Читать книгу Der einen Glück, der anderen Leid - Patricia Clara Meile - Страница 6

4 Die Nachricht

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Nachdem Milena in den Urlaub gefahren war, brachte ich meinem Vorgesetzten ein kleines Schächtelchen mit bunten Makrönchen aus einer bekannten vornehmen Zürcher Confiserie. Darauf klebte ich einen Zettel mit dem Spruch: «Etwas Süßes zur Aufmunterung und gegen Ärger schadet nie!» Wir kannten uns lange und gut genug, dass er diese Geste nicht als Arschkriecherei fehlinterpretierte. Er freute sich sehr. Wie ich auf Umwegen erfuhr, fragte Matteo ihn am selben Tag in der Raucherecke offenbar nach meinem Namen und meiner Position - unglaublich! Er hatte uns in der Vergangenheit bereits des Öfteren zusammen gesehen. Daher wusste er, dass wir derselben Abteilung angehören. Er schien sich also auch für mich zu interessieren. Im gleichen Augenblick als mir dieser Gedanke in den Kopf schoss, versuchte ich, ihn rasch wieder zu verwerfen. Vielleicht gab es dafür eine ganz andere einfache Erklärung. Schließlich arbeiteten wir für dieselbe Firma und es war nicht abwegig, dass wir dafür bisweilen teamübergreifende Kontakte benötigten.

Tatsächlich erschien kurze Zeit später auf meinem Bildschirm plötzlich ein Chatfenster des «Business Skype» von Matteo: „Hallo Frau Sommer!“ „Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Bianchi?“, tippte ich, während ich feststellte, wie mein Puls ein wenig schneller ging. „Ich habe eine Frage.“ „Ja? Ich will sehen, was ich tun kann“, antwortete ich freundlich. „Kommen Sie nicht mehr zur Kaffeepause in die vierte Etage?“ Ich traute meinen Augen nicht. „Meine Kollegin ist im Urlaub - deshalb“, erwiderte ich. „Trinken Sie doch mit mir einen Kaffee!“, konterte er. Ich war völlig perplex. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Schweiß trat aus meinen Poren und meine Hände zitterten, als ich meine Zustimmung eintippte. Bevor ich mich auf den Weg machte, musste ich erstmal tief durchatmen und mich ein wenig beruhigen. Das war allerdings nur bedingt möglich. Habe ich einmal Vertrauen gefasst, werde ich offener und mutiger, mir noch relativ fremden Personen gegenüber jedoch, bin ich normalerweise sehr schüchtern und zurückhaltend. Mein Vater war damals noch der einzige im Dorf gewesen, der aufs Gymnasium gehen und später studieren durfte. Das war eine Ehre und Hochachtung. Diese Tatsache muss ihm ein Wahnsinns Selbstvertrauen verliehen haben. Selbst wenn sie keinerlei Hand und Fuß haben, kann er Dinge voller Überzeugung und felsenfest behaupten. Er bildet sich ein, etwas Besseres und intelligenter zu sein, wie die Mehrheit seiner Mitmenschen. So sagte er einst auch, er wolle nicht mit jeder Sekretärin per Du sein. Davon halte ich nichts. Was heißt schon intelligent?! Es gibt diverse Talente. Jeder hat sie in andere Richtungen ausgeprägt. Das Wichtigste ist doch, dass Begabungen optimal eingesetzt und genutzt werden. Es braucht schließlich all diese Fähigkeiten, damit unsere Gesellschaft funktioniert. Deshalb hasse ich Hierarchiedenken. Es ist total bescheuert, dass auch im heutigen Schulsystem noch so beurteilt wird. Soziale Intelligenz beispielsweise ist meiner Meinung nach mindestens genauso wichtig, wie rechnen, lesen und schreiben. Ein schulischer Werdegang sagt daher, aus meiner Sicht, nicht viel über die Intelligenz eines Menschen aus und über dessen Wert schon gar nicht. Indessen muss man immer relativieren; wir lassen alle schnell mal etwas Unüberlegtes raus. Dennoch frage ich mich manchmal, warum mein Vater nicht zumindest ein Stück jener Selbstüberzeugung an seine Töchter weiterzugeben vermochte. Ich verabscheue meine Unsicherheit. Unterschwellig aber schlummern stets Rebellion, Temperament und Impulsivität in mir, nur darauf wartend, durch einen provokanten Kommentar oder eine entsprechende Handlung eines Mitmenschen geweckt zu werden.

