Читать книгу Wo der Fluss beginnt - Patricia St. John - Страница 7

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Der Bauernhof

Das Boot war hinter dem Wehr verschwunden; die beiden Jungen und der Hund liefen ihm nach. Aber der Mann rief sie mit lauter Stimme zurück: »Wir holen es später«, rief er. »Bringt diese Jungen nach Hause und sagt Mutter, dass sie ihnen trockene Kleider geben soll. Sie holen sich sonst noch den Tod. Lauft, alle zusammen! Hört auf mit dem Gejammer, ihr beiden. Lauft, sage ich!«

Er schien so wütend zu sein, dass sie nicht einen Moment zögerten, ihm zu gehorchen. Hustend, spuckend und außer Atem standen sie auf und folgten ihren flinken und aufgeregten kleinen Führern. In quatschnassen Schuhen und triefenden Kleidern, die nach unten zogen, stapften sie über die Weide. Sie stolperten über Grasbüschel und Kuhfladen. Doch hielten sie nicht einen Augenblick an, denn der zornige Mann kam hinter ihnen her. Nie zuvor in ihrem Leben hatten sie solche Angst gehabt.

Gerade als sie meinten, vor Erschöpfung zusammenzubrechen, hatten sie ihr Ziel erreicht. Sie überquerten einen Hof, und der ältere Junge hielt ihnen die Tür auf. Eine Frau stand am Eingang und hörte sich an, was ihr die beiden Jungen, so schnell sie konnten, gleichzeitig erzählten.

»Wie ungezogen von euch«, sagte sie recht streng, indem sie Francis und Ram ansah. »Wir können dankbar sein, dass ihr beide nicht ertrunken seid. Lass das Badewasser einlaufen, Martin, und geht beide sofort in die Wanne! Kate, spüle ihre Kleider durch und lege sie in den Wäschetrockner! Sie müssen dann so lange warten, bis sie trocken sind. Ich werde ein paar alte Sachen heraussuchen; sie können so lange am Kamin sitzen. Nun beeilt euch, ihr ungezogenen Jungen – geht nach oben!«

Etwa eine Viertelstunde später saßen sie in der Küche am Kamin und tranken heißen Tee. Francis trug einen Bademantel und darunter einen Pyjama, der ihm viel zu klein war, und Ram erschien in einem anderen Pyjama, der für ihn aber viel zu groß war. Jetzt prustete und spritzte der Mann im Badezimmer, und beide hofften, er möge noch sehr lange dort bleiben. Kate, ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen, sah sie vorwurfsvoll an, als sie ihre Kleidungsstücke vor dem Kamin ausbreitete. Beim Hinausgehen warf sie ihr langes blondes Haar stolz zurück.

Aber für Martin und Chris, die Söhne des Bauern, waren sie Helden. Weil sie dem Ertrinken gerade noch entkommen waren, wurden sie für die beiden Brüder zu bewundernswerten Abenteurern. Die vier Jungen saßen auf einem weichen Fell vor dem Kamin, während Francis ihre gefahrvolle Fahrt in allen Einzelheiten schilderte. Er flüsterte und sah mit einem Auge zur Küchentür hinüber, falls der Vater auftauchte. Während er erzählte, wurde die Fahrt immer gefährlicher, und die Augen seiner Zuhörer wurden größer und größer. Er fragte sich gerade, ob er nicht noch ein Krokodil mit einbauen sollte, als die Mutter hereinkam.

»Nun kommt!«, sagte sie. »Eure Sachen sind fast trocken, und ihr müsst nach Hause. Wie heißt ihr, und wo wohnt ihr? Und wie seid ihr überhaupt hierher gekommen?«

Francis blickte Ram fragend an. Vielleicht wollten diese Leute die Polizei verständigen, und es war besser, eine falsche Adresse anzugeben. Aber damit war Ram sicher nicht einverstanden, also ging es nicht. So gaben sie beide recht kleinlaut ihre Namen und Adressen bekannt. Sie erklärten, dass sie mit ihren Fahrrädern gekommen waren, die hinter einer Hecke nahe der Hauptstraße versteckt seien.

Die Frau sah aus dem Fenster. Hinter den kahlen Erlenzweigen begann sich der Himmel schon rot zu färben.

»Die Sonne geht bald unter«, bemerkte sie. »Habt ihr Licht am Fahrrad? Ihr seid weit weg von zu Hause.«

Sie schüttelten den Kopf. Sie waren bisher noch nie im Dunkeln geradelt.

