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Otto Meister oder die Faszination des Fernen Ostens

Zur Biograie eines Wagemutigen

Von Ursula Meister-Cardi

Das vorliegende Buch beruht auf Briefen, Tagebüchern und Fotografien, die der Ingenieur Otto Meister, geboren am 16. August 1873 in Horgen, Schweiz, gestorben am 28. März 1937 in Shanghai, China, in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts aus dem Fernen Osten an die Familie und seinen Arbeitgeber in die Schweiz schickte. Sie führen uns zurück in die Zeit zwischen 1903 und 1910, als Otto Meister zunächst als subalterner Ingenieur und bald als Chefingenieur beim Bau der Eisenbahnlinie beschäftigt war, die vom Grenzgebiet zwischen dem französischen Tonkin (heute Vietnam) und der chinesischen Provinz Yunnan bis nach Kunming (heutige Hauptstadt von Yunnan) führen sollte. Fotos und Skizzen zeigen, wie schwierig das Unterfangen in dieser teils tropischen, oft unwegsamen Landschaft war. Im Anschluss an diese Arbeit fuhr Meister nach Japan, wo er von 1911 bis 1922 für die Firma Gebrüder Sulzer in Winterthur tätig war. Nach einer achtmonatigen Reise über Mexiko in die Schweiz übersiedelte Otto Meister mit seiner Familie nach Shanghai in China, um dort die südostasiatische Niederlassung der Firma Sulzer Brothers zu gründen, für die er von 1921 bis 1937 im gesamten südostasiatischen Raum zuständig war.1 Er wurde Zeuge des Chaos, das als Folge der revolutionären Unruhen jener Zeit herrschte, in der sich die Anhänger des nationalistischen Tschiang Kai Schek und des kommunistischen Mao Tse-tung bekämpften. Es ist ein Glücksfall, dass zahlreiche Objekte sowie Dokumente, Briefe, Tagebücher und Fotografien über die Generationen hinweg in der Familie Meister bewahrt worden sind.

Otto Meister hinterliess 874 Fotos auf stereoskopischen Glasplatten und an die tausend Papierabzüge; daneben Postkarten, Zeitungsausschnitte, Dokumente, Reisepässe, Studien- und Arbeitszeugnisse, ungefähr fünfhundert Briefe, drei Tagebücher und viele Lageberichte an die Firma Sulzer. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit, alles wurde fortlaufend aufgezeichnet: Jahrzehntelang verschickte er Dutzende von Briefen und Fotos, zunächst an die Eltern, dann an den Bruder Edy und seine Schwägerin Emmy, mit denen er besonders verbunden war, und in den letzten Jahren an seinen Sohn Freddy, der in Zürich Architektur studierte.


Emil Meister und seine Tochter Lorly, Zürich Paradeplatz, 1898.

Eine Jugend im Herzen von Zürich

Ein strenger, fast nüchterner Mann, schlicht gekleidet, mit einfachem Lebensstil, präzise, pünktlich, ausgeglichen, vernünftig, kurz, ein Schweizer aus einer anderen Zeit, der mit beiden Füssen auf dem Boden stand: So beschrieb ihn sein Sohn Alfred Jutaro Meister, geboren 1913 in Mitsukaido, Japan, gestorben 1987 in Locarno, Schweiz.

Ottos Vater, Emil Meister (1847–1921), war ein Nachkomme der Familie Meister aus Zürich, deren Stammbaum bis ins Jahr 1400 zurückverfolgt werden kann.2 Ottos Vater hatte 1881 ein kleines Bijouteriegeschäft am Münsterhof 16 eröffnet, das sich ab 1897 am Paradeplatz befand. Das Unternehmen wurde mit der Zeit auf drei Verkaufsstellen erweitert, unter anderem um ein Uhrengeschäft, das heute an der Bahnhofstrasse von den Enkeln und Urenkeln weitergeführt wird. Die Mutter, Elisa Hess von Wald (1852–1884), die aus einer wohlhabenden, alteingesessenen Familie des Zürcher Bürgertums stammte, starb wenige Monate nach der Geburt des achten Kindes. Emil heiratete 1888 in zweiter Ehe Julie Aeschlimann von Burgdorf (1861–1937).

Otto, der älteste der neun Brüder, die das Kleinkindalter überlebten, zeigte keinerlei Neigung, das Geschäft seines Vaters zu übernehmen, wohl wegen seines Unabhängigkeitsdrangs und jener Abenteuerlust, die ihn in den Orient führen sollten. Bereits in den ersten Jahren nach dem Studium zum Bauingenieur am Polytechnikum Zürich, das er 1896 abschloss, sammelte er wichtige Arbeitserfahrungen: Für die Zürcher Firma Zschokke war er zunächst kurze Zeit in Zell und Aarau und dann bis 1899 bei einem Brückenbauprojekt in Randers, Dänemark, beschäftigt. Schon aus dieser Zeit existiert ein in Stenographie abgefasstes minuziöses Tagebuch. Von 1899 bis 1903 arbeitete er in Spanien, auf den Trockendocks im Seearsenal von Carraca in der Nähe von Cadiz. Als im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung in Europa in den Kolonialgebieten bauliche Grossprojekte entstanden, sah Otto Meister darin neue Möglichkeiten von ganz anderen Dimensionen für sich und verliess Europa in Richtung Ferner Osten. Sein Ziel war die Grossbaustelle der französischen Eisenbahnlinie im heutigen Vietnam und China.

Zwischen Arbeit und Abenteuer: Bahnbau im südchinesischen Bergland

Die Reise an Bord des Motorschiffs «Jarra», das am 16. Juni 1903 von Marseille Richtung Indischer Ozean in See gestochen war, dauerte zwei beschwerliche Monate (u.a. durch den Suezkanal, an dem noch Arbeiten in Gang waren) bis Hanoi, von wo ihn ein Schaufelraddampfer den Roten Fluss hinauf bis nach Lào Cai brachte.

