Читать книгу Wo der Fluss beginnt - Patricia St. John - Страница 6
ОглавлениеDer Fluss
Nach etwa eineinhalb Kilometern verließen sie die Hauptstraße und fuhren eine Landstraße hinunter zu einem schönen Dorf mit alten Fachwerkhäusern und einer Schmiede neben einer kleinen Dorfwiese. Sie hielten an, um sich Popcorn zu kaufen, und radelten dann über die Brücke, um einen geeigneten Rastplatz zu finden. Der große Fluss war beinahe bis zur Uferhöhe angeschwollen, aber weiter oben außerhalb des Dorfes befand sich ein kleinerer Nebenarm. Dort würden sie ungestört sein. Francis wusste nicht genau, wie man dorthin gelangte, aber er radelte voraus, und Ram folgte ihm vertrauensvoll. Sie fuhren durch ein offen stehendes Gatter, versteckten ihre Räder hinter der Hecke und trotteten einen Pfad entlang, der einen Hügel hinaufführte.
»Ich glaube, der Fluss ist auf der anderen Seite«, bemerkte Francis. »Beeil dich, Ram!«
Es war ein wunderschönes Fleckchen Erde. Große Buchen mit grauen, ausladenden Ästen säumten den Weg. Sie luden zum Klettern ein. Die Blätter sprossen noch nicht, aber Weidenkätzchen leuchteten aus dem Unterholz hervor, und die Vögel lärmten und sangen in der Vorfreude auf das Nestbauen. Die Luft war voll Sonnenschein, Leben und Frühlingsduft. Francis breitete seine Arme aus wie die Tragflächen eines Flugzeugs und rannte so schnell er konnte den Hügel hinunter.
»Da ist der Fluss!«, rief er. »Ich habe es ja gesagt. Lauf mit mir um die Wette bis zur Brücke, Ram!«
Aber Ram war nicht an steile, aufgeweichte Pfade gewöhnt. Er blieb mit seinem Fuß in einem Kaninchenloch hängen und fiel auf die Nase. Weil er ein tapferer und höflicher kleiner Junge war, stand er auf und entschuldigte sich. Aber er war sehr besorgt um seine verschmutzte Hose. »Wir gehen bald nach Hause?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Nach Hause?«, rief Francis. »Doch nicht jetzt! Ich sagte dir doch, ich wüsste, wo der Fluss ist. Los, komm, Ram, beeil dich!«
»Warum gehen Fluss?«, protestierte Ram. »Wasser kalt, und ich nicht schwimmen.« Doch er folgte Francis gehorsam bis zur Brücke. Sie setzten sich auf einen Baumstamm und verzehrten ihr Picknick, während das goldbraune Wasser in Uferhöhe an ihnen vorbeieilte und um die Stämme der Erlen sprudelte. Francis kaute genüsslich an seinem belegten Brot und meinte, dies sei der schönste Nachmittag, den er je erlebt hatte. Wendy und sein Stiefvater schienen sehr weit weg und unwichtig. Er war frei und konnte tun und lassen, was er wollte, und gehen, wohin er wollte. Der Fluss war nur der Anfang des Abenteuers.
Francis sah sich um. Hinter ihm lag eine abschüssige Weide, auf der schwarzweiße Kühe grasten. Dahinter lag ein Bauernhof mit einer Scheune und weiteren Gebäuden, und noch weiter drüben sah man ein hellgrünes Feld mit jungem Getreide. Am Frühlingshimmel hingen weiße Schäfchenwolken. Als sich Francis gerade nach dem Fluss umsehen wollte, brach die Sonne voll hervor. Sie beschien das Schöllkraut und den Huflattich am Ufer und glitzerte auf dem Wasser.
Francis sprang auf und rannte zu einer Erle, deren Stamm weit über den Fluss hinausragte. Er wollte darauf entlangklettern und auf die Strömung hinuntersehen. Aber als er den Baum erreicht hatte, machte er noch eine andere Entdeckung. Sie war so gefährlich und aufregend, dass er einen leichten Schrei ausstieß, gemischt aus Furcht und Freude.
Auch Ram stand auf, eilte herbei und wartete neben ihm.