Wie alkoholisiert stieg ich die Stufen hoch, trat zur Tür ein und steuerte Richtung Pausenecke. Dort erwartete mich Matteo bereits - Kunststück, er hatte es ja nicht weit! „Was darf ich Ihnen offerieren, Frau Sommer?“, wollte er wissen. Ich entschied mich für einen Tee. Aufgeregt war ich schon genug, auch ohne Koffein. Er nahm seinen Badge, ließ das Getränk heraus und reichte es mir. Ich bedankte mich höflich und senkte dabei leicht beschämt die Augen. „Bitteschön! Soso, Sie sind also die junge Dame, die ihrem Vorgesetzten Süßes mitbringt?“, leitete er das Gespräch ein. „Ja, warum nicht? Wir haben ein offenes, kollegiales Verhältnis. Bei jedem würde ich das auch nicht machen“, antwortete ich. Er wechselte das Thema: „Ich frage mich schon seit einiger Zeit, was Sie mich immer so anstarren und weshalb Sie stets dann Kaffeezeit machen, wenn unsere Abteilung in der Pause ist. Ich bin Familienvater!“ Nun fühlte ich mich gleichzeitig provoziert und ertappt. Ich hatte mich kopflos verknallt und verrannt, in eine Fantasie, die er ungewollt in mir hervorgerufen hatte. Wenigstens konnte ich jetzt damit abschließen und mein Leben wieder normal weiterführen, ohne in diesen Tagträumen gefangen zu sein. Mit leicht giftigem Unterton und dennoch gedämpfter Stimme, damit man in den umliegenden Büros nicht mithören konnte, antwortete ich: „Was ist das für eine unverschämte Frage?! Warum stört Sie das? Ich bin eine Ästhetin. Ich sehe Sie einfach nur an wie ich ein schönes Haus, ein schönes Gemälde, eine schöne Pflanze oder ein schönes Tier betrachte - nichts weiter. Ich bin außerdem ebenfalls in einer Beziehung. Man sollte einem Mann das zwar nicht sagen, sonst wird er bloß eingebildet, Männer haben in der Regel ohnehin weniger Probleme mit sich und ihrem Aussehen wie Frauen, aber Sie sind ein schöner Mann - der Schönste, der hier umherläuft. Ich muss einfach gucken. Sie brauchen jedoch keine Angst vor mir haben. Ich habe meine moralischen Prinzipien.“ „Tut mir leid. Das war unfair“, entschuldigte er sich kleinlaut und fügte erklärend hinzu: „Warum es mich beschäftigt? Weil Sie mir verdammt gefallen! Wäre ich nicht vergebener Vater mittlerweile zweier Kinder, würde ich Sie wohl ohne Zögern zum Essen einladen. Ihre Augen sind unbeschreiblich! Sie hypnotisieren mich. Darüber hinaus bewundere ich Ihren Stil.“ „Echt?!“, fragte ich ungläubig. Man konnte auch an ihm sehr wohl sehen, dass er eine Ahnung davon hatte. Im Geschäft trug er meist maßgeschneiderte Anzüge und Westen aus Stoffen und in Farben, die perfekt aufeinander abgestimmt waren und optimal zu seinem Typ passten. Er schaute verboten sexy darin aus. Seine kräftige, muskulöse Brust wölbte sich darunter. Wie gerne, hätte ich sie ausgepackt. Ich stellte mir oft vor, wie es wäre, wenn ich die Beherrschung verlieren und ihn einfach berühren würde. Mein Gott, ich musste meine Gedanken zügeln! Nun lächelte ich. „Bitte lächeln Sie mich nicht auf diese Weise an. Sie sind ohnehin schon viel zu hübsch anzuschauen für mich“, sagte er. Niemals hätte ich eine derartige Konversation erwartet. Es mutete vollkommen surreal an. Bis dahin hatte ich nie ernsthaft geglaubt, dass ich ihm tatsächlich ebenfalls gefallen und etwas in ihm auslösen könnte. Ich empfand mich selbst für diese Liga von Mann nicht attraktiv genug. Manchmal frage ich mich wirklich, gibt es noch andere Sorgen, wie Schönheit und Jugendwahn? Ich bin dem, wie so viele, total verfallen. Neben einer dem Schönheitsideal entsprechenden Freundin auch noch einen solchen Mann zu haben, würde mich wohl bloß noch mehr da hinein treiben. Egal was andere sagen mögen, ich sehe mich selbst als guten Durchschnitt, mehr nicht. Alle vorangegangenen Gesten und Geschehnisse, die in Richtung erwidertes Interesse seinerseits hätten deuten können, hatte ich als pure Zufälle und als Gebilde meiner blühenden Fantasie abgetan.