Lào Cai war Umschlagplatz für Menschen, Material und Versorgungsgüter zwischen der praktisch fertiggestellten Eisenbahnlinie Hanoi–Lào Cai und der neuen Teilstrecke Lào Cai–Yunnansen (Kunming). Von dort aus erreichte er mit schwer beladenen Mauleseln und auf kleinen Yunnan-Pferden – er, der grossgewachsene Schweizer! – Mitte August 1903 schliesslich Mong-tse, wo der französischer Konsul Auguste François residierte. Damit begann sein Einsatz als Ingenieur beim Bau der Eisenbahnlinie Lào Cai–Yunnansen für die Compagnie Française des chemins de fer de l’Indo-Chine et du Yunnan. Frankreich hatte 1898 die Rechte erhalten, in Yunnan Eisenbahnlinien zu bauen, in der Provinz Handel zu treiben und Konsulatssitze einzurichten. Das Eisenbahnprojekt war lanciert worden, um das französische Tonkin mit dem Süden Chinas zu verbinden und so den Handel mit Indochina zu fördern und das Erzvorkommen in Yunnan für Frankreich nutzen zu können. Letzteres stellte sich als Fehlschlag heraus, denn die Erzlager erwiesen sich als nicht sehr ergiebig, weder in Bezug auf die Qualität noch die Quantität. Neben Tee war in jenen Jahren Opium die einzige Ware, für die sich für der Transport wirklich lohnte.


Postkarte aus Madrid mit der Ankündigung seiner Stelle bei der Compagnie Française des chemins de fer de l’Indo-Chine et du Yunnan, 23. April 1903.

1903 war die Linienführung der französischen Eisenbahnlinie also bereits abgesteckt, und sie wurde mit nur leichten Abweichungen auch danach gebaut. Es war keine einfache Route, wenn sie auch weniger unwegsam war als die von den Engländern entworfene: Das Gebiet war aufgrund des feucht-heissen Klimas besonders im südlichen Teil unerschlossen, wild und beinahe unbewohnt. Die Eisenbahnlinie führte durch tiefe, verwinkelte Gebirgsschluchten, in denen sich oft auch die Karawanen mit dem Nachschub verirrten. Man musste Wege anlegen, um das Material zu transportieren, provisorische Brücken oder Flosse bauen, um Flüsse und Sümpfe überwinden zu können. Die geografischen Gegebenheiten erschwerten auch die Versorgung: Da die Gegend praktisch unbewohnt war, konnte nichts vor Ort gekauft werden, und das gesamte Material musste mit Trägern und Lasttieren herangeschafft werden.

Als Meister im provisorischen Camp von A-Pet-Soun in Südyunnan angelangt war, übernahm er den ihm zugeteilten Abschnitt der Eisenbahnlinie. Dieser lag in einem gesundheitlich höchst problematischen Gebiet, heimgesucht von unzähligen Mücken, sogenannten Beri-Beri, und periodisch wiederkehrenden Epidemien, die immer wieder viele Menschenleben hinwegrafften. Während der Regenzeit herrschte im südlichen Teil der Region aufgrund der Nähe zu den Flüssen Mekong (auch Roter Fluss genannt) und dem Nanxi Hé ein tropisches Klima, «heiss, feucht und ungesund». Diese klimatischen Bedingungen prägten die Flora und die Fauna, die Topografie und damit auch die Arbeits- und Lebensbedingungen. Unvorstellbar hart waren letztere insbesondere für die Arbeiter, die nicht lange durchhielten und laufend abgelöst werden mussten. Meister schildert all das sehr farbig, auch das Verhältnis zwischen den Bauunternehmern und den Ingenieuren und wiederum deren schwierige Beziehungen zu den chinesischen Arbeitern. Angesichts der Umstände verwundert es nicht, dass viele Arbeiter zu fliehen versuchten, zumal sie oft aus fernen Regionen des riesigen chinesischen Reichs stammten.

Die Lebensbedingungen verbesserten sich im Laufe dieser Jahre, je weiter man beim Bau gegen Norden vordrang; das Klima in den Bergen war frischer und die Luft weniger schwül. Nachdem Otto Meister zum Ingenieur Sektionschef ernannt worden war, wurde die Arbeit für ihn interessanter. Das galt für die Planung ebenso wie für die Leitung der komplexen Projekte von Tunnels und Brücken, die in jenem unwegsamen Gebiet mit all den Schluchten und reissenden Flüssen eine besondere Herausforderung darstellten. Darunter war auch die heute zum Wahrzeichen gewordene sogenannte «Menschen-Brücke».

Daneben berichtet Meister in seinen Briefen von Aufständischen, Banditen und Dieben aller Art. Und von Generälen oder Präfekten, die in vollem Pomp vorbeizogen – auf prunkvollen Sänften mit grossen roten Sonnenschirmen und einem Gefolge von Offizieren und Dienern mit reich verzierten Uniformen und seltsam geformten Hüten – und auf ihrem Weg eine Reihe von abgehauenen Köpfen zurückliessen, die sie in den Strassen der Stadt an Stangen aufspiessen oder an der Stadtmauer in Holzkäfigen aufhängen liessen.

