Читать книгу Imkersterben - Patricia Brandt - Страница 12
Tilda
ОглавлениеDie Amsel auf der Suche nach einem Wurm raschelte ganz dicht neben ihr im Laub. Das Tier schien sich nicht an ihrer Anwesenheit zu stören. Tilda hatte sich den Imkeranzug angezogen und stand nun hinten im Garten ihres Hauses am Nixenweg bei den Bienenkästen.
Viel Zeit hatte sie nicht. In zwei Stunden sollte der neue Sargbaukursus beginnen. Doch sie wollte die ersten Völker möglichst vor Kursbeginn kontrollieren. Sie besaß inzwischen so viele Völker, dass ihre Durchsicht eine ganze Weile in Anspruch nahm, und gerade jetzt war es wichtig, die Bienen im Blick zu behalten. Schließlich begann im Mai die Schwarmzeit.
Wenn es den Bienen im Frühsommer zu eng wurde im Stock, flog die alte Königin mit der Hälfte des Volkes auf und davon. Sie würde eine neue Bleibe für den Schwarm suchen, die Höhle eines Spechts vielleicht oder einen Spalt im Dach eines alten Bauernhauses. Doch Tilda konnte es sich nicht leisten, Bienen zu verlieren. Je weniger Bienen, desto weniger Honig, desto weniger Geld hatte sie in der Börse.
Deshalb achtete Tilda peinlich genau darauf, ob sich eines der Völker auf den Abflug der alten Königin vorbereitete, indem es eine neue Königin in einer besonders großen Weiselzelle heranzog. Die alte Königin verließ ihr Volk nie, ohne Ersatz zu hinterlassen. Deshalb drückte Tilda eilig alle Weiselzellen, die sie finden konnte, mit dem Daumen platt.
Scheinbar ziellos liefen die Bienen auf den Waben herum. Doch Tilda wusste, dass die Bienen im Gegenteil nach ihrem eigenen Plan lebten: Sie würgten den gesammelten Nektar aus und gaben ihn an andere Bienen weiter. Diese wiederum fütterten damit die Brut. Es gab viele Aufgaben im Stock. Und das Tolle, fand Tilda: Jede Biene übernahm im Laufe ihres Lebens einmal jeden einzelnen dieser Jobs. Bienen hatten den Menschen in vieler Hinsicht etwas voraus.
Ihre Völker hatten sich toll entwickelt. Es gab viel Nachwuchs. Sie sah winzige weiße Stifte und dickere Streckmaden. Die Zahl der Bienen würde in den nächsten Tagen und Wochen explodieren. Bis zu 50.000 Bienen konnten in einem Stock leben.
Tilda steckte das Holzrähmchen mit der Bienenwabe wieder in den Kasten. Sie hatte auf den letzten beiden Waben noch drei Weiselzellen gefunden und zerstört. Höchste Zeit, den Bienen mehr Platz zu bieten: Deshalb holte sie einen zweiten Holzkasten, den sie auf den ersten Bienenkasten stellen wollte.
Sie hatte die schwere Zarge schon an zwei Kanten aufgesetzt, als es knackte. Unbeabsichtigt hatte sie beim Herablassen des Kastens eine Biene zerteilt. Während der Hinterleib im Kasten blieb, fiel der vordere Teil mit dem Kopf ins Gras. »Sorry«, entschuldigte sich Tilda. Sie fühlte sich immer mies, wenn solche Unfälle passierten.
Wenn sie an den Bienen arbeitete, vergaß sie oft alles um sich herum. Tilda nahm den Deckel vom nächsten Kasten ab. Auch hier wimmelte es von emsigen Bienen. Sie streifte die Insekten mit geschultem Blick. Tilda schätzte ihre Größe auf 13 Millimeter, ihr fielen keine Deformierungen an den Flügeln auf. Auch dieses Volk schien gesund zu sein.
