Читать книгу Der einen Glück, der anderen Leid - Patricia Clara Meile - Страница 5
3 Geheimnisse
ОглавлениеMilena hat mich trotz allem zu einem besseren Menschen gemacht. Auf einmal sah ich Ausländer wieder mit anderen Augen. Ich wurde offener, freundlicher und hilfsbereiter – interessiert am Austausch. Als ich ihr dies erzählte, freute sie sich sehr. Ich glaube, wir haben, sozial betrachtet, einen guten Einfluss aufeinander. Sowie die Ansässigen häufig Vorurteile gegenüber Einwanderern haben, so sind auch die Migranten den Einheimischen gegenüber voreingenommen. Rassismus findet in beide Richtungen statt. Vorurteile sind natürlich und menschlich, doch es sollte zumindest die Bereitschaft bestehen, sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen. „In Wahrheit“, sage ich immer, „gibt es prozentual überall gleich viele gute und schlechte Menschen und jede Kultur kann von anderen lernen.“ Genauso gibt es auch Vorurteile gegenüber gewissen Berufsgruppen. Wir tendieren dazu, zu generalisieren und in einen Topf zu werfen. Einige halten männliche Designer automatisch für homosexuell, Bauarbeiter für notgeil, Versicherungsangestellte für Abzocker und Lügner und Banker für eingebildet und blasiert.
Nachdem sie mir viel über ihre diversen Verehrer berichtet und Fotos gezeigt hatte, habe ich Milena meine Schwäche für Matteo gestanden. Eines Tages, beim Mittagessen zusammen mit einer weiteren Kollegin in der Kantine, meinte ich in einem Anflug von Übermut: „Es gibt einfach keine schönen Männer zu betrachten hier – nichts für unsere Augen!“ Milena stimmte mir lachend zu: „Ich habe es jetzt nicht so offen sagen wollen, aber gedacht hab ich schon dasselbe.“ Die andere Kollegin, die noch ziemlich frisch verheiratet war, meinte: „Ich schau mir die Männer hier gar nicht auf diese Weise an.“ Am Nachmittag, als wir wieder in unserem Büro waren, sagte ich zu Milena: „Ich muss mich korrigieren. Es gibt doch einen Mann hier, der mir unwahrscheinlich gefällt.“ Ich kicherte wie ein Teenie und zeigte ihr sein Bild auf einer sozialen Plattform und im Intranet. Sie antwortete: „Ja, der sieht nicht schlecht aus, schön breit gebaut. Aber gesehen hab ich den hier noch nie.“ „Er arbeitet in der vierten Etage. Deshalb hab ich da früher kurz nach neun Uhr morgens gern ab und an Kaffeepause gemacht. Es zog mich immer wieder in dieses vierte Stockwerk einfach nur, um ihn zu betrachten, diesen attraktivsten Mann der Firma.“ „Dann lass uns morgen um die Uhrzeit in den vierten Stock gehen, Liara“, meinte Milena sofort mit einem breiten Grinsen im Gesicht. In beschwingter Vorfreude stimmte ich ihr zu, nicht ahnend, dass wir ihm bereits früher wie erwartet begegnen würden. In Milenas jugendlicher Gesellschaft fühlte ich mich mitunter wieder wie ein ausgelassenes Schulmädchen. Auch das Gebaren stets irgendeinen Schwarm zu haben, diesen verzückt zu beobachten und mir dadurch die Motivation zu holen, jeden Tag aufzustehen und loszugehen, erinnerte mich an Schulzeiten. Matteo zu sehen oder selbst nur seinen Wagen auf dem Parkplatz zu entdecken, was zumindest die Hoffnung steigerte, ihn zu sehen, verlieh mir Kraft und Elan für den Tag wie ein leckeres reichhaltiges Frühstück. Er war eine Art treibende Kraft – etwas, wofür es sich lohnte, zu leben.