Gegen Ende der Bauzeit verfolgte die chinesische Regierung zunehmend das Ziel, das Monopol der ausländischen Eisenbahngesellschaften zu brechen, sodass Angestellte, deren Verträge abgelaufen waren, durch chinesische Arbeitskräfte ersetzt wurden. Die chinesische Revolution von 1900–1911, angeführt vom ersten grossen chinesischen Revolutionsführer Sun-Yat-Sen, führte das Ende der Manchu-Dynastie herbei und steht in historischem Zusammenhang mit den Volkserhebungen 1905 in Indien (gegen die Engländer), 1905 in Russland, 1907 in der Türkei und 1908 in Persien. Mit dem Fall der Manchu-Dynastie und der Entmachtung der im gesamten, riesigen Gebiet stationierten Regierungsbeamten wurde das Verwaltungssystem, einschliesslich des Eisenbahnsektors, von der Krise erfasst. In diesem administrativen und politischen Chaos entschloss sich Otto Meister, China zu verlassen.

Japan, die grosse Liebe

Mit Sicherheit hielt sich Otto Meister ab Januar 1911 in Tokio auf. In einem Brief aus diesem Jahr schrieb er an seinen Vater, er warte in Tokio auf eine Antwort aus Berlin bezüglich eines Arbeitsangebots. Gleichzeitig spielte er mit dem Gedanken, nach Südamerika zu gehen, was er einige Jahre später mit einer Reise durch Mexiko verwirklichen sollte.3

In der Zwischenzeit knüpfte er wichtige Beziehungen, und in den höheren Kreisen der Schweizer Diplomatie zog man ihn als Berater in Chinafragen hinzu. Im gleichen Jahr schrieb er einen Brief an den Schweizer Botschafter in Tokio, der von ihm wissen wollte, wie die Lage für die chinesische Bevölkerung, die Ausländer und insbesondere die Schweizer aussehe und ob es seiner Meinung nach möglich sei, in China ein Schweizer Konsulat zu eröffnen. Meister kam zum Schluss, dass es angesichts der jüngsten Ereignisse und der ständigen Unruhen schwierig sein dürfte für ein so kleines Land, ein Konsulat aufrechtzuerhalten ohne eine Militärmacht im Rücken, die es beschütze.4

Danach kehrte er für einige Monate in die Schweiz zurück und fand eine Anstellung bei der Firma Sulzer in Winterthur, die Dampf- und Dieselmotoren für Schiffe und die Industrie herstellte und die ihn mit der der Auslandsvertretung für China, Japan und Indochina betraute. Ab 1911 war er in Tokio stationiert und von 1913 bis 1922 in Kobe, bevor er endgültig nach Shanghai übersiedelte.


Otto Meister mit Chiyo Ishizuka in Shanghai, undatiert.


Chiyo Ishizuka mit Sohn Alfred «Freddy» Jutaro, Kobe 1918.

Er verbrachte ein ruhiges Jahrzehnt in Japan, das sich allmählich modernisierte. In seinen Berichten erscheint es als ein Land mit zauberhaften Landschaften, mit Gärten, die das perfekte Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur darstellen, und Tempeln, die von Parkanlagen mit zahllosen wunderschönen Pflanzen und Blumen umgeben sind. In den ersten Jahren seines Japanaufenthalts lernte er in Tokio Chiyo Ishizuka kennen, die zu seiner Lebensgefährtin wurde und mit der er einen gemeinsamen Sohn hatte, Freddy Jutaro.

Chiyo war eine für die damalige Zeit sehr gebildete Frau, die Englisch sprach und für die Botschaften übersetzte. Chiyo war in verschiedenen japanischen Künsten bewandert, so im Schreiben, Zeichnen, in der Musik und in der Kunst, der Teezeremonie. Diese hat in der japanischen Tradition eine tiefe spirituelle Bedeutung. Ihr eigentlicher Zweck ist es, eine Atmosphäre der Harmonie und Gelassenheit für Geist und Körper zu schaffen, wie eine Aufnahme von Chiyo mit einer Schwester und Sohn Freddy Jutaro dokumentiert (nächste Seite). Chiyo spielte das Koto, ein traditionelles japanisches Musikinstrument ähnlich einer grossen Zither, und beherrschte Ikebana (japanisch für «lebende Blumen»), die Kunst des Blumenarrangierens. Chiyos Vater soll einer Samurai-Familie entstammen, würdevoll blickt er auf dem Familienfoto von 1920 in die Kamera (nächste Seite). Wer das Bild aufgenommen hat, kann man am westlichen Hut erraten, der auf der Bank liegt …

Zur Absicherung seiner Familie hatte er eine Lebensversicherung in kanadischen Dollars abgeschlossen, die allerdings infolge der Inflation der 1920er-Jahre fast ihren ganzen Wert einbüsste. In späteren Jahren gelang es ihm dann, aus der Schweiz heraus ein Haus in Japan zu finanzieren. Chiyo fühlte sich ihrem Land so sehr verbunden, dass sie die Inseln zeitlebens nicht verliess und die Schweiz, anders als ihr Sohn Jutaro, nie kennenlernte.


Chiyo Ishizuka (Mitte) mit ihrem Sohn Alfred und ihrer Schwester, etwa 1915.


Vater Ishizuka mit seinen vier Töchtern und Enkel Alfred, Tokio 1918.


Chiyo mit Alfred in Shanghai, undatiert.

Ottos berufliche Tätigkeit für die Auslandvertretung erlaubte es ihm, alle drei bis vier Jahre in die Schweiz zurückzukehren. Die Reisen dauerten jeweils zwei Monate. waren beschwerlich und voller Zwischenfälle. Die Route führte entweder von Kobe über den den Suezkanal nach Marseille oder in die entgegengesetzte Richtung: über den Pazifik nach San Francisco und New York oder durch Mexiko und Panama) und von dort nach England.