»Nun, dann ist es besser, eure Eltern holen euch«, schlug die Frau vor. »Habt ihr Telefon zu Hause?«

»Ram hat keins«, antwortete Francis rasch, »und mein Vater geht samstags abends immer aus, und Mutter kann meine beiden Schwestern nicht allein lassen. Vielleicht können wir zu Fuß gehen.«

»So dunkel«, stammelte Ram, und als Francis ihn ansah, erkannte er Angst und Not in seinen großen dunklen Augen. Falls der zornige Mann Rams Vater begegnete, würde Ram auf echt indische Weise bestraft werden. Ram hatte noch mehr Angst vor seinem Vater als vor der Dunkelheit. Daher antwortete er zitternd: »Gehen schnell jetzt.«

In dem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Mann betrat den Raum. Doch in trockenen Kleidern und nicht mehr außer Atem wirkte er weniger furchterregend. Er hörte sich den Sachverhalt an und fasste seinen Entschluss.

»Ich fahre sie im Landrover zurück und lade ihre Fahrräder unterwegs ein«, sagte er. »Ich möchte ein Wort mit ihren Eltern reden. Sie sollten wissen, was ihre Söhne so treiben.«

Francis blickte Ram erneut an.

»Sie dürfen nicht zu Rams Vater gehen«, sagte er laut und mutig. »Es war nicht Rams Schuld. Er wollte nicht mitmachen. Er hatte nur Angst, allein zurückzubleiben, und ich drängte ihn, ins Boot zu springen.«

Der Bauer sah Francis fest an. Sein Gesicht war ernst, aber er war nicht mehr zornig.

»Das hatte ich vermutet«, sagte er recht freundlich. »Wir wollen ihm noch einmal eine Chance geben. Aber du – was hat dich dazu getrieben, so etwas Dummes zu tun? Und wissen deine Eltern, wo du bist?«

Francis schüttelte den Kopf.

»Mama ist mit Kopfschmerzen im Bett«, murmelte er, »und Vater ist mit meinen Schwestern weggefahren – und er ist sowieso nicht mein richtiger Vater – es ist ihm egal, was ich tue.« Das alte Lied kam ihm wieder in den Sinn, und fast hätte er hinzugefügt: »Es ist nicht fair!« Aber er konnte sich gerade noch bremsen; schließlich ging sie das nichts an.

»Ich verstehe«, sagte der Bauer freundlich. »Es scheint, dass ein anderer auf euch aufgepasst hat. Es hätte schlimm ausgehen können. Ich will nur noch den Stall abschließen, dann fahren wir los.«

Er verließ das Zimmer, und seine Söhne folgten ihm. Francis lehnte sich im Sessel zurück und sah sich im Zimmer um. Er fühlte sich ganz warm und schläfrig. Er starrte auf eine bunt bemalte Karte an der Wand. Darauf standen in ungelenken Buchstaben die Worte:

»Das ist falsch geschrieben«, bemerkte Francis plötzlich. Die Mutter lächelte. »Ich weiß«, sagte sie. »Chris hat es ganz allein geschrieben, als er vier Jahre alt war, zu Vaters Geburtstag. Wir haben darüber gelacht und die Karte seither aufbewahrt. Aber es ist wahr, Francis, wie auch immer es buchstabiert sein mag. Lieben, das ist Gottes Art, und es ist ein viel besserer Weg, als davonzulaufen und zu nehmen, was einem nicht gehört. – So, eure Kleider sind trocken. Ihr könnt euch umziehen.«

Sie wechselten ihre Sachen vor dem Kamin in der Küche. Die Bauersfrau legte noch mehr Holz aufs Feuer, so dass die Flammen hell aufflackerten. Kate deckte den Tisch, und der herrliche Duft von frisch gebackenem Brot erfüllte den Raum. Francis wäre gern noch geblieben, aber er hatte keinen Grund dazu. Der Bauer kehrte zurück und forderte sie auf mitzukommen. Seine Frau begleitete sie bis zur Tür.

»Auf Wiedersehen, ihr beiden«, sagte sie, »und macht solche Dummheiten nie wieder! Dankt Gott dafür, dass ihr beide gut davongekommen seid!« Sie lächelte ihnen zu und legte ihnen einen Moment lang die Hand auf den Kopf. Wenig später kletterten sie in den Landrover, und Francis konnte durch die Heckscheibe erkennen, wie Martin und Chris am Kamin hockten und lachten, während an der Wand über ihnen die Worte klar das aussagten, was der Geist des Hauses zu sein schien: GOTT IST LIBE. Dann fuhr der Wagen los, und das Fenster wurde von der Scheune verdeckt.

Sie luden Ram und sein Fahrrad am Ende der Straße aus. Er radelte nach Hause, ohne sich nochmals umzusehen. Francis drückte sich näher an den Bauern heran. Irgendwie fiel es ihm schwer, sich von diesem großen Mann zu trennen, der im Augenblick ihrer Angst erschienen war und sie gerettet hatte. Der auch nicht mehr zornig war und es völlig verstanden hatte, dass es nicht Rams Fehler gewesen war. Der Bauer fuhr jetzt langsamer, so als sei er noch unschlüssig, was er tun wollte.

»Das ist unser Haus«, sagte Francis recht betrübt.

