundig ist. Wenn er dann unten auf den Grund des Flusses anlangt, kann er den Fischen und all dem hässlichen Wassergetier erzählen, wie seine Probe ausgefallen ist. Er hat ja nun Gewissheit, wenn er sie auch mit dem Leben bezahlt hat. Genauso wird es uns ergehen. Wenn uns diese Schurken da vorn den Weg über es Sirath, die Todesbrücke, gewiesen haben, statt den zu unserem geraubtem Eigentum, dann können wir den Seelen unserer Ahnen, die wir in den sieben Himmeln des Propheten antreffen, melden, dass wir uns von der Unzuverlässigkeit der Kurden überzeugt haben.“
Ich hatte ihn ruhig ausreden lassen, weil mir sein bildhaftes Schwatzen die Unannehmlichkeiten dieses unbehaglichen Rittes würzte. Er musste mich eigentlich als einen Mann kennen, der nicht blind und dumm in ein Unglück hineintappt.
Das sagte ich ihm auch und dann erklärte ich ihm meine Gründe und meine Vorausberechnung.
„Die Spuren der Pferdediebe sind schwer zu verfolgen. Nur in grasigen Talgründen sind sie deutlich ausgeprägt. Meist aber haben wir steinigen Boden, wo ich sie jedes Mal erst mühsam suchen müsste. Dabei kämen wir so langsam vorwärts, dass die beiden Spitzbuben inzwischen mühelos Zeit fänden, sich und ihre Beute für immer in Sicherheit zu bringen. Sie haben ohnehin einen Vorsprung von Stunden. Darum mache ich aus der Not eine Tugend, wie man das in meiner Heimat nennt. Verstehst du das?“
„Nicht ganz! Sprich weiter, Sihdi!“
„Ich stelle mich, als traute ich Melef unbedingt, und überlasse ihm die Führung. Er nimmt es an und gibt damit schon stillschweigend zu, über den Weg der Diebe unterrichtet zu sein, denn von Fährtenlesen ist bei ihm nicht die Rede. Dieses Verfahren schützt uns vor einer heimtückischen Kugel von hinten. Weiter wiegt es die Kurden in Sicherheit, sodass sie sich, falls sie überhaupt einen Streich gegen uns planen, nicht lange besinnen werden, ihn auszuführen. Und dem können wir, da wir auf alles gefasst sind, voraussichtlich begegnen. Drittens aber schaffe ich so am schnellsten Klarheit zwischen uns und ihnen. Führt uns Melef wirklich hinter den Dieben her, so müssen wir dort, wo es Gras, Moos, feuchten Boden oder sonst günstiges Gelände gibt, wieder auf die deutlich sichtbare Fährte der Verfolgten stoßen. Das kann ich jeweils mit Sicherheit feststellen. Bleibt die Fährte unter den gegebenen Umständen aus, so weiß ich, dass Melef uns zu betrügen sucht.“
„Und dann?“, fragte Halef, da ich schwieg.
„Sag lieber du, was dann zu tun ist! Du bist der Beschützer.“
Ich kannte doch meinen Halef. Ich wusste, was kommen würde. Seine Voreiligkeit würde ihn zu einer Unbesonnenheit treiben. Und da ich dem vorbeugen wollte, sollte er Farbe bekennen. Dann konnte ich ihn dämpfen. Das half mehr als eine leere Ermahnung.
Und richtig! Er fühlte sich in seiner Rolle als Beschützer. Seine Augen blitzten vor Stolz und Tatendrang. Er warf den rechten Arm in die Luft.
„Ja, Sihdi, ich weiß, was dann geschieht. Ein Glück, dass die Räuber mir die Doppelpistole gelassen haben so wie dir deine Revolver und den persischen Dolch. Sie steckten so tief in unseren Gürteln, dass es wohl nicht möglich war, sie herauszuziehen, ohne uns trotz unserer Betäubung aufzuwecken. Wenn wir die beiden Kurden als Verräter erkennen, jage ich ihnen zwei Kugeln durch die Köpfe.“
„Und dann?“
„Dann – nun dann setzen wir eben die Verfolgung allein fort.“
„Halef, denke nach, bevor du sprichst! Du sagst: Wir setzen die Verfolgung fort. Wie denn? Dann haben wir ja die Fährte der Diebe nicht und wissen nicht, wohin wir uns wenden sollen. Langes Suchen aber nach der Spur würde uns – vorausgesetzt, dass es überhaupt Erfolg hätte – so viel Zeit kosten, dass wir auch so wieder zu spät kämen. Nein, dein Vorschlag taugt nichts. Bedenke, dass es um unsere wertvollen Pferde und um meine unersetzlichen Gewehre geht! Vielleicht auch um unser Leben!“
Er ließ – fast hätte ich gesagt: die Ohren hängen. Ja wirklich, er sah aus wie der sprichwörtliche begossene Pudel. Beinahe hätte ich gelacht. Aber ich beherrschte mich noch zur rechten Zeit.
„Du siehst, Halef“, setzte ich meine Belehrung fort, „es wird am klügsten sein, du lässt mich handeln. Ich weiß einen besseren Ausweg.“
„Welchen, Sihdi?“
„Das wirst du sehen, wenn es so weit ist. Jetzt wollen wir lieber auf den Weg achten und unsere Gäule etwas schärfer herannehmen. Die Kurden kommen uns sonst zu weit voraus.“
Wir ließen die Tiere ausgreifen, bis sich der Abstand zwischen uns und den Führern auf etwa zwanzig Meter verringert hatte. Dann hielten wir gleichen Schritt mit den Voranreitenden.
Wir waren bisher einem kahlen, ziemlich breiten Höhenrücken gefolgt, der fast genau von Südwest nach Nordost strich, wie ich am Stand der Sonne erkannte. Der Boden bestand aus gewachsenem Fels und war streckenweise mit grobem Geröll bedeckt. Das erschwerte das Vorwärtskommen und ließ mich nicht daran denken, nach den Spuren der Verfolgten zu suchen. Sie wären hier doch schwerlich zu finden gewesen. Mit den Augen wenigstens! Desto eifriger spürte ich ihnen mit meinen Gedanken nach.
Wie ich mich überzeugt hatte, war die Fluchtrichtung der beiden Diebe von Anfang an Nordosten. Mit einer Finte, das heißt mit der Möglichkeit, sie hätten einen Bogen geschlagen, um uns zu täuschen, brauchte ich nicht zu rechnen. Sie glaubten wohl mit Sicherheit, es sei mir nicht gelungen, vom Platz des Überfalls aus ihre Fährte zu entdecken; denn sie war dort für kurdische Begriffe auf eine weite Strecke unauffindbar. Sie lebten bestimmt der frohen Gewissheit, es sei ihrem Freund Melef geglückt, uns nach Westen zurückzuschicken, sie würden also die rechtmäßigen Besitzer ihrer Diebesbeute schwerlich jemals wiedersehen. Nach alledem stimmte die Richtung, die wir auch jetzt noch einhielten: Nordosten. Dort mochten die Jilacks unserer Kurden liegen, zu denen die Räuber doch vermutlich ihre Zuflucht nahmen. Ob aber auch der Weg stimmte, den Melef uns führte, das bezweifelte ich stark.
Als ich die Spur verlor und mit Halef zurückblieb, hatten wir uns dem erwähnten Höhenzug genähert, von grasigem allmählich auf felsigen Boden überwechselnd. Melef hatte unsere Tiere die steinigen Hänge hinaufklettern lassen. Sollten das die Verfolgten, die doch unsere ständig wiederstrebenden Rappen am Zügel nebenherführen mussten, mit ihren Gäulen auch getan haben? Es wäre eine unbegreifliche Dummheit gewesen. Ich an ihrer Stelle wäre lieber am Beginn des Höhenzuges rechts in das Tal eingebogen, das, wie ich beobachtete, ständig neben unserem Bergkamm hinlief. Es hätte sie zum selben Ziel geführt und das Vorwärtskommen war dort unten ungleich bequemer. Das stellte ich aber nicht etwa erst jetzt fest, sondern das hatte ich im Voraus geahnt, denn ich hatte mir auf meinen Reisen abseits aller Touristenpfade eine Art Einfühlungsvermögen in unbekanntes Gelände erworben. So wäre ich also auch an Melefs Stelle rechts abgebogen, statt den Weg über diese Höhen zu nehmen. Dass er anders verfuhr, konnte zwei Gründe haben. Entweder wollte er unseren Ritt durch Geländeschwierigkeiten nur verlangsamen, um den Verfolgten Zeit zu schaffen, ihren Vorsprung zu vergrößern. Oder er wollte die Verfolgung überhaupt vereiteln, indem er uns nach Überwindung des Bergrückens gar nicht wieder auf die Fährte treffen ließ. So oder so – da hinten senkte sich unser Weg zu Tal. Die Entscheidung nahte.