Rückkehr zwischen den Fronten

Am II. April 1914 reiste Otto Meister von Kobe in die Schweiz, diesmal über die Hawaii-Inseln, San Francisco, Mexiko und Panama und von dort mit einem Schiff nach Avonmouth, England, wo er am 5. Juli ankam. Es war eine Geschäftsreise: Seine Mission war es, sich nach möglichen Handelsräumen und Absatzmärkten für die Schweizer Industrie umzusehen, die zu den führenden Maschinenproduzenten gehörte. In Meisters Tagebuch finden sich Einträge zu Gesprächen sowohl mit dem Schweizer Konsul von Mexico City als auch mit einem Schweizer Stoffhändler. Die beiden Landsleute beschrieben ihm die Lage folgendermassen: Im Norden von Mexico City kämpften Regierungstruppen gegen nicht näher benannte «Rebellen»; im Süden wüteten die Zapatistas; von Westen her rückten die Rebellen von Manzanillo und Guadalajara vor, und im Osten hatten die Amerikaner Vera Cruz besetzt – ein Bürgerkrieg schien unvermeidlich. Elemente des Nationalismus und des Sozialismus vermischten sich auf wirre, undurchsichtige Art und Weise. Meisters Tagebuch ist ein einmaliges Dokument, in dem von allerlei kleinen Vorfällen aufgrund der sich ausbreitenden mexikanischen Revolution von Zapata und Pancho Villa berichtet wird, aber auch das Bild von kleinen, farbenfrohen Dörfern und Städtchen Zentralamerikas mit ihren Bewohnern gezeichnet wird und in dem die Gegensätze zwischen den reichen Grossgrundbesitzern und der armen Bevölkerung deutlich werden.

Auf seiner Eisenbahnreise durch den Süden Mexikos durchquerte er die Region von Juchatan, die Heimat der Chiapas-Indianer: «Die Leute hier, fast alles echte Indianer, sollen noch ganz ursprünglich sein und ihre Gewohnheiten unverändert beibehalten haben. Ein schöner, kräftiger, wohlgebauter Schlag, sympathische Gesichter. Die Leute sollen aber arbeitsscheu und sehr kriegerisch gesinnt sein und sich viel lieber als Soldaten anwerben lassen als arbeiten. Aufrichtigkeit, Wahrheitsliebe & Treue werden ihnen nachgerühmt.»

Meister kam 1994 zum Schluss, dass sich Mexiko nicht für Schweizer Investitionen eignete. Die Revolution richtete sich gegen die Kolonialherren, und so zogen die Europäer ihr Kapital vermehrt ab. Eine etwas makabre Geschichte, die Meister detailliert aufgeschrieben hat, zeigt deutlich das Gemisch aus Arglosigkeit und Gewalt, Ideologie und Verwirrung, aus Anpassung und Verzweiflung, die vielleicht typisch für alle Revolutionen ist und die Meister aus seiner privilegierten Warte mehr von der anekdotischen Seite her nahm:

«Ein Chinese, mit seinem Bündel auf dem Rücken, trottet im Schweisse seines Angesichts auf der Landstrasse. Daher kommt ein Trupp Soldaten, Maderitas. Der Chinese wird angehalten, & der Anführer fragt ihn: ‹Quién vive?›

‹Diaz› sagt der Himmlische auf’s Geratewohl, & wird natürlich konsequenterweise dafür von den Anhängern Madero’s gehörig verprügelt & beraubt.

Traurig, seiner Habseligkeiten beraubt & seine Schwielen reibend, zieht der Sohn des Reiches der Mitte weiter. Feldein kommt wiederum eine Bande Bewaffneter. ‹Quién vive?›

Diesmal denkt der Chinese: Mit Diaz war’s nichts. Wollen’s also mal mit Madero versuchen. ‹Madelo!› brüllt er begeistert. Aber diesmal waren es Regierungstruppen, & der arme Gelbe wird halb tot geschlagen am Wege liegengelassen.

Endlich rafft er sich wieder auf & schleppt sich weiter. Aber da glänzen schon wieder Bayonette & Machetes. Eine Pistole wird ihm unter die Nase gehalten & wiederum heissťs ‹Quién vive?› Halb tot vor Angst stammelt der zitternde Sohn des Blumenreiches: ‹Dilo tú el pelimelo!› (Sag’s du zuerst!)»

Die Reise ging zum grössten Teil mit der Eisenbahn weiter, bisweilen auch auf einem Ochsenkarren oder zu Pferd, und von Honduras bis Panama auf einem alten Schiff. Meister beschreibt in seinem Tagebuch auch die prachtvolle, abwechslungsreiche Vegetation, die er auf seiner Fahrt vom Hochplateau von Mexiko City bis hinunter zum Meer beobachten konnte:

«Abends 4 Uhr erreichten wir das hübsch und schon ziemlich hoch gelegene Colima, wo wir zu übernachten hatten. Es war ein prächtiger Anblick, wie die Sonne unterging, hinter dem Stadtpark mit seinen Palmen und Mangobäumen zwischen denen da und dort die feuerroten Blüten des ‹Arbol de fuego› hervorleuchteten wie phantastische Gebilde einer unbekannten Märchenwelt.»

Am Ende ist auch die Ausreise aus Mexiko nicht einfach:

«Ferner erfuhr ich von Herrn Z., dass ich ohne einen Pass weder aus Mexico heraus- noch nach Guatemala hineinkäme, Ich wies triumphierend meinen 20-fränkigen Pass von San Francisco vor, erweckte damit aber nur ein mitleidiges Lächeln & wurde zu meinem Ingrimm bedeutet, dass der hier ganz wertlos sei. Es sei ein Spezialpass nötig vom hiesigen guatemaltekischen Konsul; denn der müsse auch gelebt haben. Was war da zu machen! Also hin zu ihm! Wir trafen auch richtig den Herrn Konsul in seinem Plättlibodenbudeli, zu ebener Erde, in Hemd & Hosen, in einer ‹Mecedora› (Schaukelstuhl) bedächtig seine Cigarette rauchend. Er war übrigens sehr höflich, nett & billig, 1 Peso nur. Nun noch auf die ‹Jefatura› (so etwas wie ein Polizeibureau), wo der Pass gestempelt wurde.»

