Читать книгу Wo der Fluss beginnt - Patricia St. John - Страница 8
ОглавлениеWieder im Kirschbaum
Niemand sprach mehr von Francis’ Abenteuer. Seine Mutter kam am Sonntagmorgen erst sehr spät nach unten. Sie sah krank und müde aus und schien es ganz vergessen zu haben. Nach dem Frühstück schloss sie sich mit Vater im Schlafzimmer ein, und ihre Stimmen wurden sehr laut. Als Mutter herauskam, sah sie verweint aus. Vater hatte schlechte Laune, und die kleinen Mädchen alberten herum. Francis hielt es für das Beste, ihnen schnellstens aus dem Weg zu gehen.
Im Garten war es außerdem viel schöner. Am Himmel zogen Schäfchenwolken dahin, und zwei Narzissenknospen hatten sich bereits geöffnet. Überall sangen Vögel – es war unmöglich, missmutig zu sein. Aus der feuchten Erde schossen die Pflanzen hervor, dass man fast meinte, sie wachsen zu sehen.
Francis spielte eine Weile mit dem Fußball, doch der Rasen war zu klein. Gedankenverloren blickte er auf das Tor. Dann reckte er sich und schaute genauer hin: Am Tor war etwas Merkwürdiges geschehen. Acht braune Finger umkrallten den oberen Rand, und zwei leuchtende schwarze Augen spähten durch die Ritze. Jemand beobachtete ihn.
Francis wusste sofort, wer es war, und freute sich. Ram war kein besonders guter Fußballspieler, aber er war besser als überhaupt keiner. Er hatte Francis nicht die Schuld dafür gegeben, dass er fast ertrunken wäre, und trug ihm auch nichts nach. Es würde Spaß machen, noch einmal über ihr gestriges Erlebnis zu sprechen. Weil sie fast miteinander umgekommen waren, beschloss Francis, ihm das Versteck im Kirschbaum zu zeigen. Er lief hinüber und öffnete das Tor einen Spalt breit. Ram schlüpfte herein und sah ihn mit leuchtenden Augen an.
»Ich kommen, Francis«, flüsterte er und schaute unruhig zum Haus hinüber. »Du gut? Deine Mama, sie böse?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Francis. »Ich denke, sie hat es mir nicht wirklich geglaubt. Meine Sachen waren zu sauber. Ram, ich habe ein Geheimversteck. Ich nehme dich mit, wenn du willst, aber du darfst niemandem etwas davon erzählen. Keiner kennt ihn außer mir.«
Ram sah ihn erschrocken an. Gestern hatte Francis ihn in große Schwierigkeiten gebracht, und er wollte nicht, dass so etwas noch einmal passierte. Er zögerte, doch Francis ergriff seine Hand.
»Komm, Ram!«, drängte er ihn. »Es ist nicht gefährlich. Es ist ein Baum. Und beeil dich, denn ich möchte nicht, dass uns jemand sieht. Kriech unter die Hecke und lauf über das Gras! Schnell jetzt, klettere!«
Ram, der sehr erleichtert war, dass Francis nicht von ihm verlangte, in einem unterirdischen Gang zu verschwinden, kletterte flink auf den Baum; Francis folgte ihm. Der Sitz war recht eng, aber weil sie dicht zusammenrückten, gelang es ihnen, darauf Platz zu nehmen und durch die knospenden Zweige zu blicken. »Bald werden uns die Kirschblüten völlig verdecken«, bemerkte Francis. »Dann wird es aussehen, als ob wir ringsherum von weißen Gardinen umgeben wären. Sieh, Ram. Da ist Frau Glengarry, die ihre Katzen nach draußen bringt, bevor sie zur Kirche geht. Sie kann uns nicht sehen. Sie weiß nicht, dass wir hier sind. Aber wir können sie sehen. Wir können alles beobachten!«
Er lachte laut auf, und Ram lachte auch. Der Baum bewegte sich leicht in der Frühlingsbrise, und irgendwo hinter ihnen läuteten Kirchenglocken. Sie öffneten die Dose und breiteten ihre Schätze aus. Ram zog eine Tüte Gummibärchen aus der Tasche. Lutschend und mit baumelnden Beinen saßen sie da und durchlebten noch einmal alle Ereignisse des gestrigen Tages. Ram hatte sich seit seiner Ankunft in dem kalten, grauen England vor mehr als sechs Monaten noch nie so glücklich gefühlt wie heute. Den ganzen Winter hatte er unter Frostbeulen gelitten, und ihm war nie richtig warm geworden. Die Schule machte ihm sehr zu schaffen; auch hatte er noch keinen Freund gefunden, weil er so klein und schüchtern war. Außerdem machte ihm die englische Sprache Mühe. Die anderen wollten zwar nicht unfreundlich sein, aber sie hatten es alle so eilig und machten so viel Lärm. So war es ihm bisher noch nicht gelungen, laut genug zu erklären, dass er auch mitspielen wollte. Er hatte sich sehr einsam und nirgendwo ganz sicher gefühlt, außer zu Hause bei seiner Mutter und seiner kleinen Schwester.