Dieses Tal war zum Teil von Eichenwald bestanden. Jenseits erhob sich in geringer Entfernung ein neuer Bergblock, an dessen Fuß die Niederung sich gabelte. Rechts führte sie weiterhin nach Nordosten, links lief die andere Verzweigung nach Nordwesten. Das hatte ich bereits während des mühseligen Aufstiegs festgestellt, solange der Blick noch weithin schweifen konnte. Unten verhinderten die Waldungen, wenn sie auch nicht geschlossen auftraten, die Sicht.
Mittag war schon vorüber, als die Hufe unserer Pferde durch frisches Gras streiften. Die Tiere zeigten Lust, sich an dieser Weide gütlich zu tun. Auch uns Reitern konnte eine Rast im kühlen Baumschatten während der Zeit des größten Sonnenbrandes nichts schaden. Und da wenige Schritte vor uns ein klares Bergwasser aus dem Waldbereich ins Wiesenland sprudelte, war dieser Platz der gegebene Ort zum Lagern.
Melef hielt denn auch seinen Braunen an und wandte sich nach mir um.
„Chodih“, rief er mir zu, noch bevor ich ihn ganz erreichte, „da ist ein Quell und ein prächtiges Lager im Schatten! Für die Pferde gibt es hier Gras genug. Wollen wir nicht ein wenig rasten?“
Es waren seit Stunden die ersten Worte, die zwischen uns gewechselt wurden, und sie klangen so harmlos, als wären wir die besten Freunde.
Ich stimmte ihm zu und stellte dabei fest, dass ihn meine Bereitwilligkeit sichtlich in gute Laune versetzte. Er war fast liebevoll besorgt, Halef und mir das beste Fleckchen auszusuchen. Er gab eigenhändig unsere vier Pferde zur Weide frei, während sein Stammesgenosse inzwischen Laub und Reisig zu einem kleinen Feuer zusammensuchen und Wasser zum Kaffeekochen herbeiholen musste. Ich ließ mich bedienen wie ein Pascha mit sieben Rossschweifen und gab Halef einen stummen Wink, meinem Beispiel zu folgen. Der pfiffige Melef und sein Diensteifer machten mir Spaß. Ich wusste recht wohl, welchen Erwägungen seine gute Laune entsprang. Er glaubte, mich übers Ohr gehauen zu haben, und ich ließ ihm das Vergnügen.
Mein kleiner Hadschi Halef war aus anderem Holz geschnitzt als ich. In ihm fieberte wieder einmal die Ungeduld, brannte die Sorge, schäumte die Erregung. Ich wusste, er würde das Alleinsein mit mir sofort benützen, seinem bedrängten Herzen Luft zu machen.
Und so geschah es denn auch. Kaum hatten die Kurden uns verlassen, so fuhr er auf.
„Sihdi“, flüsterte er hastig, „hast du denn ganz vergessen, warum wir uns durch diese abscheulichen Berge schleppen lassen? Ich sage dir...“
„Du brauchst mir nichts zu sagen“, wehrte ich ab. „Ich weiß alles. Wir wollen uns die Rappen und die Gewehre wiederholen.“
„So!?“, brauste er auf. „Und zu diesem Zweck legen wir uns hierher, als brauchten wir nur unseren Kef65 zu halten, bis uns ein Dschinn alles herbeigeschleppt bringt, was wir wünschen? Merkst du denn nicht, dass uns dieser Melef, den Allah verderben möge, nur deshalb zur Rast einlud, weil er uns aufhalten will, und dass er sich jetzt über unsere Dummheit freut?“
„Ich sagte dir schon, Halef: Ich weiß alles. Weder hoffe ich auf ein Wunder, das uns unser Eigentum zurückbringt, noch ist mir die plumpe List des Kurden entgangen.“
„Und doch bist du ihm zu Willen?“
„Weil wir eine Rast nötig haben. Ich werde schon dafür sorgen, dass wir zur rechten Zeit wieder aufbrechen.“
„O Sihdi, wie sehr betrübst du mein Herz und wie tief hüllst du meine Seele in Trauer, da ich dich in das Laster der Unbedachtsamkeit und in den Fehler des Leichtsinns verfallen sehe! Du willst für den Aufbruch sorgen? Ich sage dir, dass du in kurzer Zeit wahrscheinlich für gar nichts mehr sorgen könntest, wenn ich nicht wäre, ich, dein Freund und Beschützer Hadschi Halef Omar.“
Er hatte zuletzt mit erhobener Stimme gesprochen und richtete sich dabei zur ganzen Größe seiner kleinen Person auf. So sehr war er von der Bedeutung seines Beschützeramtes durchdrungen. Ich aber schob beide Hände unter den Kopf, streckte mich lang aus und meinte wie nebenbei:
„Du denkst an den Kaffee?“
„Sihdi!“
„Was?“
„Du hast dich auch an die Gefährlichkeit dieses Trankes erinnert?“
„Sollte ich etwa nicht? Ich dächte, wir litten noch fühlbar genug an den Folgen unserer Unvorsichtigkeit. Nein, mein lieber Halef, darum kannst du unbesorgt sein, ein zweites Mal betäuben uns die Kurden nicht mit Opium. Ich werde die Augen offen halten und schlimmstenfalls zwinge ich die beiden...“
Ein gellendes Geschrei ließ mich jäh verstummen. Es kam aus dem Dickicht hinter uns. Zugleich erklang von da ein Prasseln und Knacken wie von brechenden Zweigen und Ästen. Eine Männerstimme rief auf Kurdisch um Hilfe, und zwar so wild und voll Todesangst, als hätte sich vor dem Betreffenden urplötzlich der Schlund der Hölle aufgetan.
Mit einem Satz war ich auf den Beinen. Den Revolver hatte ich schon schussbereit in der Rechten. Halef war nicht weniger flink und entschlossen. Er stand neben mir, gerüstet, einen Angriff abzuwehren. Ein rascher Blick hinaus auf die Wiese zeigte mir, dass es nicht Melef war, der sich in Gefahr befand. Er war noch bei den Pferden, die er dort zur Tränke geführt hatte. Augenblicklich glich er einem Steinbild. Er rührte kein Glied, gab keinen Laut von sich.
Weiter konnte ich mich nicht mit ihm beschäftigen. Dicht neben uns brach soeben der andere Kurde in gewaltigen Sätzen durchs Gebüsch. So, wie er sprang, läuft nur einer, dem das sichere Verderben auf den Fersen ist. Er flog, noch immer brüllend, an uns vorüber, hinaus auf die Lichtung, hin zu den Pferden. Jetzt verstand ich auch seine Worte.
„Fort, fort! Rettet euch! – Ein Bär! Ein Bär!“
Und da war es auch schon, das zottige Ungetüm, bei dessen Anblick dem Wasserholer der ganze Mannesmut in nichts zerronnen war. Es war für die hiesigen Verhältnisse ein recht stattliches Tier. Der asiatische Bär erreicht nämlich an Größe bei Weitem nicht den nordamerikanischen Grizzly und ist auch längst nicht so gefährlich wie jener. Hätte ich meinen Bärentöter oder wenigstens den Henrystutzen zur Hand gehabt, so wäre dieses Jagdabenteuer wohl recht kurz und harmlos verlaufen. So aber hatte ich nur die Revolver, deren Kugeln solchem Wild gegenüber wenig ausrichten konnten.
