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Oke

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Das Diensthandy auf dem Nachttisch klingelte. Mitten in der Nacht! Wie 1993. Damals war ein Fischerboot in Not gewesen, erinnerte er sich, als er den Schlaf abschüttelte und »Oltmanns« in den Hörer grummelte. Die Einsatzzentrale meldete einen Brand: »Nähe Forsthaus, Selenter See.« Wieso riefen die ihn an? Hatte sonst niemand Dienst in Lütjenburg? Wenn er morgens um 4.18 Uhr auf etwas verzichten konnte, dann auf Waldbrände – und Kurt Tietjen.

Trotzdem quälte er sich hoch und warf sich im Dunkeln etwas über, von dem er hoffte, dass es nicht Inse gehörte.

Kurz darauf drehte Oke den Zündschlüssel und die Stimmen von Jermaine Jackson und Pia Zadora dröhnten aus den Boxen im Fahrzeuginneren: »And when the rain begins to fall …«

In Hohwacht hatte es seit Tagen nicht geregnet. Der Waldbrand konnte verheerende Folgen haben. Die Nadeln der Tannen enthielten leicht brennbare ätherische Öle, die wie Brandbeschleuniger wirkten. Er fragte sich, ob Tietjen und seine Familie ernsthaft in Gefahr waren. Oke drückte das Gaspedal weiter durch.

Hinter ihm heulten Sirenen und Oke ließ einen Feuerwehrwagen vorbeiziehen. Im Scheinwerferlicht sah er eine schwarze Rauchsäule am dunklen Himmel.

Kurz darauf parkte er ziemlich schief neben Kurt Tietjens Kombi. Im Vorübergehen warf er dem Wackeldackel einen verächtlichen Blick zu.

Brandgeruch lag in der Luft. In der Ferne hörte er das Prasseln von Feuer. Vereinzelt klangen Rufe der Brandschützer herüber. Das erste Tanklöschfahrzeug wurde einsatzbereit gemacht.

Über einen schmalen Trampelpfad eilte er zum Forsthaus. Tietjens Frau Annemie stand auf dem Absatz vor der Tür. Sie trug eine braune Wolldecke um die Schultern und hielt eine getigerte Katze auf dem Arm. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen. »Ogottogottogott.« Mehr brachte sie nicht heraus.

»Wo ist Kurt?«, fragte Oke.

Die Försterin zeigte hinter das Haus, von wo Stimmen zu hören waren. Oke lief los, bereit, den Striethammel aus einem Flammeninferno zu ziehen. Auf halbem Weg kam ihm besagter Striethammel im Bademantel entgegen: Ein Feuerwehrmann hielt ihn am Arm gepackt: »Moin, Oschi, kannst du dich mal kümmern? Er wollte uns am Löschen hindern!«

Oke lächelte das erste Mal an diesem Tag und meinte: »Ich kette ihn im Haus an die Heizung.«

Mit eisernem Griff brachte Oke einen zeternden Tietjen ins Haus, wo er ihn zwar nicht ankettete, aber einem gerechten Gott überließ, der just eingetroffen war. Kölsch vor dem ersten Kaffee würde für Tietjen hoffentlich ebenso hart sein wie eine unbequeme Position am Fuße der Röhrenheizung.

So bald wie möglich wollte der Kommissar den Tatort in Augenschein nehmen. Als Oke am Löschfahrzeug ankam, löste sich ein Mann aus der Gruppe. Gruppenführer Hajo Hesse erstattete sofort ungefragt Bericht: »Irgendein Dööskopp hat am Bienenstand ein Feuerchen gelegt!«

Oke sah auf die prasselnden Flammen, die hochschlugen, als wollten sie den halben Wald verschlingen. Oke spürte die Hitze auf seiner Haut. Wenn er hier länger herumstand, würde sie seine Bartstoppeln versengen. »Kriegt ihr das hin?«

