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KAPITEL 2 Bonjour-Tropfen – Gonorrhoe
ОглавлениеAn einem schwülen Samstagabend im Juli hatte ich es mir als junger Assistenzarzt gerade vor dem alten Röhrenfernseher im Dienstzimmer der Klinik bequem gemacht und gelassen dem Abend entgegengesehen. Die Nachtdienste in der Hautklinik waren nicht beliebt, aber im Vergleich zu Kolleginnen und Kollegen manch anderer Fachrichtungen hatten wir in der Regel ein überschaubares Arbeitspensum: Wir mussten nachts keine Kinder zu Welt bringen oder entzündete aufgeplatzte Blinddärme entfernen. Jedoch hatte ich noch vor wenigen Minuten eine kurze Visite auf der operativen Station absolviert: eine spontane Nachblutung nach Entfernung einer bösartigen Geschwulst an der Schläfe am Vormittag. Der Patient war von einem warmen Gefühl im Gesicht wach geworden; im Badezimmerspiegel hatte sich ein blutdurchtränkter Verband an seinem Kopf offenbart und auf dem Weg vom Bett in die weiß gekachelte Nasszelle eine dunkelrote Tropfspur hinterlassen. Das Anlegen eines frischen Druckverbands in Verbindung mit einer blutstillenden Wundgaze hatte relativ schnell Abhilfe geschaffen.
Während ich es mir nun auf der durchgesessenen Couch eines schwedischen Möbelproduzenten gemütlich gemacht hatte, um das Unterhaltungsprogramm im Fernsehen angemessen genießen zu können, funkte mich der Pförtner an: Ein junger Mann sei soeben in die Ambulanz gekommen, er fülle gerade den Anmeldebogen aus. Das ließ mir noch genug Zeit, den Ausgang der Saalwette einer großen Samstagabend-Show zu verfolgen, die ein blondgelockter ehemaliger Lehrer aus Bayern moderierte. Außerdem war auch im Notdienst eine gewisse Wartezeit angezeigt. Schließlich mussten Patientinnen und Patienten tagsüber in der offenen Sprechstunde der Klinikambulanz mitunter mehrere Stunden warten. Einige Spitzfindige versuchten dies zu umgehen, indem sie zu Notdienstzeiten hautärztlichen Rat suchten, da der Andrang dann deutlich geringer war. Diese Zeiten waren aber grundsätzlich nur für dringende medizinische Probleme eingerichtet. Dennoch musste ausnahmslos jeder Patient von der diensthabenden Ärztin oder dem Arzt gesehen werden. War es kein echter Notfall, gab es aus ärztlicher Sicht zwei Möglichkeiten. Option 1: Man erklärte dem Patienten, dass sein Problem nicht akut bedrohlich sei und er zu den regulären Sprechzeiten wiederkommen möge. Dabei riskierte man gerade als unerfahrener Arzt ermattende Diskussionen mit dem Hilfesuchenden, da das Problem aus seiner Sicht entweder sehr wohl behandelt werden müsse oder er tagsüber keine Zeit für medizinische Termine habe, man sei ja schließlich Vollzeit berufstätig oder müsse am nächsten Tag in den wohlverdienten Urlaub. Option 2: Man stellte einfach ein Rezept aus, was sich positiv auf die zeitlichen und nervlichen Ressourcen auswirkte – für Arzt und Patienten.
Mit noch nicht ganz zugeknöpftem Kittel nahm ich nun also den jungen Mann in Augenschein, genauer gesagt einen Teil von ihm. Kurz nachdem er seine italienische Markenunterhose heruntergezogen hatte, bereute ich auch schon, ihm eben noch zur Begrüßung die Hand geschüttelt zu haben. Einige meiner Kolleginnen und Kollegen verzichten ja aufgrund potenzieller Ansteckungsgefahren generell auf den üblichen Händedruck zu Beginn und am Ende der Konsultation. Dies fördert aber aus meiner Sicht nicht unbedingt das Vertrauensverhältnis.