Aber jetzt war alles anders. Er saß dicht neben seinem neuen Freund in einer ziemlich unbequemen Astgabel und lutschte Gummibärchen. Die Vögel sangen, die Glocken läuteten, und die englische Sonne schien warm auf sie herab. Er konnte sich mitteilen und besser Englisch sprechen als je zuvor. Es gab nichts, was er nicht irgendwie ausdrücken konnte. Er sprach über Indien, die Reise, das Flugzeug und seine Familie, während Francis vom Fußball und von seinen Zukunftsträumen redete.
Die Welt erschien ihm so hell wie die Osterglocken und der Sonnenschein, bis Francis ganz plötzlich fragte: »Gehst du gern zur Schule?«
Das Licht erlosch in Rams Augen, und er schüttelte heftig den Kopf.
»Ich nicht Schule mögen«, sagte er und schaute finster drein.
»Warum nicht?«, fragte Francis. »Sie ist nicht schlecht. Unser Lehrer ist in Ordnung, und wir spielen Fußball und gehen schwimmen. Was gefällt dir nicht daran?«
Ram sah ihn mit großen, betrübten Augen an.
»Ich nicht Schule mögen«, wiederholte er mit einem leichten Schaudern. »Ich Angst haben.«
»Angst wovor?«
»Ich Angst haben vor Spotty und Tyke. Sie sind hinter mir her. Sie sagen, sie etwas Schlechtes mit mich machen.«
Er flüsterte und sah sich ängstlich um, so als ob Spotty und Tyke sich im Gebüsch versteckt halten könnten. Francis schlang seine Arme um die Knie. Das klang ja wie der Anfang eines neuen Abenteuers!
Spotty war ein dreizehnjähriger Junge mit pickligem Gesicht, der dick und ziemlich groß für sein Alter war. Er wehrte sich gegen eine Welt, die ihn wegen seiner Figur und seines durch die Pickel entstellten Gesichts verspottete. Aber Tyke war anders. Er war stark und drahtig und ein erstklassiger Läufer. Er spazierte mit einer Zigarette im Mundwinkel herum, wenn die Lehrer es nicht sahen, und trank Bier, das er seinem Vater stahl. Francis bewunderte ihn und verbrachte einen Großteil der Pause damit, Tyke auf sich aufmerksam zu machen. Beide Jungen wohnten im gleichen Stadtteil wie er, und manchmal traf er sie im Fish-und-Chips-Laden. (In England gibt es statt Würstchenbuden an vielen Straßenecken so genannte »Fish and Chips«-Läden, in denen man gebratenen Fisch und Pommes frites mit Mayonnaise oder Essig kaufen kann.)
»Sie sind in Ordnung«, sagte Francis. »Warum sollten sie dir etwas tun? Und überhaupt, wann haben sie denn mit dir gesprochen?«
Rams Augen schauten noch ängstlicher drein.
»Sie kleines Haus haben«, flüsterte er, »nicht weit von meins. Einen Tag, ich Brombeeren pflücken – ich nicht wissen, sie in kleines Haus – ich hören, wie schlechte Sachen reden, und ich weglaufen schnell. Dann sie sehen mich.« Er zitterte. »Sie rennen schnell, schnell, schnell, und sie nehmen mich so …« Er griff nach Francis’ Hemdkragen. »Sie sagen, sie böse Sachen mit mir machen, wenn ich sagen – sie kommen nach mein Haus – sie mich töten, wenn ich erzählen.«
Ram war jetzt ganz außer sich, und seine Hände waren kalt und steif. Er hatte es bisher niemandem erzählt, aber sein ganzes Leben war von Spotty und Tyke überschattet. Der Gedanke an sie verfolgte ihn Tag und Nacht. Im Traum bildete er sich ein, dass sie zum Fenster hereinstiegen. Er war sich sicher, dass sie ihn auf dem Heimweg von der Schule verfolgten, und ein- oder zweimal hatten sie es tatsächlich getan, um ihm zu zeigen, dass er sich ja in Acht nehmen sollte.