Es musste wohl ganz Ostholstein in Schutt und Asche liegen, bevor der Feuerwehrmann unruhig wurde. »Wir haben’s gleich. Meine Jungs wissen, was sie tun«, sagte Hesse gelassen. Er hüstelte verlegen. »Meine Jungs – und das Mädel«, fügte er schuldbewusst hinzu. Die Freiwillige Feuerwehr Hohwacht/Neudorf hatte erst kürzlich ein weibliches Mitglied hinzugewonnen. Offenbar musste Hesse seinen Sprachgebrauch erst der neuen Situation anpassen. Oke nickte. »Wer hat euch informiert?«

Hesse zeigte zum Forsthaus. »Die Frau des Försters. Völlig fertig, die Arme. Sollte man einem Arzt vorstellen.« Hesse deutete auf die verkohlten Reste des Schuppens: »Der war nicht zu retten und die Bienen … tja … keinen Schimmer, ob welche überlebt haben. Ich denke, eher nicht.« Oke vernahm Bedauern in der Stimme des Brandschützers.

Kurzzeitig übertönte das Rauschen des Wassers aus den Löschfahrzeugen Hesses kräftige Stimme, ein zweites war nun im Einsatz.

Sein Team leistete ganze Arbeit. Als Oke endlich an den Bienenstand durfte, war der Boden komplett durchnässt. Überall gab es tiefe Pfützen. »Warum wollte Tietjen nicht, dass ihr das Feuer löscht?«

Der Gruppenführer tippte sich an die Stirn: »Der Kerl ist doch ein Wichtigtuer. Meinte, dass die überlebenden Bienen Schaden nehmen könnten. Aber wir können das Wasser wohl schlecht durch Strohhalme pusten, oder was denkt der sich?«

Feuer und Wassermassen hatten alles im Chaos versinken lassen: Die schwarzen Reste der Holzkästen schwammen in Schlammpfützen, überall fanden sich Bruchstücke von Honigwaben. Der Schuppen bestand lediglich aus verkohlten Überresten.

Als Oke etwas Helles im Matsch aufblitzen sah, bückte er sich ächzend. Er war auch schon mal sportlicher gewesen.

Aufmerksam betrachtete er den triefenden Feuerwerkskörper in seiner Hand. Ein Totenkopf zierte das Papier: Polen-Böller. Illegale Kracher, die die große Gefahr von Fehlzündungen bargen.

Oke sah noch nicht klar. War das hier ein Dummejungenstreich? Oder hatte jemand eine Rechnung mit dem Förster zu begleichen? Die Böller konnten von überallher stammen.

Vorsichtig machte er ein paar Schritte nach rechts und seine braunen Halbschuhe versanken in der weichen Erde. Er suchte nach Schuhspuren. Diese fand man an Tatorten häufiger als Fingerabdrücke, und auch die Abdrücke der Sohlen konnten Ermittlern Aufschluss über eine Menge Dinge verschaffen. Der Sohlen-Spezi bei der SpuSi hatte ihm mal erklärt, inwiefern Sohlenabdrücke sogar etwas über die Herkunft der Täter verrieten.

Oke hegte allerdings wenig Hoffnung, in dieser Schlammwüste überhaupt eine Spur zu finden. Und zwar nicht nur, weil es tagelang trocken gewesen war und die Feuerwehr große Pfützen und tiefe Spurrillen hinterlassen hatte. Sondern vor allem, weil seine Brille im Auto lag!

Bei seiner weiteren Suche fiel sein Blick auf eine Wabe. Eine Biene irrte darauf umher, als suchte sie nach Überlebenden. Ein Tropfen Löschwasser glitzerte auf ihrem Pelz. »Wat ’ne Quäleree«, murmelte er.

Misshandlung von Tieren wurde bei Wirbeltieren nach Paragraf 17 Tierschutzgesetz geahndet. Hundebesitzern, die ihre Tiere qualvoll verhungern ließen, drohten Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren. Er wusste nicht, was einen Bienenmörder erwartete.