Zwei Monate lang war Meister von Insekten, vor allem Mosquitos, geplagt worden. Als er in Panama ankam, fand er das Gebiet des Kanals wie durch ein Wunder frei von Mücken vor: Die Amerikaner hatten bei der Trockenlegung das berühmte DDT eingesetzt und dabei ganze Arbeit geleistet. Während der jahrelangen Bauarbeiten waren Tausende von Arbeitern – man spricht von 25 000 – gestorben, ein Grossteil an Gelbfieber und Malaria, das von diesen Mücken übertragen wird. Überall herrschte hektische Geschäftigkeit, und die Arbeiten wurden mit grösster Eile vorangetrieben, um den Kanal so schnell wie möglich für die Schifffahrt freizugeben, wenigstens provisorisch. Die offizielle Eröffnung sollte erst im August 1914 stattfinden, also einen Monat nachdem Meister dort gewesen war.

Anfang Juli gelangte er auf einem Schiff nach England und von dort in die Schweiz, wo er einige Monate blieb, bevor er, diesmal über den Suezkanal, nach Japan zurückkehrte. Gemäss einem Brief von 1915 war er schon im Januar jenes Jahres wieder in Kobe: In acht Monaten hatte er die Welt umrundet.

Wieder in China: Shanghai

1922 kehrte Otto Meister nach China zurück, diesmal nach Shanghai, um die neue Vertretung der Firma Sulzer einzuweihen. Der Sitz der Sulzer Brothers befand sich im Stadtzentrum neben dem sogenannten Bund (Uferpromenade) und eigentlichen Herzstück von Shanghai, bei den wichtigen chinesischen und ausländischen Banken, dem grossen Zollgebäude, dem Shanghai Club und dem Cathay-Hotel. Das heutige Peace Hotel bildete einen gesellschaftlichen Mittelpunkt im Shanghai der Golden Twenties. Die Metropole war im Wesentlichen ein riesiger Hafen mit einem enormen Import- und Exportvolumen. Güter aller Art wurden hier umgeschlagen und mit den verschiedensten Transportmitteln ins Innere von China, nach Japan oder nach dem Westen befördert. Shanghai war schon damals das wirtschaftliche und kommerzielle Zentrum Chinas.

Otto nahm Chiyo und seinen Sohn Freddy mit, der eine gute englische Schule besuchte und in einem insgesamt eher europäischen Ambiente aufwuchs. Die Familie wohnte in der Zone der Französischen Konzession (Wirtschaftsbezirk) an der heutigen Huaihai Lu, damals Avenue Joffre, Nr. 1394. Das Haus europäischen Stils war europäisch eingerichtet und steht heute noch. Der heranwachsende Freddy kleidete sich nach westlicher Art und engagierte sich in seiner Freizeit als Pfadfinder nach Baden Powell.

In diese Zeit fiel ein für Freddy prägendes Ereignis: Der chinesische Koch, der seit vielen Jahren für die Familie arbeitete, erschien plötzlich für mehrere Tage nicht mehr zur Arbeit, ohne jemanden zu benachrichtigen. Als er wieder auftauchte, stellte ihn Otto Meister zur Rede. Der Koch erklärte, in seiner Familie seien alle ausser ihm an Gelbfieber erkrankt, worauf ihn Meister auf der Stelle endgültig wegschickte. Den kleinen Freddy schockierte diese plötzliche Entlassung, denn er war dem Koch zugeneigt gewesen und verstand als Kind natürlich nicht, dass sein Vater durch sein entschlossenes Handeln seine Familie möglicherweise vor der Ansteckung mit einer tödlichen Krankheit bewahrt hatte.


Der chinesische Koch.

Otto verlor vermutlich nicht viele Worte mit Erklärungen. Mit seinem tatkräftigen Charakter verlangte er ebenso viel von sich selbst wie von anderen. Jeden Morgen verliess er bei Tagesanbruch das Haus, um einen Ausritt zu machen, bevor er sich ins Büro begab. Er besass zwei Ponys, «Entry Badge» und «Salvation Union», die ihm viel bedeuteten – so viel, dass er testamentarisch festhielt, was nach seinem Tod mit ihnen zu geschehen habe. Sie sollten auf keinen Fall verkauft werden dürfen, sondern einem Pferdeliebhaber überlassen werden. Allenfalls dürfe man sie, unter der Bedingung, sie nicht weiterzuveräussern, der Polizei vermachen.

Meister war sehr präzis, um nicht zu sagen pedantisch, was die Arbeit anbelangte. So hatte er offenbar die Angewohnheit, Bleistifte, Radiergummis, Büroklammern usw. immer an den genau gleichen Platz auf seinem Arbeitstisch zu legen, sodass mit den Jahren kleine Kerben im Holz entstanden.

