Читать книгу Leben in der Spur des Todes - Pamela Katharina Körner - Страница 11

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Es dauerte eine ganze Zeit, bis ich mich in meiner neuen Welt zurechtgefunden hatte. Überall alleine hingehen, alles alleine entscheiden: Ich tat mich damit zunächst ziemlich schwer. Ich musste erst lernen, alleine zu leben. Heute weiß ich: Nur wer alleine sein kann, kann auch in einer Partnerschaft einen guten Platz einnehmen.

Die Wochenenden waren über viele Monate hinweg das Schlimmste. Wochenende ist Pärchenzeit. Der Anblick von glücklichen Paaren war mir unerträglich geworden. Ich war unfreiwillig in der Kategorie „alleinerziehend“ gelandet. Meine Freundinnen hatten alle Partner. Und das fünfte Rad am Wagen wollte ich nicht sein. Da Baden-Baden ein beliebtes Ausflugsziel am Wochenende ist, verließ ich mit den Kindern an diesen zwei Tagen meist die Stadt. Häufig in mein Elternhaus, zu meinem Vater. Er beschäftigte sich mit den Kindern, damit ich ein wenig zur Ruhe kommen konnte, denn ich trug nach wie vor sehr schwer am Leben.

Je mehr sich das „Unfalljahr 2005“ seinem Ende näherte, desto schwerer wurde mein Herz. Ich wusste, das Fest der Liebe, Weihnachten, steht vor der Tür, und ich verdrängte diese Tatsache, so gut es ging, bis mich ab Oktober die Weihnachtsdekoration in den Geschäften unfreiwillig auf dieses Ereignis vorbereitete. „Oh du fröhliche, oh du seelige...“ erklang vom Weihnachtsmarkt, den ich seit seines Aufbaues in der Nähe des Kurhauses mied, so weit es irgendwie möglich war. Mir war weder nach Glühwein noch nach Plätzchenbacken, ich wollte mir nur zu Hause die Decke über den Kopf ziehen, nichts hören, nichts sehen.

Anna und Lina brachten vom Kindergarten selbstgebastelte Weihnachtssterne nach Hause, ich schmückte für meine Mädchen ein wenig unsere Wohnung, aber zum Kauf eines Weihnachtsbaumes konnte ich mich nicht überwinden. Der Heilige Abend war kein Fest, sondern eine Zwangsveranstaltung, die ich schnell beenden wollte. Keine Kirche, kein Singen. Für meine Kinder und meinen Vater ein schönes Essen, Geschenke, dann ins Bett, damit ich meinem Schmerz freien Lauf lassen konnte.

Ich weinte die halbe Heilige Nacht.

Am nächsten Morgen war mir leichter. Ich dachte nur: „Es ist geschafft!“ Doch die nächste Hürde war eine Woche später zu nehmen – Happy New Year. Mit wem sollte ich anstoßen und auf was? Auf ein neues Jahr – zwangsweise. Es kam, ob ich es wollte oder nicht. Glücklich? Konnte es gar nicht werden. Mein Kind war tot. Mein Lebensgefährte war tot. Mein Bruder war tot. Wie sollte ich da jemals wieder glücklich werden? Es schien mir aussichtslos. Ich entschied mich, mit meinen Kindern um acht Uhr ins Bett zu gehen und einfach alles zu verschlafen. Das klappte vorerst gut, bis mich das Neujahrs-Feuerwerk am Himmel mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss und mit der Realität konfrontierte.

Ich war gezwungen, sie anzuschauen. Ein neues Jahr beginnt – ohne Kai, Karl und Stephan. Ich küsste meinen Mädchen die Stirn und wünschte ihnen ein gutes neues Jahr, nicht wissend, wie ich dieses neue Jahr schaffen sollte.

Ich war froh, als endlich die ganze Weihnachtsdekoration vor meinen Augen verschwunden und der Neujahrstrubel vorüber war. Der Frühling würde sich bald ankündigen und mein Herz erneut zerreißen. Im März wurde Karl geboren, im April 2006 wäre Kai 39 Jahre alt geworden, im Mai mein Bruder. Drei Monate hintereinander Geburtstage, keine Zeit zum Luftholen, keine Zeit zum Tränentrocknen. Ein Trauermarathon stand mir bevor. Ich spüre noch heute den Kloß in meinem Hals, wenn ich an den Geburtstag von Karl denke im Jahr 2006. Ich fuhr am Morgen meine Kinder in den Kindergarten, danach holte ich ein Herz aus roten Rosen vom Floristen ab und ging zum Friedhof. Statt Geburtstagskuchen und Geschenke eine Grabkerze. Ich stand fassungslos vor dem Grab und konnte immer noch nicht glauben, in welches Leben ich geraten war. Das Ritual mit Rosenherz und Grabkerze wiederholte sich noch zwei Mal.

Über ein Jahr nach dem Unfall versuchte ich, für uns drei wieder ein Stück gemeinsame Normalität zu schaffen. Im September 2006 flog ich das erste Mal alleine mit den Kindern in den Urlaub. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Das erste Mal ohne Mann und ohne Karl. Freude vermischte sich mit Traurigkeit. Ich wählte den Robinson Club in Griechenland, weil ich die Hoffnung hatte, in diesem Club auf andere alleinerziehende Mütter zu treffen, was dann auch tatsächlich der Fall war. Uns allen tat die Wärme gut und das Wasser. Ich liebe das Meer. An keinem anderen Platz kann ich mich so gut erholen. Anna und Lina waren den ganzen Tag im Kinderpool. Es machte mir große Freude, in ihre glücklichen Augen zu sehen. Ich habe viel gelesen oder einfach nur im Sand gesessen und aufs Meer geschaut. Gerade in den ersten Jahren nach dem Unfall taten mir diese Clubreisen gut. Es gab ein Programmangebot für Anna und Lina und ich hatte Zeit, auch etwas für mich zu tun und neue Kräfte zu sammeln.

Das Leben kostete mich nach wie vor sehr viel Kraft.

Weihnachten 2006 war dann etwas harmonischer als das im Jahr davor. Ich kaufte einen Baum, buk mit den Kindern Plätzchen, und das Beisammensein am Heiligen Abend hatte nicht mehr die Schwere vom letzten Jahr. In die Kirche konnte ich jedoch immer noch nicht gehen. Ich weiß, ich hätte nur geweint, das wollte ich meinen Kinder, mir und allen um mich herum ersparen. Auch Silvester 2006 verbrachte ich auf eine neue Weise. Statt den Übergang ins Neue Jahr bewusst zu verschlafen, begann ich vor Mitternacht zu meditieren und fühlte mich Kai, Karl und Stephan sehr nah. Ich fühlte mich mit ihrer Welt verbunden. Es machte mich glücklich, es beruhigte mich. Und ich spürte, wie ich sachte begann, mich dem Leben wieder zuzuwenden. Ein wenig Hoffnung, etwas Zuversicht? Ich wusste nicht, was kommen würde, was das Leben noch für mich bereithalten würde, aber ich begann nun, meine Arme zu öffnen für das kommende Leben, ich war bereit, zu empfangen.

Der Weg meiner Ausbildungen, meiner Heilung begann.

Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Ich stärke dich, ich helfe dir, ich halte dich an meiner Hand.

Jesaia 41,10

Leben in der Spur des Todes

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