Читать книгу Leben in der Spur des Todes - Pamela Katharina Körner - Страница 9

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Das war also der Tag, als der Tod mein Leben berührte. Endgültig.

Ich konnte nicht begreifen, wie ein ganz normaler Tag sich von einer Sekunde auf die andere in ein schwarzes Loch hatte verwandeln können, das unerbittlich und unumkehrbar alles verschlang.

Hatten wir nicht einen angenehmen Morgen gehabt an diesem Tag? Ich hatte – warum, weiß ich nicht mehr – unsere Kinder besonders hübsch angezogen und sogar noch ein Foto von allen dreien gemacht.

Hatten nicht erst am Vormittag „meine drei Männer“ fröhlich unsere Wohnung verlassen, um mit Kais Freund einen Ausflug zu machen? Stephan, mein Bruder, hatte eigentlich nicht mitfahren wollen. Doch ich hatte ihn ermutigt, sich „etwas Gutes“ zu tun, schließlich stand er mir Tag und Nacht bei der Versorgung meiner Kinder zur Seite.

War es nicht einfach ein ganz normaler Tag gewesen? Ich hatte viel um die Ohren gehabt, denn am nächsten Tag sollte die Taufe von Karl und den anderthalb Jahre jüngeren Zwillingsmädchen Lina und Anna sein. Viele Vorbereitungen waren noch zu treffen und ich war den größten Teil des Tages in der Stadt unterwegs gewesen, um alles zu besorgen.

Doch es war schließlich alles andere als ein normaler Tag: Der Ausflug sollte für Kai, Stephan und Karl eine Fahrt in den Tod werden, meine Familie war von einer Minute zur anderen unverschuldet ins Jenseits katapultiert worden! Das Foto, das ich noch morgens gemacht hatte, sollte das letzte Foto sein, auf dem unsere drei Kinder gemeinsam zu sehen sind. Und es sollte das letzte Foto meines Sohnes Karl sein – wenige Stunden später war er tot.

Was war das für ein Tag, an dem ich keine Unruhe, keine böse Vorahnung oder dergleichen in mir gespürt habe. Nichts, was mich hätte beunruhigen können – bis zu dem Moment, als der junge Polizist vor mir stand. Im Nachhinein frage ich mich immer wieder, wie es sein kann, dass ich als Mutter nicht spüren konnte, dass mein Kind schon seit einigen Stunden tot war.

Ich wollte wenigstens Abschied nehmen von meiner Familie. Sie noch einmal sehen, berühren. Doch als die Kriminalpolizei ins Haus kam, um Speichelproben von mir zu entnehmen, da musste ich erkennen, dass mir nicht einmal dieser letzte Abschied möglich war – mein Bruder und mein Lebensgefährte hatten nicht identifiziert werden können. Deshalb die Speichelproben.

Als die Kriminalpolizei wieder gegangen war und ich wusste, dass meine Familie zur Obduktion nach Freiburg gebracht werden würde, fasste ich den Entschluss, dem Leichenwagen hinterherzufahren – wenigstens im Tod wollte ich da sein. Aber ich sah Kai, Karl und Stephan nie wieder!

Als ich mit beiden Seelsorgerinnen auf der Couch im Wohnzimmer saß, bat mich der Polizist um die private Telefonnummer des Fahrers, da seine Frau von dem Unfall noch nicht unterrichtet war. Auch ich hatte erst sehr spät von dem Unfall unterrichtet werden können (er hatte sich schon am Samstagvormittag ereignet), da die Polizei nicht wusste, um wen es sich im Auto handelte. Der Polizist rief von meinem Telefon aus die Frau des Fahrers an und überbrachte ihr die Nachricht vom Unfall. Sie fragte nach meiner Familie – ich hörte durch den Hörer einen lauten Schrei.

Unter Schock saß ich, wie lange weiß ich nicht mehr, im Wohnzimmer, bis ich mich irgendwann entschloss, das zubereitete Essen zu entsorgen. Ich verpackte alles in Tüten und verließ das Haus, um es gleich in den Mülltonnen zu entsorgen. Da kam mir in unserer Einfahrt die Frau des Fahrers in Begleitung einer Freundin, die ich auch kannte, entgegen und richtete mir von ihrem Mann aus, dass ich mir keine Sorgen machen müsse, er würde für mich und meine Kinder sorgen. Auf der einen Seite war es mutig von der Frau, mich aufzusuchen, auf der anderen Seite konnte ich eine solche Begegnung nur im Schockzustand aushalten. Ich ging schnell wieder ins Haus zurück.