Am Nachmittag verspürte Milena plötzlich einen Hunger auf Süßes. Sie wollte zum Snackautomaten in die vierte Etage. Snacks gab es nämlich nur auf jedem zweiten Stockwerk zu kaufen. Sie fragte mich, ob ich sie auf eine kurze Pause begleiten würde. Selbstverständlich war ich dabei. Eine Pause von der Arbeit, um den Kopf zu lüften und durchzuatmen tut immer gut. Milena kaufte sich ein Päckchen mit Butterkeksen. Wir stellten uns an den Stehtisch und blätterten in einer Gratiszeitung. Milena, die mich in ihrem Grad an Eitelkeit noch übertraf, tendierte dazu, ständig Äußerlichkeiten zu kommentieren. So tat sie es auch mit den Menschen auf den Fotos in dem Magazin, das wir uns anschauten. Daher sagte ich zu ihr: „Meine Liebe, du solltest dir bewusst sein, was dich so wunderschön und besonders macht, ist nicht dein hübsches Gesicht, nicht dein gut proportionierter Körper, es sind deine herzliche Ausstrahlung, deine helle Aura und dein Lachen. Jene Dinge sollten wir viel höher gewichten.“ Milena lächelte mich gerührt an: „Danke, Liara. Das hast du schön gesagt.“
Wenige Minuten später kam Matteo herein, um sich ebenfalls etwas am Automaten zu holen. Mit seinem schicken schwarzen Anzug und seiner elegant definierten Statur, hätte er gut und gerne als nächster James Bond durchgehen können. Doch was auch seine Schönheit auf ein höchstes Level bringt, sind sein Charisma und sein Charme. Ich grüßte kurz und beachtete ihn nicht weiter. Milena beobachtete ihn. Als er wieder weg war, fragte sie mich: „War er das?“ „Ja“, antwortete ich. „Hast du gesehen, er hat dich von oben bis unten gemustert und abgecheckt?! Wie konntest du nur so cool bleiben?!“ „Wirklich? Nein, das hab ich nicht gesehen. Ich hab absichtlich nicht hingeguckt. Ich will nicht, dass es so auffällt. Er hat es bestimmt ohnehin schon gemerkt.“ „Nein, das glaube ich nicht. Männer merken sowas nicht so schnell“, meinte Milena. In diesem Fall glaubte ich das allerdings nicht. Zu oft hatten wir einander offensichtlich angeschaut. Dann zweifelte ich wieder. Vielleicht bildete ich mir das alles bloß ein und Milena beteiligte sich unbewusst an dem Hirngespinst, weil ich ihr davon erzählt hatte. „Außerdem hat er Frau und Kinder“, ergänzte ich.
Als wir wieder an unseren Bürotischen saßen, fragte Milena: „Wenn Matteo jetzt zu dir käme und sagen würde, er hätte sich in dich verliebt und würde sich von seiner Frau trennen, würdest du deinen Partner dann verlassen?“ „Ich denke nicht“, antwortete ich und fügte hinzu: „Es ist doch bloß eine kindische Schwärmerei. Ich freue mich ja sogar schon nur, wenn er sein Auto neben meinem parkt. Eine oberflächliche Verliebtheit kann sich nimmer mit der tiefen Liebe einer langjährigen Beziehung messen. Diese Liebe befindet sich auf einer ganz anderen Ebene. Um sowas aufzugeben, bräuchte es weit mehr.“ „Aber würde für dich ein getrennter Mann, der bereits Kinder hat, grundsätzlich in Frage kommen? Für mich eher nicht, ich bin zu jung dafür.“ „Für mich ist es auch nicht das, was ich mir wünsche. Es entspricht nicht meiner Vorstellung, doch ganz ausschließen möchte ich es nicht. Wenn ich jetzt total verliebt wäre, er ansonsten der Mann meiner Träume wäre, aber schon Kinder hätte, würde ich mich wohl doch auf eine Beziehung einlassen. Wenn die Liebe zu jemandem groß genug ist, ist fast alles möglich.“ „Ich finde deine Einstellung gut, Liara. Du verneinst nie kategorisch. Du bedenkst stets alle Aspekte und bleibst offen.“ Ich stimmte zu: „Ja, es gibt immer mehrere Seiten.“
An diesem Abend wurde Milena von ihrem Vater abgeholt. Bei der Gelegenheit, wollte sie ihm ihren neuen Arbeitsplatz zeigen. Er sprach schlechter Deutsch als ihre Mutter und litt durch einen Autounfall und eine in der Folge misslungene Operation an Schwerhörigkeit. Er war ein richtiger Knuddelbär, breit gebaut mit Genießerbauch und für sein Alter, noch sehr dichtem grauem Haar auf dem Kopf. Er und seine Tochter hatten ein sehr enges, liebevolles Verhältnis. Er hing unwahrscheinlich an ihr. Ich sagte zu ihm: „Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie können sehr stolz auf sich und ihre Tochter sein. Sie hat ausgesprochen gute Manieren. Man merkt, dass sie eine gute Kinderstube genossen hat. Sie ist eine Bereicherung für mich.“ „Sie haben also nichts gegen Ausländer?“, fragte er. „Ich habe nichts gegen Menschen, die mir freundlich begegnen. Seit ich Ihre Tochter kennengelernt habe, sind meine Vorurteile Ausländern gegenüber praktisch verschwunden. Sie hat mich ein großes Stück weit von diesen geheilt.“ „Verstehe, das ist gut – sehr gut“, antwortete er und fügte hinzu: „Danke Ihnen für Ihr Kompliment. Ich weiß, ich habe eine großartige Tochter.“ Milena dafür bewundert mich für meine Kreativität. Ich liebe Zeichnen, Malen und Fotografieren - Momente in Bildern festhalten. Schöpferisches Gestalten ist wie träumen. Jeder Tag ist eine Perle. Die einfache Beobachtung des Alltags ist beste Muse. Wenn ich ausgefallene Schuhe oder Klamotten trug, um meine künstlerische Ader auch im faden Arbeitsalltag auszuleben, meinte Milena bisweilen: „Ich staune über deinen Mut, Liara!“ „Warum Mut? Weißt du, irgendwann kommt der Punkt, wo es dir egal ist, was andere denken, insbesondere jene, die dir nichts bedeuten.“ Zwischen uns beiden jedoch, gab es diese Hemmschwelle der Sorgen um die Gedanken des anderen. Wir wollten nichts falsch machen, wollten einander nicht nerven, uns einander nicht aufdrängen, mochten uns aber sehr.