Der Bär trottete in scharfem Trab. Er ist nämlich durchaus nicht so langsam und schwerfällig, wie es seine Erscheinung vermuten lässt. Offensichtlich war er entschlossen, sich die gute Beute nicht entgehen zu lassen. Wahrscheinlich quälte ihn der Hunger. Sonst hätte er sein Lager am hellen Mittag überhaupt nicht verlassen. Da erblickte er mich und den Hadschi, der standhaft neben mir ausharrte. Die kleinen, tückischen Augen des Raubtiers blinzelten uns an. Ich dachte, er würde sich aufrichten. So entsprach es ja der Art seiner Rasse. Und so musste es kommen, wenn wir uns überhaupt mit Erfolg zur Wehr setzen wollten; denn nur ein Schuss ins Auge konnte meine Revolverkugeln zur Geltung bringen. Aber dieser kurdische Bär machte eben einmal eine Ausnahme von der Regel. Mit gesenktem Kopf setzte er sich wieder in Bewegung, gerade auf uns zu.
Von der Lichtung her klang jetzt verdoppeltes Geschrei. Melef brüllte mit seinem Stammesbruder um die Wette. Ich achtete nicht auf sie. Ich kannte die Art der Kurden, den Bären nur in zahlreicher Jagdgesellschaft anzugehen, denn ich hatte früher einmal als Gast des Bei vom Gumri einer solchen Bärenhatz beigewohnt.66 Im Augenblick hatte ich kaum Zeit, mich sekundenlang daran zu erinnern. Es galt zu handeln, und zwar sofort, sonst waren Halef und ich verloren.
Ich drückte den Revolver auf den Bären ab, ein-, zwei-, dreimal. Der Zottige brummte zornig, stockte und trottete weiter. Ich feuerte noch dreimal. Da, endlich! Der Bär richtete sich auf. Ich ließ den abgeschossenen Revolver fallen. Meine Linke fuhr in den Gürtel nach der anderen kleinen Feuerwaffe. Aber ich packte in der Hast den Griff des Chandschar und riss den zweiten Revolver so ungeschickt mit, dass auch er zur Erde fiel. Mich danach zu bücken, blieb nun keine Zeit mehr. Indessen schoss Halef zweimal seine Pistole ab, aber ohne Erfolg.
Jetzt – Himmel hilf! Vor mir stand der Bär auf den Hinterbeinen, die Vorderpranken nach mir ausgestreckt. Ein einziger Stoß mit dem Dolch musste entscheiden.
Ich sprang zur Seite, sodass ich neben das Tier zu stehen kam. Das hatte Meister Petz nicht erwartet. Er brummte wieder. Er drehte sich zu mir herum. Da stieß ich zu, grad zwischen die beiden obersten Rippen hinein. Nur so war das Herz zu treffen.
Aber sogleich zuckte meine Hand zurück. Ich fühlte, dass der Dolch nicht tief genug gedrungen war. Er mochte eine Rippe gestreift haben, sodass die Wucht des Stoßes gemildert wurde.
Ich taumelte zurück. Eisiges Grauen packte mich. Der Griff der Waffe war mir entrutscht. Sie steckte noch im Fell des Bären. Jetzt war ich schutzlos den Pranken und Zähnen des Raubtiers preisgegeben.
Was mir in dieser furchtbaren Sekunde durchs Hirn schoss, weiß ich nicht mehr. Es war wohl ein Gebet: Herrgott, in deine Hände...!
Da erhielt ich einen Stoß, der mich vollends rückwärts ins Gebüsch schleuderte, fort aus dem Bereich der drohenden Tatzen. Es war Halef, der mich mit der Linken weggeboxt hatte. Mit der Rechten hatte er eine der langen Lanzen errafft, die die Kurden dicht bei unserem Standort in den Boden gesteckt hatten. Jetzt packte er sie mit beiden Fäusten, ‚fällte‘ sie wie der Soldat das Bajonett und rannte sie dem Bären, trotzig gegen ihn anlaufend, mit voller Wucht in den Leib.
Der Bär stürzte hintenüber. Er schlug mit den Tatzen wild um sich und wälzte sich zur Seite. Der Lanzenschaft, der aus seinem Leib ragte, brach splitternd ab. Das Tier wollte sich aufrichten. Es stöhnte. Die Pranken zuckten. Plötzlich streckte sich der ganze Körper. Der Bär lag still.
„Hamdulillah!“, jubelte Halef auf. „Er ist tot! – Sihdi! Er ist tot!“
Er wollte sich zu seiner Beute niederbeugen. Das riss mich aus meiner Erstarrung.
„Vorsicht, Halef! – Nicht anrühren! – Warte!“
Ich raffte mich auf und trat hinzu. Mein Erstes war, dass ich dem wackeren Kleinen derb die Hand drückte.
„Du hast mir das Leben gerettet, Halef. Ich danke dir. Das werde ich dir nie vergessen. Lass uns nicht viel Worte machen! Aber – verzeih mir!“
Den Dank hatte er kurz abwehren wollen. Bei der Bitte um Verzeihung sah er verblüfft zu mir auf.
„Ich soll dir verzeihen? Das verstehe ich nicht.“
„Muss ich dir das wirklich erst erklären?“ Ich senkte meinen Blick tief in seine klaren, leuchtenden Augen. „Weißt du nicht mehr, dass ich dich erst heute Vormittag meinen Beschützer genannt habe – aber mehr im Spott als im Ernst? Sieh, das war eine Überheblichkeit von mir und ein Unrecht gegen dich. Das wollte mir Allah vor Augen führen, indem er mich in Todesnot fallen und dich als Retter walten ließ. Ich verstehe seine Mahnung und gehorche seinem Wink, indem ich dich um Verzeihung bitte.“
„Sihdi...!“
Der Kleine hatte noch mehr sagen wollen, aber die Stimme versagte ihm. In seinen Augen schimmerten Tränen der Rührung. Er presste krampfhaft meine Hand. Dann ermannte er sich.
„Sihdi, mein Leben gehört dir. – Und nun lass uns nicht mehr davon reden! Sieh, der Bär ist wirklich tot! Er rührt sich nicht. Zieh deinen Dolch zwischen seinen Rippen hervor! Dann wollen wir ihm den Pelz abstreifen. Meinst du nicht, dass uns sein Fleisch gelegen kommt?“
„Das gibt freilich einen leckeren Braten. Wir hatten ohnehin nicht viel, weil uns unsere Vorräte mit den Pferden gestohlen worden sind. Ja, sieh her, der Bär ist tot! Du hast gut getroffen. Man sollte es nicht für möglich halten, dass eine solche Kurdenlanze in der Hand eines unerschrockenen Jägers also doch eine ausreichende Waffe gegen den Bären ist.“
Ich nahm den Chandschar wieder an mich, wischte das Blut ab und schob ihn in den Gürtel. Dann hob ich meine Revolver auf, lud und sicherte, was Halef mit seiner Pistole gleichfalls tat. Das ist so Jägerbrauch, ein Gebot der Vorsicht. Nun erst wurde der Bär abgepelzt und zerwirkt. Um die beiden Kurden kümmerten wir uns nicht. Sie würden sich schon wieder einfinden.
Während wir die Jagdbeute zerlegten, stand des Kleinen Zunge nicht still. Jetzt kam wieder der alte Halef zum Vorschein.
„Sihdi, wirst du mir erlauben, das Fell in aller Eile abzuschaben, einzufetten und mitzunehmen? Du nickst? Hamdulillah! Ich werde es Kara Ben Halef, meinem Sohn, dem jungen Helden der Dschesireh, schenken. Sooft er es betrachtet, soll er an seinen Vater denken, an Hadschi Halef Omar, den du soeben einen unerschrockenen Jäger genannt hast, und soll erzählen von uns beiden, den berühmtesten Kriegern des Morgenlandes und des Abendlandes, die den Löwen, den Panther und den Bären nicht fürchteten, die ihre Feinde im ‚Tal der Stufen‘ besiegten67, die den Schut in seinem Versteck aufspürten und zur Strecke brachten68 und die sogar das Nest der Sillan im Birs Nimrud ausräucherten69 und der Spur dieser ‚Schatten‘ folgten, um...“
„Still!“, unterbrach ich ihn hastig im Flüsterton.