Politische Wirren

Im ausgedehnten chinesischen Territorium bildeten sich revolutionäre Gruppen, und nicht selten vermischten diese sich mit Banditen, die vor allem in den Bergen ihr Unwesen trieben. Immer häufiger waren auch Regierungstruppen zu sehen. Sun-Yat-sen hatte der ersten Revolutionspartei eine nationalistische Prägung verliehen. Unter der Führung von Tschiang Kai Schek traten der Kuomintang auf der einen und die Kommunistische Partei mit Mao Tse-tung auf der anderen Seite gemeinsam gegen die revolutionären Gruppen an, um das Land zu vereinigen. Es herrschte ein unbeschreibliches Wirrwarr, die Spannung war greifbar. Die Vorfälle von 1925 und von 1927 auf dem Gebiet der ausländischen Konzessionen von Shanghai, an denen er aktiv beteiligt war, beschreibt Meister in mehreren Briefen an seinen Freund Joseph F. Rock (ein Wissenschaftler und Berichterstatter für «National Geographic») und im aufschlussreichen Bericht vom Dezember 1927, «China und die Fremden», den er an die Firma Gebrüder Sulzer in die Schweiz schickte. Das Shanghai International Settlement, der Zusammenschluss der gut organisierten ausländischen Konzessionen in der Stadt, hatte 1854 in einem Abkommen zwischen den Handelsdelegationen und den britischen, amerikanischen und französischen Konsulaten das Shanghai Volunteer Corps gegründet. Diese internationale Organisation, einschliesslich eines Kontingents von Russen in Uniform, die ordnungsgemäss entlöhnt wurden, hatte die Funktion einer Stadtmiliz zur Verteidigung der internationalen Gemeinschaft von Shanghai mit ihren mindestens zwanzig Nationen. Otto Meister war Voluntär bei diesen Freiwilligentruppen und begab sich regelmässig auf den Schiessplatz, um zu üben. Er nahm mehrmals direkt an der Verteidigung der Stadt teil und war gegen die Southerns angetreten, die sie besetzten: Panzer waren im Einsatz, Barrikaden wurden errichtet, und es kam zu Schiessereien und Hinrichtungen. Die bewaffneten Freiwilligentruppen hatten ein grosses Verdienst bei der Verteidigung der Stadt, die nicht nur von zahllosen Ausländern aus Nanking und anderen schon besetzten Städten bevölkert war, sondern auch von unzähligen Chinesen, die nach Shanghai geflüchtet waren:


Das Wohnhaus Avenue Joffre Nr. 1394 (heute Huaihai Lu).


Otto Meister auf seinem Pony vor dem Haus.

«Wir hatten eine ziemlich aufregende Zeit in Shanghai: Am 11. Januar [1925] ging Chi zum Angriff gegen Chang über, und eine ganze Menge chinesische Kugeln landeten in der französischen Konzession. An die 10000 Besiegte kamen in die Konzession und wurden von der Polizei, Marinesoldaten und Freiwilligen entwaffnet, bevor man sie internierte und später nach Tsingtao zurückschickte. Dann kam Chang-Tsung Chang mit seinen Panzerzügen und russischen Söldnern und Soldaten von Feng. Man rief mich nach draussen, und wir erfroren fast vor Kälte im Schiessstand, wo wir die Nacht verbringen mussten.»


Otto Meister auf dem Sitz der Kanone beim Shanghai Volunteer Corps SVC.

In einem Lagebericht an die Firma Sulzer mit dem Titel «China und die Fremden» schrieb er:

«Hierher gehört z.B. die berühmte ‹Expedition› der Engländer im Frühling dieses Jahres [1925] nach Shanghai. Es stünde wohl heute anders um diese Stadt resp. Konzessionen, wenn jene Truppen nicht dagewesen wären, die nur ca. 2000 Mann starke Bürgerwehr (Volunteers) hätte ja bei weitem nicht genügt. Tausende von Fremden, darunter Amerikaner, Deutsche, Schweizer und nicht zuletzt Chinesen selbst, haben damals die Dankadresse an die englische Regierung unterzeichnet. Übrigens hatten auch die Vereinigten Staaten, Japan, Frankreich, Portugal, Italien, ja selbst Spanien und Holland, Bewaffnete gelandet. Was Shanghai damals zu erwarten hatte, wenn dieser Schutz nicht gewesen wäre, dafür hat ja Nanking ein unheimliches Beispiel geliefert. Hätten dort die fremden Kriegsschiffe nicht im letzten Moment noch eingreifen können, so wären wohl nicht viele Ausländer mit dem Leben davongekommen. Die Zahl der Opfer ist so noch gross genug. […] Wenn also die Fremden sich vorläufig weigern, ihre Sonderrechte, soweit sie sie noch besitzen, aufzugeben; wenn sie Bürgerwehren halten und wenn nötig die militärische Hilfe ihres Mutterlandes anrufen, um ihr Leben und Eigentum zu schützen, wenn in der Umgebung einer Konzession Zivilkriege wüten und das Einbrechen geschlagener, zügelloser Soldatenhorden befürchtet wird; wenn sie ihre Handelsschiffe durch heimatliche Kriegsschiffe begleiten lassen, damit sie sich wehren können, wenn sie von den Flussufern aus grundlos beschossen werden; wenn sie die Wiederaufhebung des ‹Provisional Court› verlangen und nicht gewillt sind, ad libitum auferlegte Steuern und Zölle zu zahlen, so wird man ihnen das nicht verargen können.»

Während seiner zahlreichen Reisen auf den grossen Flüssen hatte Meister Gelegenheit, Regierungs- und Revolutionstruppen zu beobachten, die ständig unterwegs waren und gegeneinander kämpften. In ausführlichen Berichten, die er an die Firma Sulzer in Winterthur schickte, hielt er diese Beobachtungen fest. Dabei schreibt Meister, dass er auf einem Dampfschiff gereist sei, das ständig Gefahr lief, auf die scharfen Felsblöcke aufzulaufen, die überall aus dem Wasser ragten. Der Jangtsekiang, von hohen, steilen Felswänden gesäumt, welche die berühmte Schlucht Three Gorges du Yichang formten, bot ein faszinierendes Bild. Dann passierte das Schiff die Stromschnellen «Fo Mien Tan», vor allem im Sommer eine der tückischsten Stellen, wenn das Wasser einen Felsen bedeckte, der sonst bei niedrigem Wasserstand sichtbar war. Ein Buddhakopf, dessen Blick die Schiffe beschützen sollte, war in den Felsen gehauen. Lag er jedoch unter Wasser, verlor er seine Schutzfunktion. Nach überstandenen Gefahren ging die Reise weiter zwischen Landschaften, den reizvollen chinesischen Tuschmalereien gleich, mit ihren terrassenförmigen Abhängen, Bäumen, die aus dem Dunstschleier auftauchten, und kleinen Dörfern voller Leben.