Gab es zu wenig Nahrung, blieben die Bienen klein. Schuld waren die Landwirte mit ihren Monokulturen. Ihre Gedanken sprangen von öden Maisfeldern zur geistlosen Sandy Ahrens. Die zweite Vorsitzende des Kleingartenvereins »Glückliche Gartenfreunde« verlangte aktuell, dass sie ihren Honigbienenstand im Schrebergarten aufgab. Was natürlich nicht infrage kam!
Sandy Ahrens glaubte irrigerweise, dass die Honigbienen den Wildbienen bei der Nahrungssuche Konkurrenz machten. »Aus ökologischer Sicht wiegt der Verlust unserer Wildbiene wesentlich schwerer als der der Honigbiene«, stand in dem Schreiben, das ihr Sandy Ahrens persönlich in den Briefkasten geworfen haben musste. Jedenfalls klebte keine Marke auf dem Umschlag. Als letzten Satz las sie: »Deshalb ist Honigbienenhaltung zum Schutz der Wildbienen ab sofort auf dem Vereinsgelände verboten.«
Sie würde sich so bald wie möglich um dieses Problem kümmern: Wenn diese Honigbienenhasserin nämlich nicht nur ihren Stellvertreter Hans Wöhlers, sondern den gesamten Vereinsvorstand auf ihre Seite zog, musste Tilda für knapp 20 Völker einen neuen Standort suchen. Und wo sollte sie mit ihnen hin? Hier am Nixenweg ging es nicht. Hier standen bereits 18 Völker. Und auch auf dem Golfplatz war das Limit mit 22 Völkern erreicht. Immerhin brauchte jedes Volk mindestens zwei Kilo Nektar am Tag. So viele Blüten gab es dann an den einzelnen Standorten auch wieder nicht. Und weiter als drei Kilometer flogen Bienen selten für die Nahrungssuche. Falls doch, würden sie wegen des Energieverbrauchs keine anständige Menge Honig zusammenbekommen. Eine vertrackte Situation.
Wie spät war es eigentlich? Tilda legte den Deckel auf den Bienenstock, den sie zuletzt durchgesehen hatte, drehte sich weg und zog ihren Anzugärmel hoch. Auf ihrer blassen Haut blitzte das Uhrenglas im fahlen Licht des Morgens auf. »So spät schon!«
Sie musste sich jetzt wirklich sputen. Die ersten Teilnehmer des Kursus kämen in wenigen Minuten. Der Kursus lief nicht schlecht. Zumindest bei den Einheimischen kam er an. Schade, dass sie die Kursgebühren nicht gleich etwas höher angesetzt hatte.
Sie hoffte, dass sich künftig mehr Touristen anmeldeten. Fischbudenbesitzerin Wencke Husmann hatte ihr freundlicherweise gestattet, einen weiteren Aushang am Fischhus zu machen: »Finales Ferienglück: Bau deinen Sarg in drei Urlaubstagen«.
Noch hielt sich das Interesse auswärtiger Gäste in Grenzen. Wencke Husmann mutmaßte, das könne mit dem Transportproblem zusammenhängen: Nicht jeder hatte einen Dachgepäckträger für den Selbstbausarg.
Aktuell dachte sie darüber nach, eine Bauanleitung für einen Klapp-Sarg auszutüfteln, den die Teilnehmer im Kofferraum verstauen konnten.
Ihr handwerkliches Geschick hatte sie von ihrem Vater geerbt, einem Tischler, der schon lange unter der Erde lag. In einem gekauften Sarg, der viel Geld gekostet hatte. Das Selbermachen sparte. Auch beim Imkern. Bienenkästen und Holzrähmchen baute sie selbst, statt sie fertig zu kaufen.