Am nächsten Morgen traf ich etwas später ein wie sonst. Normalerweise standen, wenn ich um viertel nach sieben kam, noch sämtliche Parkplätze in der Nähe des Eingangs zum Gebäude leer und ich hatte die freie Wahl. Nun, kurz nach acht, erwischte ich einen der letzten. Normalerweise stand Matteo auf jenem Parkplatz. Doch das war mir egal. Anspruch auf eigene, reservierte Parkplätze haben nur Mitglieder des Kaders. Später, als ich zum Getränkeautomaten lief, begegnete ich Matteo im Treppenhaus. „Sie stehen auf meinem Parkplatz, Frau Sommer!“, meinte er augenzwinkernd. „Bevor Sie sagen können «mein» Parkplatz, müssen Sie noch etwas höher aufsteigen in der Hierarchie, mein Lieber“, erwiderte ich schlagfertig. Das schelmische Lächeln seiner Augen ließ mich angenehm erschauern.

Einige Tage danach trug ich, trotz meiner Tollpatschigkeit und motorischen Schwäche, Schuhe mit mörderischen Absätzen. Es waren regelrechte Puppenschuhe der brasilianischen Kultmarke Melissa, gefertigt aus hellem altrosa recyceltem Kunststoff mit Riemchen und Keilabsätzen. Das Freiheitsgefühl, was deren Material bietet, ist hervorragend und der Wagemut der Marke beeindruckend – ein Traum aus Plastik mit langer Geschichte, Wunschobjekt und Bezugsgröße im Bereich Accessoires. Melissa wird von den Modemagazinen weltweit umjubelt, von der Herald Tribune und der italienische Vogue über Elle und I-D bis hin zu Numéro. «Esprit, Design, Innovation, Pop, Luxus und Vielfalt des Materials und der emotionalen Erfahrungen», so kann man die Essenz von Melissa wohl am besten beschreiben. Jedenfalls stolperte ich mit diesen ausgefallenen Tretern bei der Geschirrrückgabe in der Kantine und das direkt vor Matteos Augen, der mich lachend auffing. Ich hätte im Boden versinken können vor Scham und Ärger über mich selbst. «Hochmut kommt vor dem Fall», dachte ich bei mir. Das war wohl die gerechte Strafe nach meiner frechen Parkplatz-Aktion. „Ach wie peinlich! Sie müssen sich ja denken, dann trägt die Tussi solche Schuhe und kann nicht mal damit laufen!“, meinte ich zu Matteo. „Iwo, das kann passieren und ich habe Ihnen schließlich gerne geholfen“, erwiderte er galant. „Sie sind doch ein Übercharmeur!“, grinste ich. „Aber warum denn?“, fragte er. „Ich hab das schon mehrmals beobachtet. Sie sind äußerst höflich und freundlich der Damenwelt gegenüber – ein Gentleman aus dem Buche quasi, sodass es schon fast kitschig ist“, antwortete ich stichelnd. „Na, wenn Sie meinen, dann muss es wohl so sein“, sagte er augenzwinkernd. Wenn ich ehrlich bin, muss ich jedoch gestehen, dass ich ein wenig zwanglosen Charme und Schäkerei im Alltag schätze. Sie lockern auf und machen das Zusammenleben wesentlich angenehmer.