Ich hatte nämlich hinter uns ein Geräusch gehört und rasch den Kopf gewendet. Da sah ich, dass die beiden Kurden inzwischen zum Lagerplatz zurückgekehrt waren und schon so dicht bei uns standen, dass sie Halefs Worte auffangen mussten. Zwar hatten wir Arabisch gesprochen und es war uns am vergangenen Abend oben am Pass gesagt worden, nur die beiden Boten seien dieser Sprache mächtig. Melef und sein Begleiter mochten also den Sinn der Rede Halefs schwerlich erfasst haben. Ein Wort daraus war ihnen möglicherweise doch verständlich gewesen, nämlich Sillan, vorausgesetzt, dass meine Vermutungen wegen der ‚Unsichtbaren‘ das Richtige trafen. Ja, es schien mir, als sollte sich meine Gewohnheit, Beobachtung an Beobachtung, Schluss an Schluss zu reihen, hier wieder einmal trefflich bewähren. Ich blickte gerade in Melefs Augen. Sie waren mit dem Ausdruck tödlichen Schreckens auf uns gerichtet.
Das konnte seinen Grund schwerlich nur darin haben, dass er uns unversehrt und als Überwinder des gefürchteten Raubtieres fand. Sollte sein Entsetzen dem Umstand gelten, dass er uns von seinen Geheimnissen reden hörte?
Anfangs hatte ich mich darüber ärgern wollen, dass Halef wieder einmal zur Unzeit schwatzte, und auch, weil ich alter Präriejäger mich von diesen Kurden überrumpeln ließ. Jetzt aber erschien mir das alles in anderem Licht. Es war doch gut so. Melefs Blicke redeten eine gar zu deutliche Sprache. Sie verrieten mir, was ich sonst sicher nicht aus ihm herausgebracht hätte. Ich konnte gewiss sein, dass diese Kurden irgendwie zu den Sillan in Beziehungen standen.
Halef war auf meinen Wink verstummt. Er sah die beiden, aber er legte ihrem Erscheinen keine Bedeutung bei, weil er sicher zu sein glaubte, seine arabischen Worte seien den Kurden leerer Schall gewesen. Er sah nur das Entsetzen in ihren Gesichtern, deutete es sich auf seine Weise und lachte ihnen entgegen.
„Was reißt ihr die Augen auf und lasst eure Mäuler offen stehen wie der Muezzin70 die Pforten der Moschee, wenn die Gläubigen an den Tagen des Ramadan71 zum Gebet strömen! Dachtet ihr vielleicht, der Bär hätte uns gefressen und...“
Er unterbrach sich. Es fiel ihm ein, dass sie sein Arabisch doch nicht verstanden. Darum hielt er sich an mich.
„Sihdi, sag du ihnen, dass sie ihre Mäuler wieder zuklappen sollen! Ich will inzwischen das Feuer anfachen, damit wir recht bald den lieblichen Wohlgeschmack dieser Bärentatzen und die köstliche Zartheit dieser Schinken prüfen können.“
Er wendete sich seinen Geschäften zu. Melef aber hatte sich indessen von seinem Schreck wenigstens einigermaßen wieder erholt.
„Gheine Chodeh kes nehkahne – Gott ist allmächtig!“, kam es über seine Lippen. „Ihr seid – ihr wollt – ihr habt...“
„Was haben wir?“, fragte ich in freundlichstem Ton.
„Ihr – ihr habt den Bären getötet?“, besann er sich.
„Wie du siehst! Mein Begleiter hat das Meisterstück vollbracht. Freilich ist dabei eine eurer Lanzen in die Brüche gegangen. Aber ich hoffe, das werdet ihr verzeihen, wenn wir euch einladen, dafür gemeinsam mit uns den Bären zu verspeisen.“
Die Kurden hatten jetzt ihre Fassung wiedergewonnen. Sie ließen sich bei uns an dem rasch aufflackernden Feuer nieder. Halef fertigte aus einem Eichenstämmchen einen Bratspieß nebst Gestell und widmete sich ganz seiner Tätigkeit als Küchenmeister. Inzwischen musste ich den Kurden unser Abenteuer schildern. Sie sagten nicht viel dazu, aber ihre Blicke gingen beredt zwischen Halef und mir hin und her. Kein Zweifel, wir hatten uns bei ihnen gewaltig in Achtung gesetzt.
Das konnte uns nur lieb sein und ich beschloss, den Eindruck meines Berichts noch eigens durch ein kleines Nachwort zu verstärken. Dass ich mich dabei des schäbigen Eigenlobs schuldig machte, durfte mich nicht kümmern. Es galt, uns nach Kräften vor Feindseligkeiten dieser Leute zu schützen.
„Ihr seht“, schloss ich darum, „dass wir uns vor keiner Gefahr fürchten und dass der Ruhm, der an unseren Namen haftet, begründet ist. Der tut klug, der sich als unser Freund zeigt. Unsere Feinde aber mögen unseren Zorn fürchten.“
Melef nickte bedächtig zu meinen Worten.
„Chodeh te be’lit – Gott erhalte dich! Und uns erhalte er deine wertvolle Freundschaft! Du wirst sehen, dass wir euch treulich beistehen, euer verlorenes Eigentum wiederzugewinnen, und dann werden wir nicht zu denen zählen, über die sich euer Grimm ergießt. Sag, Chodih, wirst du dann auch denen verzeihen, die euch die Pferde und die Waffen geraubt haben?“
„Hm! So billig sollten sie eigentlich nicht davonkommen. Strafe muss sein.“
„Aber sie haben doch nur getan, was jedem freien Kurden erlaubt ist.“
„So denkt ihr. Ich aber sehe nicht ein, warum ich mich bestehlen lassen soll, ohne den Dieb zur Rechenschaft zu ziehen. Gesetzt den Fall, die beiden hätten dich statt uns geschädigt!“
„Das hätten sie niemals getan. Sie sind meine Brüder.“
„Ja, ja, ich weiß, nur der Fremde ist bei euch vogelfrei. Das ist die Art der Strauchdiebe und Wegelagerer. Ihr könnt nicht stolz sein auf eure Sitten.“
„Chodih“, versuchte er abzulenken, „streiten wir uns nicht um Anschauungen! Beantworte mir lieber meine Frage! Wirst du den beiden verzeihen?“
„Das kann ich jetzt noch nicht entscheiden. Es kommt auf die Umstände an. Ich werde mich, wenn es soweit ist, mit euerm Bei darüber beraten. Jetzt wollen wir essen. Ich sehe, dass mein Gefährte mit der Zubereitung des Bratens fertig ist.“
Wir machten uns also an das leckere Mahl. Schade, dass uns so ziemlich alles fehlte, was dazu gehört, Bärenbraten in der richtigen Weise zu würzen, vor allem das Salz, das in meinen Satteltaschen in einem Ledersäckchen steckte, und dann die Wacholderbeeren, die es hier nicht gab. Aber es schmeckte uns auch so.
Als das Mahl beendet war, ging es ans Kaffeekochen. Der Kurde, der vorher so tapfer vor dem Bären ausgerissen war, hatte das Wasser weiter oben am Quell schöpfen wollen, weil unten die Pferde tranken. Dort hatte er den Wasserkessel, den er beim Ritt hinten am Sattel aufzuschnallen pflegte, im Schreck der unliebsamen Begegnung mit dem Raubtier weggeworfen. Jetzt war er gegangen, ihn zu holen, und brachte ihn gefüllt zurück.
Bereits nach kurzer Zeit begann das Wasser über der kräftig geschürten Flamme zu sieden. Da Melef seinen Kaffeebeutel hervorsuchte, warf mir Halef einen vielsagenden Blick zu. Ich antwortete nur mit einem Senken der Augenlider. Dann wendete ich mich zu dem Kurden.
„Erlaube, dass ich dich vor einer Vergeudung deines kostbaren Kaffees warne. Bereite nur so viel, wie du mit deinem Stammesgenossen zu trinken gedenkst! Mein Gefährte und ich werden uns mit Wasser begnügen.“
Melef erschrak so heftig, dass der Beutel aus Ziegenhaut seinen Händen entfiel.
„Chodih!“, starrte er mich an.