Französische Barrikade am Eingang zur Hungjao-Strasse (Hongqiao), Shanghai 1927.


Strassenszene mit Soldaten, Shanghai 1927.


Strassenszene mit Panzer, Shanghai 1927.


Stellung an einer Brücke, Shanghai 1927.


Am Jessield-Park (Zhongsham Park), Shanghai 1927.


Barrikade an der Jessield-Brücke (Wanhangdu Road), Shanghai 1927.


Strassenszene in Shanghai, 1927.


Otto Meister nach japanischen Bombenangriffen auf Shanghai 1932 oder 1933.

Zwei weitere Berichte an die Firma Sulzer, «China an der Arbeit» (1933) und «Leben in China» (1935), vermitteln uns einen Querschnitt durch die chinesische Gesellschaft, besonders durch das Milieu der Bauern und Handwerker, das praktisch alle Familien umfasste, die nicht zu der damals im Niedergang begriffenen politischen oder administrativen Elite gehörten.

Die ersten bewegten Phasen dieser Revolution, die mit Mao Tse-tung allmählich eine politische Ausrichtung fand und in der Geschichte Chinas eine entscheidende Wende herbeiführen sollte, wurde vom europäischen Beobachter als ein grosses, schreckliches Chaos wahrgenommen, in dem das mehrere Tausend Jahre alte Kaiserreich unterging. Die Ausländer, insbesondere die Europäer, beeilten sich, es mit ihrem Kapital zu verlassen, um die eigenen Investitionen zu retten. In einem Brief von 1927 an seinen Freund Joseph Rock stellte Otto Meister eine Betrachtung an, die nicht nur von grosser Weitsicht, sondern auch von einer tiefen Liebe zum Orient zeugt: «Die Lage in ganz China ist schrecklich. […] Das Geschäft, besonders für die Briten, scheint zum Stillstand gekommen, und sogar unsere Leute erwägen, hier abzuziehen, was ich jedoch als grossen Fehler betrachte, denn was hier geschieht, ist nicht der Todeskampf einer sterbenden Nation, sondern die Anstrengung einer Wiedergeburt. Und das ist der einzige Lichtblick in dieser Dunkelheit.» In einem anderen Bericht von 1927, «China und die Fremden», heisst es: «Japan hat jahrzehntelang unverdrossen und zähe daran gearbeitet, die Bedingungen zu erfüllen, die heute einem zivilisierten Staate gestellt werden müssen […]. Es ist ein mühsamer Weg, aber wir glauben, es ist der einzige begehbare, und auch China wird ihn betreten müssen.»

Otto Meister, der am 28. März 1937 in Shanghai starb, sollte nicht mehr erleben, wie sehr sich seine Einschätzung bewahrheitete. Die heutigen, vielfältigen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen China und der Schweiz bestätigen seine visionäre Sichtweise.

Freunde und Träumer: Meister, Ceresole und Joseph Rock

Die Jahre von 1922–1930, die Otto Meister in Shanghai verbrachte, sind nicht nur im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Ingenieur interessant, sondern auch wegen privater Ereignisse. In jenen Jahren lernte er nämlich den Österreicher und Amerikaner Joseph F. Rock (1884–1962) kennen, einen Botaniker, Forscher, Naturbeobachter, Anthropologen, Philologen und Linguisten. Der Autodidakt, der zu jedem seiner Interessensgebiete wichtige wissenschaftliche Beiträge leistete, sollte internationale Bekanntheit erlangen. Rock unternahm von Shanghai aus, auf der Suche nach den Quellen der grossen Flüsse und den höchsten Gipfeln der Erde, lange Forschungsreisen bis in die entfernten Grenzregionen Chinas.

Eine umfangreiche Korrespondenz zwischen Otto Meister und Joseph Rock ist erhalten geblieben. Sie zeugt von tiefem Respekt und einer Freundschaft zwischen zwei Persönlichkeiten, denen sich aufgrund ihrer Lebensumstände keine Möglichkeit bot, diese weiter zu vertiefen. Otto hätte Rock oftmals wohl gerne begleitet, doch seine Arbeit und die Familie erlaubten ihm nicht, sich auf solche Abenteuer einzulassen.


«Unser Bureau». Postkarte von Otto Meister mit dem dem Great Northern Telegraph Corporation Building (links), in dem das Büro von Sulzer untergebracht war, 1924.

In den über vierzig Briefen ist von Revolutionären und Banditen die Rede, aber auch von Rocks geographischen Entdeckungen, die von weltweiter Bedeutung waren und über die zwischen 1924 und 1930 in der Zeitschrift «National Geographic» Berichte erschienen. Weltweites Aufsehen erregte auch die Polemik zwischen Joseph Rock und «National Geographic»: Rock hatte in einem Artikel Messwerte zur Höhe des Minya Konka, eines Bergs in der chinesischen Region Yunnan, angegeben, denen zufolge dieser höher als der Mount Everest war. Der Fehler ging rund um die Welt. Der Briefwechsel Meister-Rock offenbart die Hintergründe der Polemik, die Dynamik des Irrtums, aber auch die Rolle Meisters in der ganzen Angelegenheit.5