Seit sie einen Fernsehbericht über das Bienensterben gesehen hatte, hatte sie Feuer gefangen. Inzwischen war das Imkern zu ihrer Herzensangelegenheit geworden. Tilda war eine Tierfreundin durch und durch, und für sie stand fest, dass sie ihren Teil für die Umwelt leisten wollte. Die Beschäftigung mit Bienen hatte zudem einen schönen Nebeneffekt: Sie lenkte ab, wenn einen der Ehemann mit einem Berg Rechnungen für ein marodes Haus und einen kaputten Wagen sitzen ließ. Außerdem interessierten sich Bienen, anders als Konrad, nicht für die Hinterteile von Plus-Size-Models. Es sei denn, diese setzten sich direkt auf sie drauf.
Seit sich Konrad, Immobilienmakler mit attraktivem, kantigem Gesicht und vom Heimtrainer gestählten Muskelpaketen, in die Tochter des neuen Försters Kurt Tietjen verliebt hatte, wusste sie, was es hieß, auf sich allein gestellt zu sein.
Sie würde sich nicht unterkriegen lassen und beschloss, dem Kleingarten-Vorstand den Artikel zu kopieren, den die örtliche Zeitung über ihr Engagement beim Golfverein gedruckt hatte. Den Bericht kannten die Kleingärtner vermutlich schon, aber egal. Der Beitrag war ein einziger Lobgesang auf ihr Blühstreifenprojekt für eine neue Insektenvielfalt an Bahn 4 gewesen. Der Artikel berichtete, dass sie mit ihrem Bruder Toni, dem Greenkeeper des Klubs, Obstbäume gepflanzt hatte. Es handelte sich um eine Spende der örtlichen Baumschule. Dazu hatten sie zwei Kofferraumladungen mit Pflanzen von privat organisiert.
Der Golfplatz glich nun bereits früh im Jahr einem Blütenmeer. Schneeglöckchen, Märzenbecher, Winterling, Lungenkraut und noch viele andere Arten hatten sie in die Erde gebracht. Sie und Toni, den Konrad ihren »kleinen Sklaven« nannte, obwohl das totaler Quatsch war. Toni half ihr freiwillig.
Es klingelte durchdringend. Erst jetzt realisierte sie, dass ihr eigenes Telefon läutete. Das Ringen kam ihr drängend vor.
Hastig eilte sie über die Rasenfläche in Richtung des Hauses. Schnell zog sie sich mit den Zähnen die Lederhandschuhe von den schwitzigen Fingern und öffnete den Reißverschluss am Kopfteil des Imkeranzugs, um den Schleierhut herunterzuziehen. Ihr Pony klebte an der Stirn.
»Tilda Schwan!«, meldete sie sich atemlos.
»Ach, gut, dass du da bist, Tilda.«
Natürlich erkannte sie Tonis raue Stimme. Toni war ein paar Jahre älter als sie und hatte sich nach seiner Gärtnerlehre zum Greenkeeper weitergebildet. Mittlerweile verfügte er über ein enormes Spezialwissen zur Pflege von Rasenflächen.
Als sie einmal über ihren löchrigen Rasen am Nixenweg und Düngemittel gesprochen hatten, wurde ihr klar, wie komplex dieses Thema war.
Sie beide waren ein richtig gutes Team. Nachdem sie Toni den Vorschlag unterbreitet hatte, blühende Obstwiesen am Rande der Golfbahnen anzulegen, um einen Lebensraum für Insekten zu schaffen, hatte er sich sofort um Fördergelder bemüht. Und wo standen sie heute? Die »Hohwachter Golflese« war der Hit. Sie hatten einen großen Korb im Foyer des East-Coast-Clubs aufgestellt, und Toni musste ständig Gläser nachlegen.
Wobei einige Golfmitglieder bedauerlicherweise dachten, der Honig sei im Klubbeitrag enthalten. Die kleine Kasse, die auf einem Regal neben dem Korb stand, ließ das jedenfalls stark vermuten.