Ich ließ ihn mein harmlosestes Lächeln sehen.
„Worüber erschrickst du so?“
„Über – über deine Weigerung.“
Am liebsten hätte ich ihm jetzt die volle Wahrheit ins Gesicht gesagt. Aber das wäre unklug gewesen. Andererseits mochte ich mich jedoch auch nicht für so dumm halten lassen, wie dieser Kurde uns offenbar immer noch einschätzte. Darum wählte ich den Mittelweg zwischen grober Offenherzigkeit und höflicher Verstellung. Ich ließ ihn ahnen, dass er durchschaut war. Mochte ihm dann die Ungewissheit, wie er sich zu uns stellen sollte, immerhin einiges Kopfzerbrechen verursachen.
„Was ist daran zum Erschrecken?“, forschte ich.
„Es ist – es ist eine Beleidigung“, fand er die Ausrede.
„Wieso?“
„Man darf ein Geschenk der Gastfreundschaft nicht zurückweisen.“
„Das stimmt. Aber wir sind hier nicht deine Gäste, sondern wir alle vier sind Glieder einer Gesellschaft. Deine Gäste waren wir gestern Abend. Darum haben wir in diesem Fall auch von deinem Kaffee getrunken und wir hatten es hart zu büßen.“
Melefs Augen wurden starr. Auch der andere Kurde bot ein Bild des Entsetzens.
„Zu – zu büßen? – Chodih, ich – ich verstehe dich nicht.“
„Ich meine, wir wurden dafür bestraft. Man raubte uns Pferde und Waffen.“
„Chodih!“, schrie Melef förmlich auf.
Ich sah, dass seine Hand nach dem Gürtel tastete, um auf alle Fälle eine Waffe zu suchen. Da legte ich ihm lächelnd die Rechte auf den Arm.
„Was ereiferst du dich so, Freund Melef? Soll ich annehmen, dass du Streit mit mir suchst, nachdem du mich soeben erst deiner Freundschaft versichert hast?“
Er zog die Hand zurück, streifte mich aber immer noch mit einem misstrauischen Blick.
„Ich Streit mit dir suchen? Chodih, du stellst die Dinge auf den Kopf. Du hast mich herausgefordert, indem du behauptest, meine gastliche Gabe hätte euch Unglück gebracht.“
„Es ist aber doch so.“
„Beweise es!“
„Das will ich gern tun. Wisse, dass mein Gefährte und ich beim Beginn unserer Reise ein Gelübde getan haben, uns in Bezug auf Speise und Trank immer mit dem Einfachsten zu begnügen. Nun wäre gestern Abend Wasser das einfachste Getränk gewesen, das sich bot. Wir aber haben den duftenden Trank aus eurem Kessel geschlürft. Das hat Allahs Zorn erregt. Er sandte uns die beiden Diebe und ließ uns durch sie die Gewehre und die Pferde nehmen. Sollen wir nun heute von Neuem gegen unser Gelübde handeln und Allahs Zorn abermals heraufbeschwören?“
Es war den beiden Kurden anzusehen, dass ihnen ein Stein vom Herzen fiel. Sie glaubten meiner Spiegelfechterei und ahnten nicht, dass ich ihnen absichtlich ein wenig Angst gemacht hatte. Nun blickte Melef eine Weile sinnend vor sich hin. Es prägte sich allmählich schon wieder der Zug von Pfiffigkeit in seinem Gesicht. Endlich hob er den Kopf.
„Chodih, weißt du, was du mir soeben zugestanden hast?“
„Nun?“
„Dass die Räuber eures Eigentums gar keine Strafe verdienen.“
„Nicht, dass ich wüsste!“
„O doch! Du hast selbst gesagt, Allah habe sie geschickt, seine Strafe an euch zu vollziehen. Er ist der Gebieter über alles. Er lenkt auch die Gedanken und die Taten der Menschen. Die beiden Diebe haben nichts getan als seinen Willen. Willst du sie darum bestrafen?“
O Melef, du alter Schlauberger! Das hast du gut gemacht. An dir ist, wie es scheint, ein Advokat verloren gegangen. Hatte mich der Kerl, der bisweilen aussah, als könne er nicht bis drei zählen, in meiner eigenen Schlinge gefangen. Aber warte nur, das will ich dir heimzahlen! So pfiffig wie ein Kurde ist ein Deutscher noch allemal.
Ich nickte scheinbar so recht überzeugt mehrmals vor mich hin.
„Ja, freilich, du hast Recht. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich werde diese Leute ruhig laufen lassen.“
„Ihnen nur euer Eigentum wieder abnehmen?“, packte Melef hastig zu.
„Nicht einmal das! Die Pferde müssen sie wieder herausgeben, die Waffen aber mögen sie behalten.“
„Be – hal – ten?“, stammelte er. „Deine Zaubergewehre?“
„Eben weil es Zaubergewehre sind. Der Mann, der sie mir gab, wird mir andere verschaffen. Die Diebe aber werden an dem Zauber zu Grunde gehen, sie und alle ihre Stammesgenossen. Das ist die wirksamste Strafe für den Raub. Das hat Chodeh wohl auch so gewollt, als er sie uns schickte, den Diebstahl zu vollführen. Du musst nämlich wissen, dass diese Gewehre nicht etwa nur eine wunderbare Eigenschaft haben. Man kann damit nicht nur so oft und so weit schießen, wie man will, ohne das Ziel zu verfehlen. Diese Büchsen, die von der Hand eines großen Zauberers gefertigt sind, bringen unter anderem auch jedem Verderben, der sie widerrechtlich berührt. Sie sind nur für mich bestimmt. Jedem, der sie ohne meine Erlaubnis auch nur anfasst, bringt der furchtbare Zauber, der ihnen anhaftet, Verderben und mit ihm allen, die zu ihm gehören, seiner Sippe, seinen Freunden, seinem ganzen Stamm. Nein, nein, Melef, du hast Recht. Ich brauche mich um die Bestrafung der Räuber gar nicht zu kümmern. Sie behalten die Gewehre und damit sind sie bestraft genug. Nur die Pferde will ich wiederhaben.“
Man sage nicht, es sei Narrheit von mir gewesen, mich auf einen so faustdicken Schwindel zu stützen. Ich hatte es hier mit Menschen zu tun, die weder lesen noch schreiben konnten, denen das Wort ‚Aufklärung‘ nie zu Ohren gekommen war, die in den dunkelsten Vorstellungen von Zauberei, Geisterwesen und Wunderkräften aufgewachsen waren.
Der Erfolg bewies denn auch, dass ich mit meiner Flunkerei weit mehr erreichte, als ich eigentlich bezweckte. Hätte ich das von Anbeginn bedacht, so hätte ich uns wahrscheinlich den ganzen mühseligen Ritt über den unwegsamen Bergrücken erspart. Die beiden Kurden sprangen nämlich wie von einer Natter gebissen auf, streckten jeder die linke Hand mit weit gespreizten Fingern gegen mich aus und bewegten sie dabei waagerecht hin und her, auf mich zu, wieder zurück und so fort. Das ist eine im Morgenland übliche Geste der Beschwörung. Man will damit die Macht des Bösen von sich abwehren. Der linken Hand bedient man sich dabei, weil sie des Teufels ist.
Halef, der wegen seiner mangelhaften kurdischen Sprachkenntnisse unserer Unterhaltung nur lückenhaft folgen konnte – später wurde ihm von mir das Nötige berichtet –, war stumm beschäftigt, das Bärenfell von den anhaftenden Fleischresten zu reinigen und auf der Innenseite mit Bärenfett einzureiben.