Und dann waren da noch Brandstiftung und Sachbeschädigung. Nachdenklich ging er noch ein Stück weiter, wieder zurück Richtung Forsthaus, wo die Erde fester wurde. Keine drei Minuten später stieß er auf einen halbwegs brauchbaren Abdruck, einen halben Schuhabdruck. Oke stieß einen Pfiff aus: Der mutmaßliche Täter hatte einen Abdruck mit Wabenmuster hinterlassen.

Gerade überlegte er, ob der Abdruck von Tietjen selbst stammen könnte, als der Förster unvermutet auftauchte. »Der Schaden geht in die Zehntausende! Schreib das mal schön in deinen Bericht rein!«

Oke richtete sich zu voller Größe auf: »Verdammig, Kurt Tietjen, du solltest im Haus bleiben! Willst du, dass ich dich festnehme?«

Kurt Tietjen blinzelte. »Wenn du eine Anzeige wegen Freiheitsberaubung riskieren willst!«, kam es grob zurück.

Einerseits würde er sich nie im Leben von diesem Aushilfsförster sagen lassen, was er in seinen Bericht zu schreiben hatte. Andererseits brauchte er dafür die Einschätzung des Eigentümers zum Ausmaß des Schadens. 10.000 Euro erschienen ihm jedoch sehr viel. »Wir werden einen Sachverständigen zu Rate ziehen. Du kannst mir aber schon mal deine Schuhsohlen zeigen.«

Er hätte Tietjen auch bitten können, sich nackt auszuziehen. Der Effekt wäre der gleiche gewesen. »Gibt es für diese Anordnung einen gerichtlichen Beschluss?«, fragte Tietjen mit vor der Brust verschränkten Armen.

Aber diesmal würde der Sturkopp nicht mit seinen Fisimatenten durchkommen. Diesmal war das Gesetz eindeutig auf Okes Seite: »Zeig deine Schuhe oder ich nehme dich mit auf die Wache!« Kurt Tietjens Sohlen zierte ein Rautenmuster, wie er feststellen konnte, als der Förster mit verkniffenem Gesichtsausdruck den rechten Fuß anhob. »Hast du jemanden noch mehr geärgert als mich oder warum ist dein Bienenstand in die Luft geflogen?«, fragte Oke.

Kurt Tietjen sah ihn böse an. Er schien seine Antwort sorgfältig abzuwägen. »Was habe ich damit zu tun, wenn irgendwelche Idioten ein Feuerwerk im Wald veranstalten?« Demonstrativ schaute er auf den nassen Böller in Okes Hand.

»Du meinst, das Inferno hier hatte nichts mit dir zu tun?«, bohrte Oke nach.

Kurt Tietjen wirkte selbstsicher, wie er da in seinem Bademantel im Luftzug stand: »Wer sollte mir was Böses wollen?«

Oke hätte sich durchaus jemanden vorstellen können. Dieser Jemand war überdurchschnittlich groß, uniformiert und an überfahrenen Wildtieren interessiert. Zu Tietjens Glück nahm es dieser Jemand mit dem Gesetz sehr genau.

»Ich bin von der Knallerei draußen aufgewacht«, berichtete etwas später die aufgelöste Annemie Tietjen. Um die Schultern trug sie noch die fusselige Decke. Ihre Frisur erinnerte Oke an ein aus dem Baum gefallenes Vogelnest.

Sie saßen zu viert in Tietjens Stube, das Ehepaar Tietjen, Gott und er. Unbequemer ging es nicht: Sein Hintern klemmte zwischen den beiden Lehnen eines Polstersessels, der ohne Weiteres in einem Puppenhaus hätte stehen können. Während er sich wie im Schraubstock fühlte, tippte Gott munter die Aussagen des Ehepaares in seinen virtuellen Memoblock.