Im Briefwechsel zwischen Meister und Rock tauchen zwei weitere Schweizer auf, die zu den wichtigen Persönlichkeiten im internationalen Panorama jener Zeit gehörten. Arnold Heim (1882–1965), Sohn der ersten Schweizer Ärztin Marie Heim-Vögtlin und des Geologen Albert Heim, studierte Geologie in Zürich. Er war Privatdozent an der Universität und ETH Zürich sowie Professor an der Universität Kanton (1929–1931) und interessierte sich für die Auseinandersetzung um den «höchsten Berg der Welt». Beim zweiten handelt es sich um Pierre Ceresole (1879–1945)6, Gründer des Internationalen Freiwilligendienstes für Frieden IVSP. Als engagierter Pazifist wollte er den Militärdienst durch einen obligatorischen Zivildienst ersetzen, eine Idee, die sich erst ein halbes Jahrhundert später in der Realität auswirken sollte. Der aus Lausanne gebürtige Ceresole erwarb an der ETH Zürich ein Ingenieurdiplom und unterrichtete von 1910 bis 1913 in Hawaii, wo er Joseph Rock kennenlernte. Von 1913 bis 1914 arbeitete er in Kobe als Ingenieur für die Firma Sulzer und war ein Kollege von Otto Meister. Meister und Rock kannten ihn also beide, und beide schätzten seine Freundschaft. Der Name Pierre Ceresole taucht in der Korrespondenz zwischen Meister und Rock immer wieder auf. 1925 schrieb Meister an Rock: «Er ist nun Sekretär der Zivildienst-Bewegung, einer pazifistischen Organisation, die versucht, den Militärdienst durch etwas Friedlicheres zu ersetzen. Ich fürchte, er wird keinen grossen Erfolg haben im Moment, da die Welt noch nicht fortschrittlich genug eingestellt ist.»


Blick von einem Schiff auf den Huangpu-Fluss, an dem die Uferpromenade Bund (Waitan) liegt.


Das East-Lancastershire-Musikkorps, Shanghai 1933.


Strassenszene, Shanghai 1933.


Red Joss House, Shanghai 1927.


Avenue Joffre (Huaihai Lu) bei Nacht, Shanghai 1933.


Am französischen Nationalfeiertag in Shanghai, 14. Juli 1933.

1937 reiste Ceresole nach einem Aufenthalt in Indien, wo er Gandhi getroffen hatte, über China und die USA nach Europa zurück. Im Tagebuch wird er als einer der Freunde erwähnt, die Meister in seinen letzten Lebenstagen besuchten.

Die letze Reise

Das Tagebuch, das Meister zwischen Januar und April 1937 führte, lässt seine Krankheit erahnen: Er litt unter Herzproblemen, musste seinen Arbeitsrhythmus verlangsamen, durfte nicht mehr ausreiten und fühlte sich oft niedergeschlagen.

Als ihm klar wurde, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, beeilte er sich, die wirtschaftliche Zukunft seiner Familie abzusichern. Es existiert eine Kopie des Testaments, das er ein Jahr vor seinem Tod verfasste und ordnungsgemäss beim Konsulat von Shanghai eintragen liess. Beim Begräbnis wurde sein Sarg von sechs uniformierten Mitgliedern des Shanghai Volunteers Corps getragen, eine Ehre, die deutlich macht, wie wichtig sein Beitrag zur Verteidigung der ausländischen Konzessionen von Shanghai in den Jahren 1925 und 1927 gewesen war und wie sehr seine jahrelange, unablässige Mitarbeit geschätzt wurde. Otto Meisters Grab befindet sich auf dem heutigen Song-Ching-Ling-Friedhof.

Das grosse China faszinierte Otto Meister aufgrund all seiner Widersprüche und vor allem seiner unendlichen Möglichkeiten. Aber genauso mit Japan und dessen Tempeln, Parkanlagen, Bergen und alten Traditionen fühlte er sich sehr verbunden. Im Laufe der Jahre hatte Otto das Wesen und die Seele des Volks der aufgehenden Sonne ebenso wie die Bevölkerung Chinas kennen und schätzen gelernt. Mit Chiyo Ishizuka (der Name bedeutet «langes Leben», und tatsächlich starb Chiyo 1982 im Alter von 96 Jahren) lebte er bis zu seinem Tod am 28. März 1937. Im Juli des gleichen Jahres fielen die japanischen Truppen in Shanghai ein. Chiyo verbrachte eine schwere Zeit in Shanghai, und schliesslich war sie gezwungen, nach Japan zurückzukehren, da die chinesische Stadtbevölkerung sich an den japanischen Einwohnern rächte.

Sohn Freddy hing sehr an seiner Mutter – der Vater war oft auf langen Geschäftsreisen –, und als Otto ihn mit vierzehn Jahren in die Schweiz brachte, litt er unter der Trennung. Vor dem Vater hatte er grossen Respekt, auch wenn er diesen als eher distanziert erlebte. Einerseits brachte Otto seinen Sohn in die Schweiz, um ihm eine bessere Ausbildung zu ermöglichen, und andererseits, weil China in jenen Jahren aufgrund der politischen Lage mit ihren revolutionären Wirren äusserst gefährlich war. Der Junge war auf Schweizer Boden sicherer. Chiyo schrieb dem Sohn regelmässig aus Japan, doch der Zweite Weltkrieg setzte diesem Briefwechsel ein Ende. Erst nach Kriegsende stellte das Rote Kreuz wieder einen Kontakt her. 1981 reiste Freddy mit seiner Tochter Sylvia Meister nach Japan, wo er seine Mutter wenige Monate vor ihrem Tod ein letztes Mal sah. Sie starb in Oita (Kyushu), 45 Jahre nach Otto Meister.

Otto Meister

«In den wilden Bergschluchten

widerhallt ihr Pfeifen»


Otto Meister in Shanghai, 18. November 1931.



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