„Chodeh t’aves-schkeht – Gott bewahre dich! Und uns dazu!“, stammelte Melef jetzt, während er sich wie erschöpft wieder ins Moos sinken ließ. „Ich mag mit diesen Zaubergewehren nichts zu tun haben und die beiden, die sie genommen haben, werden sie gern freiwillig wieder herausgeben, wenn ich ihnen alles erzähle. O Chodih, warum hast du das nicht gleich gesagt, als du uns deine Zauberbüchse vorführtest? Es wäre gewiss alles anders gekommen. Niemand hätte diese Waffen berührt. Komm, lass uns eilen, dass wir die Boten einholen, ehe der Zauber zu wirken beginnt und den ganzen Stamm vernichtet!“
Jetzt trieb er zum Aufbruch. Kaum dass er sich und seinen Gefährten einen Becher Kaffee gönnte. Halef und ich nahmen inzwischen mit einem Trunk Wasser fürlieb. Der kleine Hadschi schnürte das Bärenfell zusammen, so gut es ging, und befestigte es hinten am Sattel seines Kurdengauls. Dann konnte der Ritt beginnen. Ich ahnte nun schon, dass Melef, eingeschüchtert durch mein Märchen, nicht länger versuchen werde, uns in der Irre herumzuführen. Jetzt lag ihm selber daran, dass wir die beiden Diebe so rasch wie möglich einholten. Dass das noch vor Abend geschehen könne, erschien mir freilich ausgeschlossen, selbst wenn ich in Betracht zog, dass die Boten durch die Widerspenstigkeit unserer Rappen viel Aufenthalt gehabt hatten.
Während wir hinaus auf die Lichtung zu den Pferden traten, wo Halef schon wartend stand, indessen der zweite Kurde beschäftigt war, den Gäulen einen möglichst großen Vorrat Bärenfleisch aufzupacken, das am Abend gebraten werden sollte, musterte ich scheinbar nachdenklich die Gegend.
„Eure Jilacks liegen dort im Nordosten?“, wendete ich mich dann an Melef.
„Ja, Chodih.“
„So müssen wir in jenes Tal zur Rechten einbiegen?“
„Du hast richtig geraten.“
Er gab also wirklich seinen Plan vom Vormittag auf. Ich hätte mich damit begnügen können, denn ich war nun gewiss, dass wir wieder auf die Spur der Verfolgten stoßen würden. Aber ich wollte Melef trotzdem merken lassen, dass ich schon vorher nachgedacht hatte.
„Also hatte ich Recht mit meiner Ahnung, dass wir unsere Tiere mit dem Überklettern des Berges hinter uns ganz unnütz angestrengt haben. Jenes Tal da, durch das wohl auch die Boten geritten sind, hätte uns rascher und bequemer hierhergeführt.“
„Du irrst, Chodih. Auch sie sind über den Berg gekommen.“
„Dann hältst du sie für recht unerfahrene Leute. Ich aber glaube, dass wir da drüben auf ihre Fährte treffen, die aus dem Tal kommt. Steig auf und folge mir! Ich will dir zeigen, dass ich Recht habe.“
Wir schwangen uns in die Sättel und setzten unsere Pferde in Trab. Schon von Weitem bemerkte ich den dunklen Strich, der sich da durchs kniehohe Gras zog. Es war die Spur der Gesuchten. Ich ritt hinzu, gebot den anderen, ein wenig zurückzubleiben, sprang ab und schritt in gebückter Haltung eine kurze Strecke auf der Fährte fort. Sie war meiner Schätzung nach vier Stunden alt. Der Vorsprung der Räuber hatte sich also trotz Melefs Bemühen, uns aufzuhalten, eher vermindert als vergrößert.
Ich hielt mich nicht lange damit auf, Melef von der Wahrheit meiner Behauptungen zu überzeugen, sondern sagte ihm und den anderen einfach, was ich aus der Fährte gelesen hatte. Dann setzten wir den Ritt fort. Die beiden Kurden hielten sich wieder an der Spitze. Jetzt brauchte ich darum keine Bedenken mehr zu hegen. Mein Märchen wirkte nach. Darauf konnte ich mich verlassen.
Da das Gelände wenig Schwierigkeiten bot, kamen wir rasch vorwärts. Als die Sonne hinter den Bergen verschwand, sagte mir eine Prüfung der Fährte der Verfolgten, dass wir den Abstand zwischen ihnen und uns auf eine Strecke von etwa zwei Stunden verringert hatten.
Melef machte den Vorschlag, an dieser Stelle das Nachtlager zu halten. Der Ort war auch wirklich geeignet dazu. Trotzdem widersprach ich. Ich wollte heute so weit wie irgend möglich reiten, um recht nahe an die Räuber zu kommen, und so trieben wir unsere Tiere von Neuem an.
Es wurde rasch dunkler. Schon konnte ich die Spur, die sich hier wieder einmal durch Grasland zog und recht gut lesbar gewesen war, nicht mehr erkennen. Aber ich vertraute Melefs Führung, zumal wir wieder einem Tal folgten, das die Wegrichtung von selbst angab. Erst als sich vor uns ein runder Kessel auftat, im Dreiviertelkreis rechts und links und vor uns von bewaldeten Bergen abgeschlossen, hielt Melef an.
„Weiter können wir heute nicht reiten“, erklärte er. „Vor uns liegen drei Bergsättel. Der mittlere führt zu unseren Jilacks, der rechts hinüber nach Bebehan. Diese Pässe sind nachts für unsere Tiere kaum gangbar. Da drüben, genau geradeaus, kommt ein Wasser von den Hängen. Dort wollen wir im Schutz der Büsche lagern. Es ist spät genug geworden.“
Er hatte Recht. Wir folgten ihm und fanden einen ausgezeichneten Lagerplatz. Sträucher schlossen ihn wie eine Schutzwand gegen den Talkessel ab. Hinter uns gab es Wald, der uns Brennholz lieferte. Die Tiere hatten reichliche Weide und wir streckten uns behaglich aus. An einem rasch entzündeten Feuer wurde der gesamte Vorrat an Bärenfleisch gebraten. Wir aßen davon nach Herzenslust. Die Kurden tranken Kaffee dazu, Halef und ich nur Wasser. Schließlich wurden die Wachen verteilt. Der jüngere der beiden Kurden machte den Anfang. Ihm folgte Halef, dann ich und zuletzt sollte Melef munter bleiben.
Wir waren sämtlich müde und schliefen bald ruhig und fest. Als Halef mich weckte, hatte er nichts zu melden. Ich lockerte den einen Revolver und setzte mich so, dass ich durch das Gebüsch hindurch nach dem freien Talkessel blicken konnte, dessen grüne Fläche vom Licht der Sterne erhellt wurde. So saß ich wieder einmal auf Wache, fern der Heimat, unter halbwilden Menschen, zur Seite nur einen, dem ich wirklich vertrauen konnte, meinen braven Hadschi Halef, verstrickt wie immer in Abenteuer und Gefahren, deren Ende nur einer vorauskannte, der ewige Gott da droben über den Sternen, der Lenker allen Geschehens, dessen Hand mich bis hierher durch tausend Wirrsale immer so geleitet hatte, dass meine Seele bewundernd und dankend bekennen musste: Er führet alles herrlich hinaus.
Ich geriet ins Träumen, ohne dass sich darum meine Wachsamkeit verminderte. Ich dachte an Vergangenes und Zukünftiges. Besonders beschäftigten mich die seltsamen Beziehungen, die ohne unseren Willen zwischen uns und den Sillan entstanden waren, jenem Geheimbund der ‚Schatten‘, der wohl nicht nur die Pascherei, sondern auch weit staatsgefährdendere Dinge zu seinen Aufgaben und Zielen gemacht hatte. In meiner Tasche trug ich den Brief an den unbekannten Ghulam el Multasim, ganz offenbar ein Oberhaupt der ‚Schatten‘. Würde es mir gelingen, den Empfänger zu ermitteln und dadurch vielleicht Näheres über meine versteckten Widersacher zu erfahren?
War es mir vielleicht gar bestimmt, mit dem Anführer der ‚Schatten‘, dem rätselhaften Ämir-i-Sillan, zusammenzutreffen? Verbarg sich hinter der Maske dieses Dunkelmannes wirklich mein einstiger Gefährte Dschafar Mirza? So hatte wenigstens jener Säfir, den wir am Birs Nimrud gefangen nahmen, behauptet und es war ein unbeabsichtigtes Geständnis gewesen. Und weiter hatte der Säfir meinen Freund Dschafar zu einer persischen Prinzessin in Beziehung gebracht, zu der Gul-i-Schiras, der geheimnisvollen ‚Rose von Schiras‘, einem dämonisch schönen Weib, das der gefangene Sill als eine Art Schutzheilige der ‚Schatten‘, als die Anstifterin all ihrer Taten darstellte. Würde ich mit diesen Personen wohl gar in Kämpfe verstrickt werden, hart auf hart? Würden die Waffen sprechen, lärmend und wild, und würden – – –
Jäh hob ich den Kopf, saß wie erstarrt und lauschte. Ein Schuss war gefallen. Da noch einer und abermals einer! Jetzt klang Geschrei an mein Ohr. Dann war alles wieder still wie zuvor.
