Читать книгу Leben in der Spur des Todes - Pamela Katharina Körner - Страница 10

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Wenige Tage nach dem Unfall begann ich zu beten – so unverständlich es auch für manchen klingen mag: Es war mir ein Bedürfnis, mit Gott zu reden:

Ich klagte ihn an.

Ich rief ihn an, das Geschehene rückgängig zu machen.

Ich flehte ihn an, mir den Schmerz aus dem Körper zu nehmen.

Ich bat ihn um Hilfe.

Ich beschwor ihn, mir die Kraft zu geben, mit dem, was ist, fertig zu werden.

Ich betete und flehte morgens, wenn ich meine Mädchen in den Kindergarten gebracht hatte und sie meinen Schmerz und meine Verzweiflung nicht sehen konnten, und immer nachts, wenn die Ablenkung vom Tag fehlte.

Man kann in der Nacht niemanden anrufen. Ich konnte es zumindest nicht, und ich wollte es auch nicht. Das Alleinsein, sich und den Schmerz aushalten zu müssen, war schlimm, aber auch heilsam, wie ich heute weiß.

Ich war noch nie ein Freund von Tabletten und Alkohol gewesen. Statt mich mit Drogen irgendwelcher Art oder mit sinnloser Ablenkung zu betäuben, betete ich – und spürte, dass mich etwas trägt. Ich konnte sogar immer einschlafen nach dem Gebet, nach dem Gespräch mit Gott. Und irgendwann verspürte ich auf einmal einen großen Frieden in mir. Ich kam für einige Zeit zur Ruhe. Dabei half mir bei allem sicherlich sehr mein spirituelles Wissen, das ich mir über viele Jahre hinweg angeeignet hatte.

Drei Tage nach der Beerdigung wurden meine Zwillingsmädchen zwei Jahre alt. Lina und Anna zuliebe „feierten“ wir gemeinsam mit meinen Freundinnen diesen Tag, so gut es ging. Ich hatte mir lange überlegt, ob ich diesen Tag feiern oder lieber „einfach übergehen“ sollte. Natürlich war keinem von uns nach Singen, Tanzen, Glücklichsein zumute. Ich entschied mich aber dann doch für eine kleine Feier. Sollte ich aufhören, die Geburt der beiden Mädchen zu feiern, weil der Tod an unsere Tür geklopft hatte – und eingetreten war? Der Tag von Anna und Linas Geburt war ein Freudentag, ich wollte ihn auch in diesem Jahr feiern. Denn für mich hatte das „Fest“ auch etwas mit der Wertschätzung meinen Kindern gegenüber zu tun.

Wir lächelten uns an, wenn wir die glücklichen Gesichter der Mädchen beim Auspacken der Geschenke sahen. Wir weinten, wenn wir glaubten, dass es niemand sehen würde. Die beiden Kindergesichter hielten mich am Leben.

Die Familie meines Lebensgefährten aber war darüber entsetzt.

Am Abend, als alle weg waren und die Mädchen schliefen, brach ich wieder zusammen. An Schlaf war nicht zu denken. In jeder Zelle meines Körpers spürte ich Schmerz. Wie immer setzte ich mich auch in dieser Nacht ins Wohnzimmer, stellte Fotos von meiner Familie auf, eine Kerze dazu, und weinte bitterlich. Ich konnte nicht glauben, was mir das Schicksal hier auferlegt hatte. Es heißt doch immer, dass wir Menschen immer nur so viel auferlegt bekommen, wie wir tragen können.

Und ich führte mein Gespräch mit Gott.

Wieder brach es aus mir heraus, ich haderte mit dem Allmächtigen, ich beschimpfte ihn, ich erklärte ihm, dass dies zu viel sei, dass ich dies nicht tragen könne.

Ich betete und wurde dabei immer ruhiger, meine Tränen wurden weniger und ich fühlte mich von einer unsichtbaren Kraft getragen. Diese Kraft würde mir helfen, weiter zu gehen, auch wenn mir die Zukunft schreckliche Angst machte – ich wollte mich dieser Zukunft und diesem Leben nicht wirklich stellen.

Aber nun versuchte ich, so gut es ging, ein „normales Leben“ zu leben. Doch hatte ich gleichzeitig das Gefühl, dass das Leben mich mit all’ seiner Kraft zerdrückte. Es forderte, es überforderte mich mit allem, was zum Alltäglichen gehört. Ich saß nächtelang vor Ordnern mit Unterlagen, hatte ich mich bisher doch noch nie um diese „Lebensbereiche“ kümmern müssen, und es kostete mich viel Kraft und Zeit, bis ich mir einen Überblick über die Dokumente in den Ordner verschafft hatte. Zum Glück war Kai ein sehr ordentlicher Mensch, der alles übersichtlich abgeheftet hatte.

Am schlimmsten aber fiel mir das Abfassen der Kündigungsschreiben an Versicherungen und Krankenkassen, immer wieder musste ich den gleichen Satz zu Papier bringen: „Hiermit teile ich ihnen mit, dass mein Sohn – mein Lebensgefährte – mein Bruder am 13. August 2005 tödlich verunglückt ist.“ Und jedes Mal musste ich darauf achten, dass das Blatt nicht nass wurde von meinen Tränen. Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages solche Briefe würde verfassen müssen.