Bald darauf kehrte Milena aus ihrem Urlaub zurück. Voller Stolz von ihren Freundinnen, deren Sommerhochzeiten und ihrer Heimatregion berichtend, sprudelten ihre enthusiastischen Worte wie ein Wasserfall. Dazu zeigte sie mir massenhaft Fotos und Videos auf ihrem Mobiltelefon. Die Küste des Adriatischen Meeres sah in der Tat traumhaft beindruckend aus - glasklares Wasser. Die Bucht von Kotor beispielsweise ist eine fast dreissig Kilometer lange, von hohen und sehr steilen Bergflanken gesäumte, stark gewundene fjordartige Bucht. Die inneren Buchten von Risan und Kotor gehören sogar zum UNESCO-Welterbe. Die Bilder schauten teilweise schon fast unwirklich aus, wie Illustrationen von Landschaften aus einem Märchenbuch. Auf dem schmalen, saftig grünen Streifen zwischen den bläulich leuchtenden Berghängen und der tief türkisen Adria lagen pittoreske altertümliche Ortschaften mit Häusern, vorwiegend gebaut aus grauem oder sandfarbenen Stein und gedeckt mit orangen Ziegeln. Das Ferienhaus ihrer Familie dagegen sah aus wie geschaffen von einem Tortenbäcker; eine hohe Villa in Garnelenpink mit blütenweißen Balkongeländern aus balustradenartigen Säulen und mehrschichtigem, frisch geziegeltem, glänzendem kastanienbraunem Dach. Im Garten, mit Blick aufs Meer, hatten sie einen runden offenen Gartenpavillon stehen, der mich an die dekorativen Lauben von Schlössern erinnerte.

Die Hochzeitsfeiern schienen ebenso berauschend. Man scheute keine Kosten und Mühen. Zum Junggesellinnenabschied zogen die Bräute traditionelle Trachten an, voll behangen mit üppigem Goldschmuck, den Verwandte und Freunde offerierten. Die Trauungsfestlichkeiten fanden an erstklassiger Lage statt. Die Tafeln waren königlich geschmückt, die Büffets mit den erlesenen Speisen schier endlos. Die Frauen trugen ausladende schimmernde Kleider, funkelnden Schmuck und die Brautpaare wurde beim Tanz zu lokaler Livemusik mit Geldscheinen überhäuft bis diese den ganzen Boden bedeckten. Immer wieder wechselten die Bräute ihre Kleider, in die ebenfalls Geldscheine hineingesteckt wurden, eines war prächtiger wie das andere. Auch in den Tagen danach gingen die frisch vermählten Frauen jeden Morgen zum Frisör, ließen sich schminken, trugen schicke Kleider und empfingen zu Hause Gäste, die sie sehen und bewundern wollten.

Als Milena fertig berichtet hatte, erzählte ich ihr von meiner denkwürdigen Begegnung mit Matteo. Sie grinste vielsagend: „Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass er dich auch begafft hat!“ Im Hintergrund lief gerade «Candy Shop» von Fifty Cent. Ich sagte: „Oh, das ist einer meiner Lieblingssongs!“ Milena: „Das hätte ich dir jetzt gar nicht zugetraut, Liara! Du magst Hip-Hop und dazu noch so versauten!“ „Ja, warum denn nicht? So alt bin ich nun auch wieder nicht!“ „Du bist bestimmt auch ganz schön versaut. Stille Wasser gründen tief, tief und schmutzig.“ „Ach was, ich bin ganz ne Brave!“, lachte ich. „Aber mit Matteo wärst du ganz sicher kein braves Mädchen“, meinte sie. Just in diesem Moment lief Matteo den Flur vor unserem Büro entlang. „Mit wem?“, rief er grinsend hinein. Ich spürte förmlich wie ich rot anlief: „Ein Bekannter“, antwortete ich. Matteo schüttelte nur belustigt den Kopf und ging weiter. Ich warf Milena einen bösen Blick zu, während sie sich vor Glucksen kaum mehr halten konnte. „Oh, wenn Blicke töten könnten, dann hätte mein letztes Stündchen jetzt geschlagen!“, sagte sie mit Tränen in den Augen und nach Luft schnappend.

Der einen Glück, der anderen Leid

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