»Ah, ja?«, bemerkte der Bauer, indem er am Straßenrand parkte. Aber er rührte sich nicht. »Warum in aller Welt hast du so etwas Törichtes getan, Francis?«, fragte er schließlich. »Du hättest den armen kleinen Inder fast ertrinken lassen. Du wusstest, dass er nicht schwimmen kann, und außerdem war es Diebstahl. Es war nicht dein Boot. Deine Eltern sollten es erfahren, sonst tust du vielleicht noch einmal so etwas.«

Francis sagte nichts. Er stieg einfach aus dem Landrover und nahm sein Fahrrad, das der Bauer ihm heruntergereicht hatte. Dann gingen sie miteinander ins Haus.

In der Küche herrschte ein furchtbares Durcheinander. Niemand hatte den Tisch abgeräumt oder das Geschirr gespült. Die tränenerstickte und zornige Stimme seiner Mutter ertönte scharf vom oberen Ende der Treppe: »Francis, wo bist du gewesen? Wie kannst du es wagen, so lange wegzubleiben! Ich werde es deinem Vater erzählen, wenn er nach Hause kommt, denn du verdienst es, bestraft zu werden.«

»Er kommt nicht vor Mitternacht heim, samstags nie«, flüsterte Francis. »Und sie wird ihm nichts erzählen, denn er kommt meistens betrunken nach Hause.«

»Ich verstehe«, antwortete der Bauer, indem er sich nachdenklich umsah. Er beugte sich zu dem Jungen hinunter und sah ihm in die Augen.

»Versprichst du mir, dass du solch eine Dummheit nicht wieder tust?«

»Ich verspreche es.«

»Und komm wieder einmal bei uns vorbei!«

»Ich verspreche es.«

Er spürte die große Hand auf seiner Schulter; einen Moment später war der Bauer gegangen. Francis stand noch immer unentschlossen in der Küche und kämpfte mit den Tränen. Es war für ihn ein sehr großer, wichtiger Tag gewesen, aber jetzt war er müde. Er fror und fühlte sich verlassen. Er war fortgelaufen und hatte die Freiheit gekostet. Er war fast ertrunken. Außerdem hatte er einen Blick in ein Heim geworfen, ein Zuhause, wie er sich eines wünschte. Vor seinem inneren Auge erschien das Bild eines Hauses, das durch ein Feuer erwärmt wurde und in dem alle glücklich zu sein schienen. Der Zorn, der dort geherrscht hatte, war gerecht und gütig zugleich und hatte ihn nicht herausgefordert, auch zornig zu werden. Er sehnte sich danach, zu seiner Mutter zu laufen und ihr alles zu erzählen. Es schien sogar, dass er Glück hatte, denn Wendy und Debby saßen vor dem Fernseher und waren in einen Film vertieft.

Er rannte nach oben. Mutter hatte offenbar gelegen, denn die Decken waren zurückgeschlagen. Nun saß sie auf dem Bett und rang die Hände. Sie hatte sich große Sorgen um ihn gemacht. Doch nun, da er sicher zu Hause war und vor ihr stand, ganz zufrieden mit sich selbst, ärgerte sie sich über ihn.

»Ich verstehe nicht, wie du so selbstsüchtig sein kannst, Francis«, brach es aus ihr hervor. »Du wusstest, wie sehr ich in Sorge sein würde. Ist dir das egal? Wo bist du überhaupt gewesen?«

»Ich war mit dem Fahrrad unterwegs, Mama. Ich fiel in den Fluss. Der Fluss hat Hochwasser, und ich wurde fast über das Wehr getrieben. Mama, ich wäre beinahe ertrunken.«

Sie wurde ganz blass. »Was hast du auch in der Nähe des Flusses zu suchen?«, fuhr sie ihn an. »Außerdem glaube ich, dass das alles nur eine Ausrede ist. Deine Kleider sind ja vollkommen trocken und sauber. Es ist wirklich ganz ungezogen von dir, Francis.«

»Aber Mama, die Frau hat die Sachen in den Wäschetrockner getan, und wir saßen am Kamin – ich bin wirklich fast ertrunken, ehrlich, Mama. Der Mann hat es gesagt – er hat mich im Landrover nach Hause gebracht und …«

Ein Auto hielt vor dem Haus. Seine Mutter sprang auf, lief aufgeregt zum Fenster und sah hinaus. Einen Moment später sprach sie wieder:

»Ich dachte, es sei dein Vater«, sagte sie in einer dunklen, tonlosen Stimme, »aber es war jemand von nebenan.«

Sie kam nicht zurück, sondern starrte auf die Straße hinunter und rang die Hände. Sie hatte Francis und den Fluss völlig vergessen.

Er wartete einen Moment, dann wandte er sich ab. Er ging ins Wohnzimmer, kniff Wendy ordentlich in die Seite und legte ihr die Hand auf den Mund, um zu verhindern, dass sie schrie. Dann setzte er sich neben sie aufs Sofa, um das Ende des Films anzusehen.

Wo der Fluss beginnt

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