Am nächsten Morgen um neun begaben Milena und ich uns, wie vereinbart, wieder in die vierte Etage. Tatsächlich war auch Matteo mit seinen Kollegen aus dem Verkauf wieder dort. Das erfreute mich sehr. Matteo raucht Tabakpfeife. Irgendwie passt es nicht zu einem jungen, modernen, modebewussten Mann, oder vielleicht gerade? Zweifellos ist es ungewöhnlich für seine Generation. Milena hatte es beobachtet und mir erzählt. Als sie frisch angefangen und dazu noch Stress in ihrer beruflichen Weiterbildung hatte, hatte sie zur Beruhigung ihrer Nerven ab und an geraucht und ihn gesehen. Sie hatte ihn gesehen und doch nicht richtig wahrgenommen, weil sie noch nicht Bescheid wusste und mit ihren eigenen Verehrern beschäftigt war. Jedenfalls gibt es in dem Firmengebäude zwei offizielle Aufgänge, einer vorne am Haus, der direkt zum Raucherplatz und zum Haupteingang führt und ein anderer in der Mitte, den wir für unsere Büros benutzen. Normalerweise verlässt Matteo die Kaffeerunde etwas früher wie seine Kollegen, um noch eine rauchen zu gehen. Dabei benützte er stets das vordere Treppenhaus mit dem Direktzugang zur Raucherecke. Diesmal jedoch folgte er uns über den Umweg durchs mittlere Treppenhaus, als wir zu unserem Arbeitsplatz zurückkehrten. Das fiel mir auf und schon früher war mir aufgefallen, dass er mich praktisch jedes Mal noch ansah, wenn wir die Kaffeeecke verließen. Als wir uns im dritten Stock angekommen zu unserem Büro abdrehten, schaute ich ihm kurz hinterher, wie er weiter die Stufen hinunterstieg. Ich schmachtete. „Er hat wirklich eine tolle sportliche Figur“, meinte ich zu Milena. Sie hatte zuvor schon mehrmals erwähnt, was er doch für einen trainierten Knackpo hätte. Mich hingegen hatten stets seine Augen gefesselt. „Siehste, hab ich dir doch gesagt! Er zieht sich auch gut an. Ich kann dich also verstehen, Liara“, erwiderte sie augenzwinkernd.
Als ich Milena im Internet auf der Seite des Innerschweizer Beautysalons seine Partnerin zeigte, war sie entsetzt. „Die ist ja fett und hässlich!“, sagte sie und fügte hinzu: „Die hat echt den Jackpot gewonnen, was? Ich verstehe nicht, warum so hübsche Männer oft solche Bauerntrampel als Frauen haben. Und dann hat sie noch Frisörin gelernt, eine dumme hässliche Frisörin. Von der würd ich mich nie behandeln lassen. Ich lasse mich nur von Damen verschönern, die auch selber gut aussehen, ansonsten kann ich denen kein Vertrauen schenken. Er macht dagegen einen intelligenten, freundlich zurückhaltenden Eindruck auf mich.“ Wieder Vorurteile. „Vielleicht ist er etwas schüchtern, was Frauen anbelangt. Vielleicht getraut er sich keine Bessere anzusprechen oder sie hat andere Qualitäten, die wir nicht sehen können“, versuchte ich zu erklären. „Ja, das ist gut möglich. Das ist häufig so“, stimmte Milena mir zu.
An diesem Abend brachte ich sie noch zum Bahnhof. Er lag auf meinem Heimweg. Mit einer herzlichen Umarmung verabschiedete sie sich von mir in einen zweiwöchigen Urlaub. Ich sagte: „Ich werde mich langweilen ohne dich. Ich bin froh, wenn du wieder da bist.“ Sie freute sich natürlich auf die freie Zeit.