Vor mir hing also ein durchschnittlich großer Penis mit einem überdurchschnittlich großen Prinz-Albert-Piercing, an dem ein eitriger Tropfen mit der Schwerkraft kämpfte. Für diejenigen unter Ihnen, die nicht wissen, was den besonderen Charme dieses Piercings ausmacht: Ein Prinz-Albert-Piercing, unter Kennern liebevoll PA genannt, ist ein Metallring, der durch den Harnröhrenausgang und die Unterseite des Penis gestochen wird. Wenn der Ring entfernt wird, kann der Urin also zwischen zwei Öffnungen wählen, um ins Freie zu gelangen, nach vorne oder nach unten, oder gerne auch zweistrahlig. Wie bei anderen Varianten des Intimpiercings soll der PA den Lustgewinn beim Durchlöcherten oder auch bei der Partnerin bzw. beim Partner steigern. So können beispielsweise dosierte Zugbelastungen oder das Anhängen von kleinen Gewichten bei entsprechender Neigung als lustvoll empfunden werden. Aktuell hing nur ein federleichter gelber Tropfen am matt glänzenden Edelstahlprinzen und führte beim Ringträger nun zu besorgter statt genüsslicher Erregung.
«Ich glaube, ich habe mal wieder einen Tripper, Herr Doktor», sprach er und musterte dabei seine Eichelspitze. «Zwei Stühle, eine Meinung», erwiderte ich prompt. Wir kannten uns nicht, aber er kannte sein Problem für mein Empfinden bereits etwas zu gut, und ich ergänzte daher: «Ich beglückwünsche Sie zur dieser wohl korrekten Diagnose. Aber wenn Sie diese Infektion wohl schon mindestens einmal hatten, warum in aller Welt schützen Sie sich dann nicht davor?» Kaum verlegen wies er auf die besonderen Umstände hin, die aus seiner Sicht schuldmindernd wirken sollten: «Letztes Wochenende war doch Christopher Street Day ...» «Und da waren alle Kondome ausverkauft?», fragte ich provozierend.
Beim Christopher Street Day wird jährlich in vielen Städten weltweit an den ersten bekannt gewordenen Aufstand von Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten gegen die Polizeiwillkür in der New Yorker Christopher Street erinnert. Die politische Botschaft ist immer noch ein wichtiger Teil der Parade durch die Städte und findet Ausdruck in Lebenslust, Körperkult und erotischem Reiz. Wenn sich also Hunderte freizügiger und sexuell aktiver Menschen zusammenfanden, um gemeinsam die Freiheit ihrer Libido zu feiern, war jedes Jahr einige Tage danach ein gewisser gesundheitlicher Kollateralschaden in der Ambulanz festzustellen. Ähnliches gilt auch für andere Großveranstaltungen, bei denen berauschte paarungswillige Menschen aufeinandertreffen, wie Karneval und Oktoberfest.