»Haben Sie jemanden gesehen?«

Annemie machte einen unentschlossenen Eindruck: »Nein … Es war dunkel.« Er glaubte ihr nicht recht. Ihr Zögern hatte ihn stutzig werden lassen. War es wirklich dermaßen finster gewesen? Musste der Himmel nicht wie in einer Silvesternacht geleuchtet haben? Womöglich kannte sie den oder die Täter und wollte diese schützen? All das ging ihm im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf.

Auf dem Schoß hielt er derweil eine Miniatur-Teetasse, deren blassgelber Inhalt ihn an einen Krankenhausaufenthalt in Kindertagen zurückdenken und erschaudern ließ. Die Tasse hatte Kurt Tietjen, der leider immer noch nicht festgekettet war, seiner Frau gebracht. Doch Annemie hatte den Tee an ihn weitergereicht: »Ich kann jetzt nichts trinken, aber Sie, Herr Oltmanns, Sie kommen doch gebürtig aus Ostfriesland.« Oke stellte die winzige Tasse auf dem Eichentisch ab. Warum dachten immer alle, Ostfriesen müssten Tee trinken? Er konnte das labbrige Zeug nicht ausstehen. Backemoor hin oder her.

»Um wie viel Uhr haben Sie es knallen gehört?«, fragte er.

Annemie warf einen Blick auf das Ziffernblatt der hölzernen Standuhr neben der Vitrine. »Um drei?«

Es klang wie eine Frage, und er wartete, ob sich Annemie korrigieren würde. Sie tat es nicht. »Also um drei Uhr?« Seine Stimme dröhnte durch den mit Möbeln und Porzellanfiguren vollgestopften Raum. Er hatte seine Probleme mit der Zeitangabe. Feuerwehr und Polizei waren erst viel später benachrichtigt worden. Das musste aber nichts heißen. Die Ereignisse hatten die Frau offenbar sehr verwirrt.

»Du machst meine Frau kirre«, mischte sich Kurt Tietjen ein. »Merkst du nicht, dass sie noch ganz durcheinander ist? Unser Haus hätte abfackeln können … Wahrscheinlich müssen wir wegen des Brandgeruchs renovieren!«

Das waren ja ganz neue Töne von einem, der eben noch die Rettungskräfte am Löschen hatte hindern wollen. Das Wort »Versicherungsbetrug« tauchte in Okes Kopf auf.

Gern hätte er gewusst, wie sein Kollege die Sache einschätzte. Aber der Hibbelmoors war gerade schon rausgelaufen, um die Kollegen von der SpuSi zu unterstützen. Während er selbst zwischen zwei Sessellehnen feststeckte.

Eine gute Stunde später traf Oke auf der Hohwachter Wache ein. Vor der Tür parkte schon wieder Jana Schmidts Wagen. Dann holte sie jetzt wohl tatsächlich den letzten Karton.

Mit einem Ruck riss er einen verblassten Fahndungsaufruf von der Eingangstür ab. Ein bräunlich verfärbter Klebestreifen blieb haften und er rubbelte diesen, so gut es ging, mit dem Daumennagel ab. Es wurde Zeit, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ein neues Kapitel anbrach – längst angebrochen war. Irgendwann würde es nur noch Müllabfuhr-Tage und keine Polizei-Tage mehr in Hohwacht geben.

Wenn er gehofft hatte, dass seine Kollegin ihn mit frisch gebrühtem Kaffee begrüßen würde, sah er sich getäuscht. Das Großraumbüro wirkte kahl, nachdem Jana Schmidt ihren Schreibtisch nun komplett geräumt hatte. Die beiden Fotorahmen mit den Aufnahmen ihres inzwischen verschiedenen Karotten-Meerschweinchens Toto fehlten, ebenso die chinesische Winkekatze und der Plüschteddy, den sie vor Jahren beim Bremer Freimarkt gewonnen hatte. Der Raum war überdies menschenleer.