Sie sahen hinunter auf eine gut versteckte Bucht, in der ein kleines Boot an einen Pfahl gebunden war. Die Flut hatte es angehoben, so dass es auf dem Stauwasser auf- und niedertanzte – ein schäbiges kleines Boot, das auf seinen Frühjahrsanstrich wartete. Francis war im Nu die Böschung hinuntergesprungen und saß bereits im Boot. Die Ruder fehlten, auch gab es kein Steuer. Es war nur ein kleines Ruderboot, mit dem man sich an einem heißen Sommertag auf dem Fluss vergnügen konnte. Aber für Francis bedeutete es ein Erlebnis, das alle anderen in den Schatten stellte. Er machte sich bereits an den Knoten zu schaffen und forderte Ram auf einzusteigen.
Ram stand steif vor Angst und Unentschlossenheit am morastigen Ufer. Er erkannte sofort, dass es äußerst gefährlich war, das kleine Boot loszubinden. Aber ihm war auch klar, dass er Francis weder davon abhalten noch ihn allein lassen konnte. Aber er versuchte es dennoch:
»Nein, Francis«, flehte er und breitete bittend seine Hände aus. »Zurückkommen – nicht gut – ich nicht schwimmen – Francis!«
Der letzte Knoten war gelöst; das Boot, das seitwärts von einem Wasserstrudel erfasst worden war, fuhr auf den Hauptstrom zu. Ram, der nichts mehr fürchtete, als allein gelassen zu werden, machte einen Sprung und landete neben Francis im Boot. Es schaukelte beängstigend, behielt jedoch das Gleichgewicht. Schon hatten sie das Stauwasser verlassen und wurden von der Hauptströmung ergriffen.
Francis wurde still, sein Gesicht war ganz blass. Er hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, dass so etwas passieren könnte. Er hatte sich vorgestellt, dass er sich am Flussufer an den Zweigen der Bäume festhalten würde, um eine nette kleine Fahrt zu machen. Doch das Boot war jetzt völlig außer Kontrolle und raste in der schäumenden Strömung dahin. Ram schluchzte und murmelte hinter ihm. Ram war sich sicher, dass ihr letztes Stündchen geschlagen hatte, und Francis dachte nicht anders. Er hielt sich am Bootsrand fest und versuchte nachzudenken. Aber das Boot fuhr so schnell, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Wenn er es nur ans Ufer steuern und einen Ast packen könnte! Oder wenn er es in eine Schilfinsel lenken könnte! Aber er konnte nichts anderes tun, als sich festzuhalten.
Auf einmal übertönten Schreckensrufe vom Ufer her das Rauschen des Flusses. Francis sah sich um und erblickte einen sehr großen, zornigen Mann, der so schnell lief, wie er konnte. Zwei kleine Jungen rannten hinter ihm her, gefolgt von einem wütend bellenden Schäferhund.
»Da vorn ist das Wehr, ihr kleinen Dummköpfe!«, brüllte der Mann. »Lenkt das Boot zur Seite. Hängt eure Jacken auf der rechten Seite ins Wasser.«
Er lief schneller als das Boot und war ihnen ein ganzes Stück zuvorgekommen. Er hatte sich ein Seil um den Bauch gebunden, und nun sprang er in seinen Kleidern in den Fluss. Francis musste unwillkürlich an ein zorniges Nilpferd denken.
»Könnt ihr schwimmen?«, brüllte der Mann.
»Ich kann schwimmen – er nicht«, rief Francis zurück.
»Dann springt!«, rief der Mann und schlug mit seinen Armen auf das Wasser. »Das Wehr liegt direkt vor euch. Springt, sag ich euch!«
Francis sah flüchtig nach vorn. Tatsächlich: Der Fluss schien vor ihnen mit Getöse zu verschwinden. Ram sah es auch, stieß einen lauten Schrei aus und sprang. Der Mann fing ihn auf und hielt ihn fest.
Francis platschte ins Wasser und kämpfte mit den Wellen. Es schien, als ob er den ganzen Fluss hinunterschluckte und auf den Grund sinken würde. Dann kam er wieder an die Oberfläche und merkte, dass ihm der Mann eine Hundeleine entgegenhielt. Er packte zu und wurde ans Ufer gezogen. Der Mann arbeitete sich, mit Ram unter einem Arm und Francis im Schlepptau, aus dem Wasser. Einen Moment später wurde Francis wie ein ertrinkendes Hündchen an Land gezogen und ins Gras geworfen, nass, durchgefroren und schluchzend.