«Die Bakterien, sogenannte Gonokokken, werden durch sexuellen Kontakt übertragen und setzen sich dann in die Harnröhre, seltener auf andere Schleimhäute. Wie Sie wohl schon wissen, beträgt die Zeit von der Ansteckung bis zum Auftreten der spürbaren Beschwerden etwa drei bis fünf Tage. Den typischen eitrigen Ausfluss sehen wir ja. Da dieser meist morgens in Erscheinung tritt, wird er auch Bonjour-Tropfen genannt. Dabei ist der Morgen dann aber ja gar nicht so gut, wie der französische Jargon suggeriert. Bei Ihnen wäre heute eher Bonsoir-Tropfen zutreffend. Haben Sie Brennen beim Wasserlassen?» «Ja, etwas. Wollen Sie mir das Antibiotikum aufschreiben, dann bin ich auch gleich wieder weg. Ich muss ja morgen auch wieder arbeiten.» «Ein Profi», dachte ich. Aber so einfach würde er mir nicht davonkommen. «Ich verordne Ihnen gerne die Tabletten, aber wir müssen noch Abstriche machen, und ich würde Ihnen dringend empfehlen, auch eine Blutuntersuchung auf andere Infektionskrankheiten zu machen: Syphilis, Hepatitis und HIV. Sie wissen doch – ein Tripper kommt selten allein. Und bei wem haben Sie sich angesteckt? Diese Person muss natürlich auch behandelt werden.» Dem jungen Ringträger war dies nicht gerade recht, aber er willigte zur Abstrich- und Blutuntersuchung ein. Die Kontaktperson ließ sich leider nicht mehr ausfindig machen, da die Keime wohl anonym in einem kondensierten Darkroom die Harnröhre gewechselt haben. «Was müssen sie eigentlich morgen, also am Sonntag, arbeiten?», wollte ich zum Ab-schluss von ihm wissen. «Ich jobbe gelegentlich als menschliche Anrichte», erwähnte er abgebrüht. Die Neugier stand mir ins Gesicht geschrieben. «Bei bestimmten privaten Feiern liege ich entkleidet auf einem Tisch oder Sofa, und auf mir ist das Buffet angerichtet.» «Oha!», staunte ich. «Das heißt, die Gäste essen dann Pumpernickel oder Sushi direkt von Ihrer Haut?» «Nee, Sushi nicht, das würde ja schnell warm werden, aber andere Sachen schon, klar.» «Hören Sie», setzte ich beschwörend an, «selbst wenn Sie heute mit der antibiotischen Therapie anfangen, sind Sie vorübergehend noch ansteckend und dürfen morgen keinesfalls als Anrichte arbeiten! Sie sollten am besten gar keinen Kontakt zu Lebensmitteln haben, die andere Menschen verzehren wollen. Außerdem nehmen die Resistenzen der Gonokokkenbakterien gegenüber den gängigen Antibiotika weltweit zu, nicht zuletzt aufgrund fahrlässiger Praktiken wie im Vietnamkrieg, als die US-Soldaten über längere Zeiträume prophylaktisch Antibiotika erhielten.» «Keine Sorge, Herr Doktor», beschwichtigte er smart, «ich war nicht in Vietnam, und ich glaube im Darkroom war auch kein Asiate, das hätte ich selbst im Dunkeln festgestellt, wenn Sie wissen, was ich meine», und verdeutlichte sein Argument mit einem konspirativen Zwinkern. Ich gab auf. Dieser Patient erschien mir beratungsresistent, und ich füllte schließlich mit einem hörbaren Seufzer das rosafarbene Rezept aus. Kaum hatte er das Papier in der Hand, bedankte er sich kurz und ging mit großen Schritten zum Ausgang des Untersuchungsraums. Dann drehte er sich noch einmal suchend zu mir um. «Ja?», raunte ich in seine Richtung und hatte insgeheim doch noch mit einer einsichtigen Bemerkung gerechnet. «Sie wissen nicht zufällig, welche Apotheke heute Nacht geöffnet hat?» «Doch, weiß ich. Aber wenn Sie sie selbst suchen, haben Sie mehr Zeit, über Safer Sex nachzudenken und haben außerdem ein größeres Erfolgserlebnis», wollte ich sagen. Aber ganz abgesehen davon, dass diese Erziehungsmaßnahme ihre Wirkung nur in einem analogen Zeitalter hätte entfalten können, in dem man Apotheken in schwarzer Schrift auf Gelben Seiten fand, widerspräche diese perfide Empfehlung irgendwie dem ärztlichen Kodex, in dem Sarkasmus keinen Platz hat. Also besann ich mich und verriet ihm, dass wir die Adressen der Notdienstapotheken immer an der Pforte hinterlegt haben.
«Guten Appetit», dachte ich mir und hoffte, dass dieser Prinz Albert am Wochenende keine Häppchen aus der Nähe gesehen hat.