»Tilda – hörst du mir überhaupt zu?« Tonis Stimme kratzte in ihrem Ohr. »Die wollen die Golflese landesweit anbieten!«
Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren, was er gerade gesagt hatte: Die Supermarktkette Jensen Co. KG GmbH aus Eutin wollte die Golflese in ganz Schleswig-Holstein anbieten? Also waren sie auf das Angebot eingestiegen. Das hätte sie nie für möglich gehalten. Tilda unterdrückte einen Jubelschrei. »Im Ernst? Toni, das ist ja total irre!«
Seine nächsten Worte sorgten allerdings dafür, dass ihr Hochgefühl schlagartig verschwand: »Du hast da einen ziemlich dicken Auftrag an der Backe … Sie wollen in jedem ihrer Märkte 30 Gläser anbieten – als Aktionsware. Solange der Vorrat reicht.«
Tilda schluckte: »Wie viele Filialen betreibt Jensen in Schleswig-Holstein?«
Tonis Antwort zog ihr den Boden unter den Füßen weg: »Ich glaube, die Dame hat 55 gesagt. Und sie wollen mindestens fünf Euro pro Glas zahlen.«
Sie schwieg, während sie im Kopf ausrechnete, wie viel Honig sie brauchte, wenn sie dem Konzern 30 Gläser pro Markt zur Verfügung stellen wollte. Sie schätzte, dass es um 500-Gramm-Gläser ging. Das war die handelsübliche Füllmenge. Sie bräuchte 825 Kilo Honig. Und viele Gläser: 1650, um genau zu sein.
Fieberhaft arbeitete ihr Hirn, um die nächste Rechnung aufzumachen. Sie besaß 60 Völker. Im Juni würde sie mindestens 600 Kilo Honig ernten, hoffte sie. Pro Volk zehn Kilo. Die Ernte fand zweimal im Jahr statt, aber ausgerechnet die Frühjahrsernte Ende Mai, Anfang Juni fiel oft magerer aus als die Sommertracht. Würde sie genug Honig zusammenbekommen, um Jensen beliefern zu können?
»Das Ganze ist kurzfristig geplant, weil ihnen ein Lieferant abgesprungen ist. Du müsstest in den nächsten zwei Wochen liefern«, berichtete Toni und ihre Laune sank. Die Sommertracht könnte sie in dem Fall nicht einkalkulieren. »Scheiße«, entfuhr es ihr. Denn sie hatte just festgestellt, dass ihr circa 200 Kilo Honig zu einem neuen Leben fehlten.
»Du willst Jensen doch nicht absagen, oder? Überleg mal, welche Chancen dir entgehen würden!« Toni machte sich seit der Scheidung ständig Sorgen um sie. Er hatte offenbar den Eindruck gewonnen, dass sie ohne Konrad nicht wirklich zurechtkam. Sie wusste, er meinte es nur gut mit ihr. Gleichzeitig ärgerte es sie, wenn er ihr reinredete.
Sie wusste selbst, dass es verrückt wäre, den Deal abzusagen. Falls sie tatsächlich fünf Euro pro Glas bekäme, könnte sie mit 8.250 Euro auf einen Schlag rechnen und davon nicht nur die Autoreparatur zahlen. Also theoretisch. Toni müsste sie natürlich etwas vom Gewinn abgeben. Aber bitte: Im Juli könnte sie die Sommertracht ernten. Wenn sie Glück hatte, kämen dabei pro Volk 15 bis 20 Kilo Honig zusammen. Langfristig würde sie weitere Völker anschaffen, Leute einstellen, reich werden.
Tilda sah sich bereits unter einem blühenden Apfelbaum auf dem Golfplatz stehen, das Haar zu sanften Wellen gelegt, in irgendein tolles Kleid gehüllt. Ein süßer langhaariger Kameramann würde eine Großaufnahme von ihr machen. Unter dem Bild würde ein kurzer Text eingeblendet: »Tilda Schwan, Schleswig-Holsteins erfolgreichste Honigproduzentin.« Dann würde sie lächeln und ein paar geistreiche Sätze vom Teleprompter ablesen. So etwas wie: »Helfen Sie den Bienen, kaufen Sie Tildas Golflese.«
Sie hörte Toni am anderen Ende der Leitung fragen: »Was soll ich Jensen nun eigentlich von dir ausrichten?«
Abends wollte sie zu Wencke Husmann. Die Fischbudenbesitzerin hatte sie eingeladen. Sie wollte am Ruhetag etwas für ihre neue Speisekarte im Fischhus ausprobieren. Die Karte wurde neuerdings immer offener im Ort kritisiert. Nicht alle Einheimischen, darunter vor allem die Älteren, konnten etwas mit der veganen Rote-Linsen-Kokos-Suppe anfangen.