Da war auch schon Halef an meiner Seite.
„Sihdi, was ist geschehen? Ich hörte Schüsse.“
„Es war da drüben. Sei still! Wir müssen vorerst weiter lauschen.“
Aber es kam anders. Auch die beiden Kurden waren erwacht. Nun redete Melef auf mich ein.
„Schweig!“, wies ich ihn ab.
Er aber ließ sich nicht beruhigen.
„Es sind Feinde in der Nähe, Chodih. Wir müssen diesen Ort schleunigst verlassen.“
Da gab ich das Lauschen auf. Es war sowieso nichts mehr zu hören.
„Keine Torheiten, Melef!“, warnte ich. „Wenn wir aufbrechen, geht es in der Dunkelheit gewiss nicht ohne Geräusch ab. Das lockt die Feinde höchstens herbei. Wir wollen uns lieber ruhig verhalten und das Feuer vollends verlöschen. Unser Versteck bietet uns vorläufig hinreichend Sicherheit.“
Man tat nach meinem Geheiß. Dann standen wir eine Weile regungslos. Als sich auch jetzt nichts rührte, wendete ich mich im Flüsterton an die Kurden.
„Die Schüsse fielen da drüben, wo deiner Angabe nach, Melef, der Pass nach Bebehan führt. Von dort klangen auch Stimmen. Ich werde mich einmal hinüberschleichen und nachsehen, was es da gegeben hat.“
„Chodih, bist du von Sinnen?“, fuhr er auf. „Der Mensch soll sein Leben nicht mutwillig aufs Spiel setzen. Ich bin kein Feigling, aber ich warne dich. Auch uns wirst du unnütz in Gefahr bringen, wenn du...“
„Still! Du hast von den beiden Boten gehört, wer ich bin. Ich verstehe mich aufs Anschleichen. Denke an das, was man von mir erzählt! Mich fängt man nicht so leicht.“
Dann gab ich Halef die nötigen Erklärungen und Verhaltensmaßregeln. Er wollte mich nicht allein gehen lassen und bestürmte mich mit Bitten, ihn mitzunehmen. Ich aber hatte diesmal einen wirklich zwingenden Grund, ihn zurückzulassen. Die Pferde mussten hierbleiben und bei ihnen einer von uns. Sonst hätte es doch vielleicht geschehen können, dass wir nach unserem Kundschaftergang vergebens nach den Kurden und den Tieren suchten. Unseren beiden Begleitern war leider immer noch nicht zu trauen. Das leuchtete Halef ein. Er fügte sich.
„Ihr verhaltet euch völlig still und wartet!“, sagte ich. „Selbst wenn ein Schuss fallen sollte, braucht euch das nicht zu kümmern. Erst wenn ich bis zum Tagesgrauen noch nicht zurück wäre, müsstest du annehmen, Halef, dass mir etwas zugestoßen ist, und zusehen, ob du mir irgendwie Hilfe bringen kannst. Aber du darfst ruhig sein. Dahin wird es nicht kommen.“
So trat ich denn meinen Spähergang an. Natürlich hütete ich mich, die freie Fläche des Talkessels zu überqueren. Der Schein der Sterne hätte ausgereicht, mich da draußen jedem menschlichen Auge sichtbar zu machen. Ich hielt mich vielmehr immer am Waldsaum, ein wenig noch in den Büschen. Zur Linken hatte ich die Berglehne, zur Rechten das Grasland.
Anfangs kam ich noch leidlich rasch vorwärts. Dann aber bemerkte ich, dass sich links die geschlossene Wand der Berglehne öffnete. Eine bewaldete Schlucht schien da nach oben zu führen. Das musste der Weg nach dem Pass sein, von dem Melef gesprochen hatte. Da ich gewohnt war, mich auf mein Gehör verlassen zu können, glaubte ich bestimmt zu wissen, dass die drei Schüsse in dieser Schlucht gefallen waren. Hier waren die Menschen zu suchen, über die es Näheres zu erfahren galt. Freilich durfte ich nicht daran denken, nun etwa geradeswegs in die Felsenge einzudringen. Das hätte mich womöglich selbst bei Anwendung der größten Vorsicht einem Posten, der sehr wohl dort ausgestellt sein konnte, in die Hände geführt. Nein, ich musste prüfen, ob mir der Hang zur Linken eine Möglichkeit zum Vorwärtskommen bot. Die Sohle der Schlucht durfte ich nur im äußersten Notfall betreten.
Ich hielt mich also links und kletterte behutsam bergan. Kein Zweig durfte unter meinen Tritten knacken, kein lockerer Stein von meinen Füßen ins Rollen gebracht werden, kein Ast rascheln. Das war ein schwieriges Beginnen, zumal hier unter den Bäumen das Sternenlicht fehlte. Der einzige Vorteil war, dass mir die tiefe Dunkelheit einen guten Schutz gegen Sicht gewährte.
Es ging langsam und mühselig, aber es ging. Ich kam voran. Höher und höher zog sich rechts unter mir die Schlucht zum Pass hinauf. Da schimmerte mir von unten ein Lichtschein entgegen. Ich näherte mich ihm. Er wuchs. Es war die offene Flamme eines Lagerfeuers. Dicht dabei erkannte ich die Umrisse menschlicher Gestalten. Auch Stimmen wurden laut. Jetzt durfte ich nicht weiter aufrecht gehen, wollte ich mich nicht der Gefahr aussetzen, entdeckt zu werden. Ich ließ mich auf Hände und Knie nieder, folgte so dem Hang noch eine Strecke, bis das Feuer gerade unter mir brannte, und begann nun endlich mit verdoppelter Vorsicht den Abstieg. Es war nicht weit bis da hinab und doch brauchte ich zu diesem kurzen Weg wohl eine halbe Stunde. Dann trennte mich von dem Lagerplatz nur noch eine Ansammlung mächtiger Felsblöcke, überwuchert von Ranken und Gesträuch. Zwischen diese Blöcke schob ich mich hinein. Bald konnte ich alles sehen und hören, was da vorging, ich selbst aber war jedem spähenden Blick verborgen.
Am Feuer lagerten zwölf Männer. Drüben, jenseits der Schlucht, stand ein dreizehnter, offenbar eine Wache; denn da drüben waren Pferde angebunden. Die Kleidung dieser Leute ließ keinen Schluss auf ihre Volks- oder Stammeszugehörigkeit zu. Die Lammfellmützen, die sie ohne Ausnahme trugen, kennzeichneten sie zwar als Perser, dem aber widersprach der Umstand, dass sie sich des Kurdischen bedienten, und zwar ganz geläufig.
Doch fürs Erste fesselten nicht diese dreizehn meine Aufmerksamkeit, sondern ein Einzelner, der dicht am Feuer mitten in ihrer Runde saß. Er war an Händen und Füßen gebunden, also Gefangener. Soeben wurde er verhört. Ich war also zu einem recht geeigneten Zeitpunkt gekommen. Diesen Gefangenen kannte ich. Es war einer der beiden Boten, und zwar der jüngere, der Sohn. Der das Verhör leitete, war gleichfalls noch ein junger Mann, nicht älter als einige zwanzig Jahre. Die Züge seines Gesichts hatten auf den ersten Blick etwas Gewinnendes. Sie waren edel geformt, die Stirn hoch, die Nase fein geschnitten, der Mund klein, fast frauenhaft, aber aus seinen Augen blitzte das Feuer tatenfroher Männlichkeit. Soeben zuckte es um seine Lippen wie Spott und Verachtung, während er gegen den Kurden eine Gebärde der Abwehr und Geringschätzung machte.