Erst einige Zeit später erfuhr ich, dass die Frau des Freundes auch an dem Ausflug hatte teilnehmen wollen. Als der von ihr bestellte Babysitter, eine ältere Dame, kam, um auf ihren damals einjährigen Sohn aufzupassen, fiel die ältere Dame so unglücklich, dass sie sich den Arm brach. So nahm die Frau des Freundes nicht an der „Todesfahrt“ teil, weil sie den Babysitter in das Krankenhaus fuhr. Das ist Schicksal – ihre Zeit war noch nicht gekommen.

Ich rief den Freund, den Fahrer und damit Verursacher des Unfalls an, ich wollte Antworten. Ich flehte ihn an, mit mir zu reden. Was waren ihre letzten Worte? Sind sie bei lebendigem Leib verbrannt? Wie ist es passiert? Ich hörte zwar viele Worte, bekam aber doch keine Antworten.

In den Tagen danach funktionierte ich nur. Ich telefonierte zuerst mit dem Pfarrer und teilte ihm mit, dass es morgen keine Taufe geben würde, sondern dass wir eine Beerdigung organisieren müssten. Beim Bäcker bestellte ich die Tauftorte ab. Ich rief alle Freunde meines Lebensgefährten an, wir weinten gemeinsam am Telefon. So vieles musste geregelt werden und ich war froh und dankbar, dass mich ein Rechtsanwalt und guter Freund in der Abwicklung aller notwendigen Aufgaben unterstützte.

Die Beerdigung erlebte ich immer noch im Schockzustand. Drei weiße Urnen mit den Namen meiner Lieben. Sie waren gefüllt mit den Überresten der Körper vom Rastplatz. Neben der Urne meines Sohnes stand seine Taufkerze. Sie brannte zum ersten Mal am Tag seiner Beerdigung. Wir waren eine Stunde vor Beginn der Trauerfeier da. Gestützt von meiner Freundin setzte ich mich in die erste Reihe. Meine andere Freundin stützte meinen Vater, ich konnte ihm in diesem Moment keinen Halt geben, drohte ich doch selbst jeden Augenblick zusammenzubrechen. Ich musste immer wieder die Urnen anfassen. Mir fehlte das „Abschiednehmen“, das Anfassen, das Begreifen.

Anna und Lina hatte ich bei meinem Babysitter gelassen, der in der Vergangenheit schon oft auf die beiden aufgepasst hatte. Als wir, mein Vater, Kais Familie und ich das Haus verließen, weinten beide Kinder. Schrecklich – es war, als hätten sie gewusst, dass wir uns auf den Weg machen, ihren Vater, ihren Bruder und ihren Onkel zu Grabe zu tragen.

Ich bedankte mich innerlich bei meinem Lebensgefährten für die gemeinsame Zeit mit ihm, für seine mir entgegengebrachte Liebe, für Anna und Lina, die mich fürs Erste am Leben hielten.

Vor Karls Urne fehlten mir die Worte. Sein Tod hat mir sprichwörtlich die Sprache verschlagen. Fassungslosigkeit beim Lesen seines Namens auf der Urne. Unser Wunschkind, mein Erstgeborener in einer Urne? Nein, nein, nein! Ich wollte ihn zurück haben. Ich wollte nicht ohne ihn leben.

Meinen Bruder Stephan und mich verband eine große Geschwisterliebe. So sehr wir uns auch in den Kindertagen stritten, desto enger wurde unsere Verbindung als Erwachsene. Egal, in welcher Situation ich mich befand: Immer half mein Bruder mir.

Nach der Beisetzung fuhren wir nach Hause, an Essen oder ein Beisammensein war nicht zu denken. Anna und Lina liefen mir strahlend in die Arme – dem Tod und dem Leben so nah.

Meine neues Zuhause wurde der Friedhof, während das Leben um mich herum einfach so weiterging. Die Vögel zwitscherten ein Lied, die Sonne ging auf und versprach einen schönen Sommertag, Geschäfte öffneten – so wie immer, als wäre nichts passiert. Ich befand mich mitten in diesen für alle anderen so alltäglichen Normalitäten – aber ohnmächtig vor Schmerz, hilflos, orientierungslos, heimatlos.

In der darauf folgenden Zeit ging ich jeden Morgen auf den Friedhof, legte mich dort vor das Grab, weil ich keine Kraft mehr hatte zu stehen. Die Kieselsteine drückten sich in meine Haut, aber das war nichts gegen meinen Seelen- und meinen Herzschmerz. Andere Besucher hörten meine Verzweiflung, wollten mich trösten.

Doch wer hätte mich trösten können?

Klopfe an die Pforte des Himmels und achte auf das Geräusch.

Zen

Leben in der Spur des Todes

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