GONORRHOE (TRIPPER)
ERREGER
Bakterium NEISSERIA GONORRHOEAE. Die Bakterien haben eine Form, die unter dem Mikroskop an zwei längsseitig zusammengeklebte längliche Brötchen erinnert (Diplokokken). Der Begriff Tripper leitet sich aus dem niederländischen Wort für Tropfen (druipen) ab – in Anlehnung an den für die Erkrankung typischen morgendlichen eitrigen Tropfen.
HÄUFIGKEIT UND ÜBERTRAGUNG
Nach Trichomonaden wohl zweithäufigste sexuell übertragbare Erkrankung weltweit. Deutliche Zunahme der Häufigkeit in Europa und Deutschland seit mehreren Jahren (genaue Zahlen in Deutschland nach Wegfall der Meldepflicht im Jahr 2000 nicht vorliegend, nur noch Labormeldepflicht in Sachsen). Am häufigsten bei homosexuellen Männern, Zunahme aber auch bei jungen heterosexuellen Männern und Frauen. Übertragung durch (ungeschützten) Geschlechtsverkehr, Oralverkehr oder Sexspielzeug.
BETROFFENE ORGANE UND SYMPTOME
Zeit von der Ansteckung bis zum Auftreten von Krankheitszeichen: ca. drei (bis sieben) Tage.
Bei Männern: Brennen und Schmerzen beim Wasserlassen oder in Ruhe, eitriger Ausfluss aus der Harnröhre, vor allem morgens (Bonjour-Tropfen). Bei länger bestehender, unbehandelter Infektion kann auch eine Entzündung der Prostata oder des Nebenhodens auftreten. Unfruchtbarkeit als mögliche Folge.
Bei Frauen: Oft milde, unspezifische Beschwerden wie Brennen beim Wasserlassen, Schmerzen im Unterleib bei Bewegungen oder beim Geschlechtsverkehr. Unfruchtbarkeit als mögliche Folge.
DIAGNOSTIK
Abstrich aus der Harnröhre (idealerweise, wenn Wasserlassen mehrere Stunden zurückliegt) oder dem Gebärmuttermund; ggf. Rachen oder Enddarm. Urinuntersuchung (Nukleinsäureamplifikationstest, NAAT), ggf. Schnelltest durch Mikroskopie nach kurzer Färbung. Standardtest ist die kulturelle Anzüchtung auf speziellem Nährboden (dauert mehrere Tage) inkl. Bestimmung auf Antibiotikaempfindlichkeit.
THERAPIE
Kombination aus zwei verschreibungspflichtigen Antibiotika in Tablettenform bzw. als Injektion in einmaliger Gabe. Bei komplizierten Infektionen auch längere Behandlung. Unempfindlichkeit der Gonokokken gegenüber Antibiotika zunehmend häufiger. Keine Entwicklung von Immunität. Eine Untersuchung der Partnerin oder des Partners ist erforderlich. Parallele Infektionen mit Chlamydien sind nicht selten – bei Therapie zu berücksichtigen.
BESONDERHEITEN
Infektionen im Mund-Rachen-Raum oder des Enddarms sind nicht selten.
Sehr selten Ausbreitung über das Blut (sogenannte Gonokokkensepsis) mit Fieber und kleinen rötlichen Punkten an den Händen oder Füßen. Eine Ansteckung während der Geburt ist möglich und kann zur Erblindung des Neugeborenen führen. Neugeborene erhalten bei Verdacht auf Gonorrhoe der Mutter direkt bei der Geburt antibiotische Augentropfen.
BESTMÖGLICHER SCHUTZ
Verwendung von Kondomen beim Geschlechtsverkehr, ggf. Lecktücher beim Oralverkehr.
FAZIT
Die Infektion ist bei Männern meist deutlich spürbar, kann bei Frauen aber fast unbemerkt verlaufen und zu Unfruchtbarkeit führen. Weltweit wieder zunehmende Häufigkeit und Antibiotikaresistenzen.
Merksatz: Die Gonokokke sitzt und lauscht, wie der Harn vorüberrauscht.