Tagsüber ging ich „tapfer“ in die Stadt, um mich abzulenken, was mir natürlich nicht gelang. Meist musste ich diese fluchtartig wieder verlassen, denn beim Anblick der Eisdiele oder dem Spielplatz musste ich sofort an meinen Sohn Karl denken – und vor allem daran, dass er dort nie mehr spielen oder ein Eis essen würde.

Die Sonnenbrille wurde mein wichtigster Begleiter. Sie schützte mich vor neugierigen Blicken und versteckte meine Tränen, wenn ich sie trotz aller Anstrengungen nicht mehr zurückhalten konnte. Wenn ich mich in ein Café setzte, bemerkte ich, dass Menschen sich gegenseitig anstießen und anfingen zu tuscheln. Sie redeten, schauten dann wieder zu mir herüber, sahen weg, wenn ich den Blickkontakt suchte.

Ich war die mit dem Unfall. Andere wiederum gingen mir aus dem Weg, wofür ich damals Verständnis hatte – was sollten sie auch sagen? Manch einer wagte sogar den Kontakt mit mir und wollte mich trösten, indem er mir vom Tod der Mutter oder Oma erzählte, die mit 80 Jahren (!) vor Kurzem verstorben war. Das wollte ich nun wirklich nicht hören. Mein Sohn durfte nur drei Jahre und fünf Monate alt werden, Kai und Stephan starben mit 38 Jahren.

Ich empfand das als ungerecht.

Nach den Sommerferien brachte ich Anna und Lina in den Vorkindergarten, in dem auch mein Sohn gewesen war. Wir betraten das Gebäude und als erstes fiel mein Blick auf eine große, bunte Foto-Collage an der Wand, die fröhliche Kinder auf einem Ausflug zeigt – Karl mitten in der Gruppe auf einem Baumstamm sitzend und in die Kamera lächelnd. Die Kindergärtnerinnen hatten damit gerechnet und die Bilder von der Wand nehmen wollen. Aber sie hatten es vergessen. Jetzt war es zu spät, meine Augen füllten sich mit Tränen, in meinem Hals bildete sich ein riesiger Kloß. Ich ließ die Mädchen im Kindergarten, eilte ohne ein Wort zum Auto und fuhr direkt in einen Wald.

Allein und umgeben von Bäumen und Sträuchern schrie ich mir dort den Schmerz aus dem Körper. Dieser war so heftig, dass ich glaubte, daran zugrunde zu gehen. Ich schrie oft, aber, wie sich später herausstellen sollte, nicht oft genug.

Situationen dieser Art erlebte ich noch oft. Kinder, die Karl kannten, liefen auf mich zu und fragten nach ihm. Aber wie erklärt man Kindern den Tod? Ich sagte, dass Karl jetzt im Himmel und ein Engel sei: „Nein, er kommt nicht wieder...“ Manchmal fuhr ich auch in eine andere Stadt, um auf andere Gedanken zu kommen. Meine Kinder im Zwillingswagen zogen die Aufmerksamkeit auf sich und ich war dort, obwohl fremd, mit anderen Menschen, besonders mit Müttern schnell im Gespräch – ob ich wollte oder nicht. „Haben sie noch andere Kinder?“, wurde ich oft gefragt. Da stand ich nun, nicht wissend, was ich sagen sollte. Ich wollte nicht jedem „meine Geschichte“ erzählen, doch wollte ich auch nicht sagen, dass Anna und Lina meine einzigen Kinder sind, ich empfand es als Verrat an Karl. Ich habe drei Kinder, eines ist nicht hier auf der Erde, wo immer er auch ist, er ist mein Kind, ich habe ihm das Leben geschenkt. Heute entscheide ich meine Antwort situationsabhängig.

Einige Wochen nach dem Unfall stellte ich ein Kreuz an der Unfallstelle auf. Da auf das Kreuz drei Namen passen mussten, benötigte ich eines, das sonst bei Seebestattungen üblich ist. Ich stellte es auf, weil ich die Hoffnung hatte und habe, dass besonders die Motorradfahrer nicht mehr so schnell die berühmte Schwarzwaldhochstraße entlang rasen würden. Ich dachte an die vielen Eltern. Keine Mutter sollte das erleben, was ich gerade durchmachte.

Aber ich wurde eines Besseren belehrt. Ich stand oft auf diesem kleinen Rastplatz, an dem meine Familie den Tod gefunden hatte, und alle rasten sie an mir vorbei, die Autofahrer und vor allem die Motorradfahrer. Nach einem Jahr baute ich das Kreuz wieder ab.

Mein Kreuz schreckte niemanden ab.

Der Tod bedeutet eigentlich nichts.

Ich bin nur in den nächsten Raum hinübergewechselt.

Bete, lächle, denk an mich, bete für mich.

Lass meinen Namen zu deinem Wortschatz gehören,

sprich ihn aus, ohne große Dramatik, ohne eine Spur von Schatten auf ihm.

Warum sollte ich aus deinen Gedanken verschwinden,

nur weil ich deinen Augen entschwinde?

Ich warte auf dich, während einer kurzen

Unterbrechung, irgendwo, sehr nahe.

Alles ist gut.

Henry Scott Holland

Leben in der Spur des Todes

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