»Oh, Moin, Herr Oltmanns. Ich bin eigentlich schon fast wieder weg«, sagte sie, als sie aus dem Bad kam. Der Pferdeschwanz saß wie immer fest am Kopf. Der Anblick ihres wippenden Zopfes würde ihm ebenso fehlen wie die Meersäue.

Sie lächelte ihn an: »Könnten Sie vielleicht noch beim letzten Karton mit anfassen? Da müsste jetzt wirklich alles drin sein. Ich hoffe, wir kriegen ihn in den Käfer.« Oke tat ihr den Gefallen, bückte sich und packte das unhandliche Teil mit beiden Händen. Noch beim Hochkommen durchzuckte ihn ein ungeahnter Schmerz: »Arg!«

Der Karton rutschte ihm aus den Händen. Ein Stifthalter, zwei Kugelschreiber und andere Kleinigkeiten wie Heftklammern fielen heraus und verteilten sich über der blauen Auslegeware. Ein Flummi hüpfte auf und nieder. Oke landete erst auf den Knien und sank dann seitlich unter den Schreibtisch der Kollegin. Anders als der Flummi kam er nicht ein einziges Mal wieder hoch.

»Oh mein Gott!«, rief Jana Schmidt, während Oke ungefähr zur selben Zeit ein »Düvel ok ne!« ausstieß. Vor Schmerzen fiel ihm das Atmen schwer.

Jana Schmidt konstatierte: »Hexenschuss – oder was Schlimmeres.« Ihre Stimme klang ungewohnt besorgt.

Einen Augenblick später wusste Oke, warum sie so unruhig wirkte: »Lassen Sie mich los! So geht das nicht, Frau Schmidt!«, grantelte er mit erstickter Stimme, während sie mit hochrotem Kopf an seinem rechten Bein zog.

»Ich ruf einen Krankenwagen«, entschied seine ehemalige Kollegin in resolutem Ton.

»Keinen Krankenwagen!«, japste er hinter ihr her.

In dem Moment ging die Glastür der Wache auf und Sieglinde Meyer schlurfte hinter ihrem Rollator in das Großraumbüro. »Herr Oltmanns?«, hörte er sie nach ihm rufen. Die 102-jährige Anwohnerin des Strandwegs ließ nur wenige Sekunden verstreichen, dann rief sie erneut: »Herr Oltmanns! Wo sind Sie? Heute ist Dienstag! Ihr Dienst-Tag, und ich will sofort Anzeige erstatten!«

Oke sah von seiner Warte aus nur die mattschwarzen Gesundheitsschuhe mit dem Klettverschluss und einen Teil ihrer auf Falte gebügelten Stoffhose. Die Meyersche hatte offenbar nicht mitbekommen, dass er nicht an seinem Schreibtisch saß. »Hier unten!«, dröhnte Oke schlecht gelaunt.

Sieglinde Meyer bückte sich. Oke sah in ein fragendes Gesicht, das ihn an eine schrumpelige Kartoffel denken ließ. »Was machen Sie da?«, krächzte sie verwundert.

Er wusste, dass sie die Ironie nicht verstehen würde, aber er sagte trotzdem: »Verbreker söken.«

Endlich beendete Jana Schmidt ihr Telefonat. Sie hatte gegen seinen ausdrücklichen Willen das Plöner Krankenhaus angerufen. »Wenn Sie Anzeige erstatten wollen, Frau Meyer, müssen Sie jetzt nach Lütjenburg fahren«, informierte sie die Dorfälteste. So unbarmherzig kannte er seine ehemalige Kollegin gar nicht. Vermutlich machte sie sich wirklich Sorgen um ihn – oder sie hatte zu lang mit einem Bullerjan gearbeitet …

Die Meyersche fasste sich ans Ohr. »Haben Sie Lütjenburg gesagt, junge Deern? Mit dem Ding soll ich nach Lütjenburg hin?« Sie stieß mit dem Fuß gegen die Gehhilfe. Da hatte Hallbohm es: Mit dem Rollator waren neun Kilometer eine ganze Ecke.