»Man muss ihnen die neue Küche anders schmackhaft machen«, hatte Wencke gemeint. »Am besten führt man sie mit etwas Althergebrachtem heran, mit etwas, was sie kennen.« Inse hatte entgegnet, dass die meisten Leute im Fischhus wohl ein Fischbrötchen erwarteten.
Natürlich ging Tilda zu dem privaten Kochabend. Sie nahm jede Chance wahr, abends nicht allein auf dem Sofa zu hocken. Seit Konrads Auszug wirkten die Zimmer plötzlich leer. Sie hatte deswegen bereits ein paar Topfpflanzen aufgestellt. Aber das half nur tagsüber. Abends konnte nichts darüber hinwegtäuschen, dass sie einsam war.
Eigentlich hätte sie schon vor fünf Minuten bei Wencke sein sollen, aber sie konnte ihren Haustürschlüssel nirgends finden. Wo steckte der bloß wieder? Konrad hätte jetzt gemeckert, dass sie keinen festen Platz für die Dinge hatte: »Wie kann ein Mensch so chaotisch sein?«
Hatte es an ihr gelegen, dass ihre Beziehung gescheitert war? Und nicht an diesem drallen Unterwäschemodel? Sie wusste überhaupt nicht, was er an dieser langweiligen Sarah fand. »Besser langweilig als so konfus wie du!«, hatte er sie am Tag ihrer Trennung angeschrien und dann einen Schuh gegen das Fenster geworfen, wo gerade ein verwirrter Teilnehmer des Kurses »Bau dir eine Vogeltränke« geklopft hatte, weil sie ihm einen falschen Termin genannt hatte.
Wo konnte nur dieser bescheuerte Schlüssel sein? Ohne konnte sie das Haus nicht verlassen. Nachdem sie ihre Handtasche durchsucht, die ausrangierte Keksdose mit dem Kleingeld wütend über den Bodenfliesen ausgekippt, sämtliche Einkaufstaschen durchwühlt, aber nur Bons und ein klebriges Hustenbonbon gefunden hatte, entdeckte sie den Schlüssel zuletzt doch in ihrer Handtasche.
»Wusste ich es doch. Mein Schlüssel ist immer in der Handtasche«, murmelte sie zufrieden und suchte auf einem Haufen abgelegter Kleidungsstücke ihre Jacke aus schwarzem Lederimitat. Der Stapel kippte vom Stuhl und die Kleidungsstücke verteilten sich auf dem Teppich.
Gereizt bemalte sie sich mit knallrotem Lippenstift die Lippen, presste diese anschließend hart aufeinander, schmatzte laut in den Schlafzimmerspiegel und biss auf ein Taschentuch, was die überschüssige Farbe aufsaugen sollte. Zufrieden betrachtete sie ihr Spiegelbild.
Sie zog die Haustür ins Schloss und atmete die würzige Gartenluft ein. Energisch trat sie den Ständer ihres Fahrrades beiseite. Sie würde sich heute Abend gewiss nicht selbst die Laune verderben, indem sie weiter über Konrad grübelte. Er würde schon sehen, wen er sitzen gelassen hatte.
Als sie, erhitzt von ihrer Wut auf Konrad und der körperlichen Betätigung an frischer Luft, am Fischhus ankam, hatten die beiden anderen Frauen schon die Köpfe über ein Blatt Karo-Papier zusammengesteckt. Sie erkannte Inses säuberliche Handschrift. »1 TS Gemüsebrühe, 3 EL Ei-Ersatz«, las sie über die Schulter der Freundin. »Was kochen wir eigentlich?«, erkundigte sie sich.