„Schweig mit deinen Märchen! Ich bin kein Knabe, dem du etwas vorschwatzen kannst. Ihr seid arm und verfügt nicht über die Schätze, die dazu gehören, zwei solche Pferde zu kaufen. Ihr habt sie gestohlen.“
„So nenne mir den Mann, dem sie gehören!“, knurrte der Kurde. „Außerdem geht dich dieser ganze Handel nichts an. Was mengst du dich in unsere Angelegenheiten? Hüte dich!“
Die Erwähnung der Pferde ließ mich hinüber nach dem jenseitigen Rand der Schlucht spähen. Kein Zweifel, hier war von unseren Rappen die Rede. Die Diebe waren samt ihrer Beute Feinden in die Hände gefallen. Leider konnte ich drüben nichts erkennen. Aber ich war meiner Sache auch so sicher. Unsere Pferde standen dort in der Obhut des Postens bei den Tieren der Fremden.
Sofort kam mir der Gedanke, sie heimlich zu entführen. Aber ich verwarf ihn ebenso rasch wieder. Ein solcher Handstreich konnte hier in der engen Schlucht nicht unbemerkt bleiben. Es wäre zum Kampf gekommen und das Abenteuer hätte für mich sicherlich ein schlimmes Ende genommen. Ganz abgesehen davon, dass es ja auch die Gewehre wiederzuerobern galt. Ohne sie wollte ich nicht vom Platz gehen.
Aber – so überlegte ich weiter – war denn ein Eingreifen in dieser Weise überhaupt nötig? Machte nicht der Jüngling dort, der Anführer der Sieger, einen recht vertrauenerweckenden Eindruck? Verurteilte er nicht die Handlungsweise der Diebe? Schien es nicht, als wolle er nach den rechtmäßigen Eigentümern der Diebesbeute forschen? Vielleicht konnte ich mich ihm offen zeigen und er würde mir das geraubte Gut in Frieden und Freundschaft herausgeben!
Ja oder nein, das musste die Zukunft zeigen. Erst wollte ich weiter lauschen und beobachten. Der junge Anführer hatte auf die Drohung des Gefangenen eine Weile geschwiegen und sinnend ins Feuer geblickt. Jetzt sah er dem Kurden ruhig und fest ins Auge.
„Hüten? Uns hüten, sagst du? Wovor?“
„Vor der Blutrache!“
„Schwätzer!“
„Chodeh nehme den Leichtsinn von dir! Richte deinen Blick nach jenem Gestrüpp! Da liegt die Leiche meines Vaters, den ihr getötet habt. Sein Blut wird über euch kommen.“
Auch ich spähte in die angedeutete Richtung, konnte aber nichts erkennen. Der eine der Boten, und zwar der ältere, war also im Kampf gefallen. Daher die Schüsse. Jetzt wusste ich, dass die Lage ernst war, furchtbar ernst.
Die Blutrache ist den Kurden heilig. Wehe den Männern mit den Lammfellmützen, wenn sie je einmal den Stammesgenossen des Toten in die Hände fielen!
Auf den Jüngling aber machte die Drohung nicht den geringsten Eindruck.
„Ihr wollt den Gefallenen an uns rächen?“, fragte er ruhig.
„Blutig rächen!“, klang es zurück.
„Dazu müsstest du erst wieder freikommen, um den Deinen berichten zu können, was sich hier ereignet hat. Glaubst du denn, dass wir so töricht sind, dich laufen zu lassen?“
„Ihr müsst. Ihr habt kein Recht an mir. Ich habe euch nichts getan.“
„Angenommen, es wäre so! Dann müsstet ihr uns zu finden wissen. Ahnst du denn, wer wir sind?“
„Du bist Aman, der Sohn von Maktub Khan. Wer sollte dich nicht kennen?“
Da ging eine jähe Verwandlung in den Zügen des Jünglings vor. Seine Augen sprühten förmlich Blitze. Finstere Wolken schienen auf der gefurchten Stirn zu lagern. Wild flammte er auf.
„Hund, erbärmlicher! Du nennst meinen Namen und den meines Bav72 und wagst es dennoch, mir zu drohen? Du weißt, wie wir zueinander stehen, und faselst dennoch von deiner Freiheit! Wie Wasser und Feuer einander hassen, so ist Feindschaft gesetzt zwischen die ‚Unsichtbaren‘ und die ‚Hüter des Lichts‘. Wisse, dass ein gewaltiges Geschehen aus dem Schoß der Zukunft herauswächst! Die alte Weissagung beginnt sich zu erfüllen. Von Westen steigt über die Berge ein gewaltiger Held. Er trägt in der Linken die unverlöschbare Fackel, in der Rechten das flammende Racheschwert. Er wird auch in das tiefste Dunkel hineinleuchten und die gespenstischen Nachtgestalten aufscheuchen. Überall wird heller Tag sein und im Licht dieses Tages wird das Schwert des Rächers alle Übeltäter fressen. Das berichtet die Sage und das ist meine Antwort auf dein kindisches Drohen. Und nun noch einmal: Woher habt ihr die Pferde?“
„Gekauft! Ich kann es nicht anders sagen.“
„Die Gewehre wohl auch?“
„Ja!“
„O du Narr, willst du mir weismachen, dass einer hierzulande solche Waffen feilbietet? Sie stammen aus Frankistan73. Ihr habt sie einem Fremden abgenommen. Nun sind sie mein Eigentum. Die Ingli und die Moskowitli74 sind Söhne des Teufels, die man zertreten soll wie das giftige Gewürm. Aber ihre Waffen sind gut. Maktub Khan wird seinen Sohn loben, wenn er sieht, welche Beute ihm Aman heimbringt. Morgen in aller Frühe werden wir aufbrechen und dich zu ihm bringen. Er mag über dein Schicksal entscheiden.“
Er gab seinen Leuten einen Wink, worauf sie den Gefangenen zu den Pferden trugen. Dort wurde er von einem zweiten Posten bewacht.
Ich verharrte vorläufig in meinem Versteck, denn ich hoffte, noch mehr erlauschen, vor allem etwas über die Gründe erfahren zu können, die diese Männer hierhergeführt hatten. Was Aman über die ‚Unsichtbaren‘ und über die ‚Hüter des Lichts‘ gesagt hatte, stimmte vortrefflich mit meinen Vermutungen überein. Nur war es leider noch immer zu wenig, um mir Klarheit zu schaffen. Jedenfalls hatte damit die Person dieses Jünglings besondere Bedeutung für mich gewonnen. Bei ihm konnte und wollte ich mir Aufklärung holen. Allerdings schien das nicht ganz ungefährlich zu sein. Er hatte sich und seinen Vater ausdrücklich als Feinde aller Fremden bezeichnet. Deshalb war auch nicht daran zu denken, mich ihm etwa jetzt schon offen zu zeigen und unser Eigentum zurückzuerbitten. Was ich unternehmen sollte, um wieder in den Besitz des geraubten Gutes zu kommen, wusste ich noch nicht. Das wollte reiflich überlegt sein.
Vorläufig beschloss ich, den Rückzug anzutreten. Es zeigte sich nämlich, dass Aman und seine Leute zur Ruhe gingen. Es wurde nur noch die Reihenfolge der Wachen bestimmt. Dann streckte sich der Jüngling an dem langsam niederbrennenden Feuer aus und die Übrigen – bis auf die Posten – folgten seinem Beispiel.
Lautlos schlüpfte ich aus meinem Versteck hervor. Dann wendete ich mich, noch immer kriechend, dem Ausgang der Schlucht zu. Den mühseligen Umweg über den Hang konnte ich mir jetzt ersparen. Ich wusste ja nun, dass da unten keine Posten standen. Auch brauchte ich mich nicht damit aufzuhalten, etwaige Spuren hinter mir zu tilgen. Wären es Indianer gewesen, die ich beschlichen hatte, so wäre solche Vorsicht unbedingt nötig gewesen. Sonst hätte man am Morgen meine Anwesenheit während der Nacht entdeckt und hätte mir nachgestellt. Diesen Bewohnern des kurdischen Berglandes gegenüber konnte ich weit sorgloser verfahren. Und so vollzog sich der Rückmarsch viel rascher und leichter als das Anschleichen.