»Haben Sie wieder die Kerle mit den Taschenlampen gesehen?«, fragte Oke unterm Tisch liegend. Schließlich kannte er seine Pappenheimer. Und der Meyerschen würde er noch hundertmal erklären müssen, dass die »Kerle« nur Jugendliche waren, die auf virtuelle Pokémons Jagd machten.

In der Notaufnahme im Plöner Kreiskrankenhaus wollte eine zierliche Ärztin wissen, ob die Schmerzen vom Rücken ins Bein ausstrahlten. »Ne«, antwortete er knapp.

Die Ärztin konfrontierte ihn nun mit einer Feststellung, die ihm nicht viel sagte: »Sie haben vermutlich eine Bandscheibenvorwölbung.« Er erhaschte einen Blick auf ihr Namensschild: »Dr. Holtzbrink«, stand darauf.

Es hatte ihm nie viel ausgemacht, in seiner Werkstatt Tiere zu zerlegen. Über die Beschaffenheit seiner eigenen Bandscheibe hingegen wollte er nicht nachdenken. Oke wollte weder hören, dass »jede unserer 23 Bandscheiben im Inneren aus einem Gallertkern besteht«, noch, »dass sie von einem harten Faserring in Position gehalten« würden. Und schon gar nicht wollte er von Dr. Holtzbrink wissen, »dass mit dem Alter die Elastizität des Rings nachlässt«.

Die Ärztin ignorierte sein gelegentliches Stöhnen: »Es passiert gar nicht so selten, dass der Gallertkern den Faserring durchbricht. Dann kommt es zum Prolaps.« Bei dem Gedanken daran, dass in seinem Körper irgendwo etwas Gallertartiges herausquoll, wurde ihm ganz anders.

Ob es sich um eine Vorwölbung oder sogar um einen Riss handele, könne niemand ohne weitergehende Untersuchung sagen, dozierte Holtzbrink. »Ich kann Sie einweisen. Dann wissen wir bald mehr.«

Einweisen. Das Wort hallte in seinem Kopf. Oke rappelte sich ächzend hoch: »Niemand weist mich ein!«

Eine Stunde später hatte Inse ihn zwischen zwei kratzige Paillettenkissen drapiert; die Knie durch Unterlegen einer Getränkekiste samt Wolldecke im 90-Grad-Winkel angewinkelt. »So, das entlastet jetzt wunderbar die Bandscheiben.« Mit diesen Worten hauchte sie ihm einen Kuss auf die gerunzelte Stirn und er war umgeben von einem Hauch Honigduft. Seit sie auf dem Bienen-Trip war, wusch sie ihr Haar nur noch mit Tildas selbstgefertigtem Honigshampoo.

Mit der Getränkekiste konnte er sich vielleicht abfinden, mit den Paillettenkissen sicher nicht. Sie schürften ihm bereits die Haut vom Wangenknochen. Doch er fühlte sich zu schwach, um zu protestieren.

So sah es aus: Draußen wütete ein Feuerteufel, Kurt Tietjen lief wahrscheinlich Amok und Oke Oltmanns war zur Bewegungslosigkeit verdammt. Nicht mal Fernsehen durfte er, stattdessen musste er sich einen Vortrag von Inse anhören: »Ich habe dir immer gesagt, dass du zu viel sitzt!« Ihre Stimme – ein einziger Vorwurf. »Dazu kommt deine ungesunde Ernährung. Glaube ja nicht, ich wüsste nicht, dass du dich heimlich zusätzlich mit Hackepeter-Brötchen und Donuts in der Bäckerei eindeckst. Du hältst es vielleicht für Hexerei, aber: Ich kann Zwiebelmett riechen!«

Imkersterben

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