Wencke sah sie groß an: »Na, vegane Fischfrikadellen. Schon vergessen?« Sie hatte es wohl eher verdrängt. Im Grunde genommen hasste sie Kochen. Sie bereitete nie etwas Komplizierteres als Nudeln zu. »Was ist das?«, fragte sie und drehte ratlos eine Dose in den Händen.
»Jackfruit in Salzlake. Das Zeug hat Inse aus dem Asiamarkt in Kiel mitgebracht – für die Frikadellen. Eignet sich bestens, weil es so schön faserig ist.« Sie tat interessiert: »Aha.« Dann betrachtete sie die grünen Platten, die Inse aus einer Plastikfolie holte. »Sind das Algen?«, fragte sie. Inse war so mit der Folie beschäftigt, dass sie nicht aufsah. »Ja, Nori-Algen. Damit kann man auch Sushi machen.«
Sie spürte eine leichte Eifersucht aufkommen. Die anderen beiden waren schon so lange befreundet. »Und was soll ich machen?«, fragte sie. Wencke warf ihr eine Zwiebel zu: »Hacken.« Sie zeigte auf ein Glas. »Und danach kannst du schon mal die Brötchenhälften mit der veganen Majo einstreichen. Ich bin irre gespannt, was unsere Testesser gleich sagen!«
Testesser? Davon hörte sie zum ersten Mal. »Kommt noch jemand ins Fischhus?«, fragte sie irritiert. Inse lachte. »Ja, Oschi und Jan. Sie sollen die neuen Fischfrikadellen aus ›Kabeljau‹ probieren, die angeblich nach einem Rezept meiner Großmutter hergestellt sind.« Inse kicherte nun ebenfalls albern und meinte: »Wetten, dass die beiden Feinschmecker nicht merken, dass sie vegan essen?«
Tilda pellte ein wenig Haut von der Zwiebel. Die Ehemänner würden also demnächst dazustoßen. Dann war sie wieder das fünfte Rad am Wagen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Das ist also euer Plan. Ihr wollt die Stammgäste betuppern!«
Wencke lachte: »Aber das geschieht nur zu ihrem Besten – und dem des Kabeljaus.«
Jetzt bogen sich auch Tildas Mundecken willkürlich nach oben. Wencke war reichlich ausgebufft, dachte sie ein wenig neidisch. Wenn diese beiden Nordlichter nichts merkten, würden auch die anderen Stammgäste keinen Unterschied zu echtem Fisch schmecken.
Eine Zeitlang arbeiteten sie schweigend vor sich hin. Inse hatte begonnen, die Nori-Algen-Matte zu zerteilen, ihr tränten von der Zwiebel die Augen, und Wencke gab die Jackfruitstücke in eine Pfanne. Bald stieg heißer Dampf in der Bretterbude auf, als die Tropenfrucht in einer Gemüsebrühe köchelte.
Nachdem die Frucht in ihre Fasern zerfallen und abgekühlt war, verknetete sie die Jackfruit mit der Zwiebel und den Nori-Algen und ein paar weiteren Zutaten. Die Männer kamen gerade rechtzeitig, um noch zu sehen, wie Inse die »Fischbrötchen« mit Tomatenscheibchen und einigen Salatblättern dekorierte. »Für mich ohne das ganze grüne Gedöns«, bellte Inses Mann, was bei den Frauen für einen neuerlichen Heiterkeitsausbruch sorgte.
»Was denn?«, meinte Jan. »Ihr drei habt doch wieder was ausgeheckt.« Er biss in sein Brötchen und verzog den Mund. »Ne, nech? Wencke? Das ist nicht dein Ernst, oder?« Oke hatte im selben Moment von seinem Brötchen abgebissen, konnte sich aber offenbar nicht überwinden hinunterzuschlucken. Mit vollem Mund bestätigte er: »Algenknete!«