Bisher hatte er sein schreckliches Geheimnis ganz für sich behalten. Doch an diesem Sonntagmorgen erzählte er seinem neuen Freund alle seine Sorgen. Bei Francis fühlte er sich sicher; Francis würde nichts verraten. Er konnte Francis vertrauen. Ihm würde er immer alles sagen.
Francis starrte ihn an. Er war eifersüchtig, dass Tyke Ram so viel Aufmerksamkeit schenkte. Und sich vorzustellen, dass sie gar nicht weit weg einen Platz hatten – ein geheimes Versteck, wo sie vielleicht Messer und Bomben aufbewahrten! Man munkelte davon, dass Tyke einmal ein Feuer gelegt habe, und er hatte noch andere Freunde neben Spotty, mit denen er hinter der Turnhalle rauchte. Vielleicht waren sie eine Bande, und Francis konnte etwas tun, damit sie auf ihn aufmerksam wurden. Schließlich konnte er sehr schnell laufen.
Irgendwo in der Nähe der Hintertür rief eine zornige Stimme seinen Namen, aber Francis antwortete nicht.
»Erzähl mir von dem Versteck!«, sagte er. »Wo ist es?«
»Unsere Straße lang, eine andere Straße«, erzählte Ram sehr rasch, »und Ende andere Straße Feld und Brombeeren. Und letztes Haus in andere Straße abgebrannt – und hinter abgebranntes Haus, kleines Haus, nicht zum Wohnen. Da gehen Tyke und Spotty und andere Jungen, und wenn ich Brombeeren pflücken, ich sie hören, und sie mich sehen durch kleines Fenster, und sie sagen sehr schlechte Sachen zu mich.«
»Ja, ja«, warf Francis ein, der die ganze Geschichte nicht noch einmal hören wollte. »Aber wann gehen sie dorthin?«
»Ich sie sehen Sonntag«, gab Ram Auskunft. »Ich sehen Tyke und Spotty und manchmal andere Jungen die Straße gehen, bevor Nacht.«
»Du meinst bei Sonnenuntergang?«
»Ja, wenn nicht dunkel, aber bald dunkel, ich sehen gehen.«
»Hast du sie zurückkommen sehen?«
»Nein, meine Mutter – sie Vorhänge zumachen.«
Wie blöd er ist, dachte Francis und hielt seine Hand auf, um noch ein Gummibärchen in Empfang zu nehmen. Ich hätte sie andauernd beobachtet und die Zeit aufgeschrieben, wann sie hingehen und zurückkommen. Er hörte nicht mehr auf das, was Ram noch erzählte. Seine Einbildungskraft riss ihn mit: Tyke wartete auf ihn vor dem Fish-und-Chips-Laden und zog ihn beiseite: »Unsere Bande braucht einen Läufer«, sagte er, »einen sehr schnellen, kleinen Läufer. Wie steht es mit dir?« – Plötzlich wollte er allein sein, um nachzudenken und Pläne zu schmieden.
»Ich gehe jetzt hinein«, sagte er zu Ram. »Du gehst besser nach Hause.«
Ram sah enttäuscht aus. Es war so wunderbar gewesen, all seine Ängste bei Francis abzuladen. Jetzt, nachdem er sie ihm mitgeteilt hatte, war er gar nicht mehr so furchtsam. Aber es kamen ja noch viele weitere Tage. Er kletterte den Baum hinunter.
»Ich wiederkommen?«, fragte er schüchtern.
»Vielleicht, irgendwann einmal«, antwortete Francis, ohne ihn anzusehen. Er hatte Ram fast vergessen. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und schlenderte zur Hintertür. Als er um die Hausecke bog, stieß er fast mit seinem Stiefvater zusammen, der den Wagen wusch.
»Wo warst du?«, fragte sein Vater gereizt. »Du weißt genau, dass du mir sonntags morgens beim Wagenwaschen helfen sollst. Ich habe es dir schon so oft gesagt.«
»Ich war nur im Garten«, antwortete Francis und stieß ärgerlich mit dem Fuß gegen die Treppenstufen.
»Du warst nicht im Garten«, schrie sein Vater. »Ich rief und suchte dich überall. Ich habe deine Faulheit und deine Lügen satt. Es ist bereits Mittag. Heute Nachmittag bleibst du hier und tust, was ich dir sage, und machst keinen Unsinn!«
Francis floh in die Küche. Nun waren seine Nachmittagspläne verdorben, und er musste eine ganze Woche warten bis zum nächsten Sonntag. Er wollte gerade mit dem Fuß gegen ein Stuhlbein treten, als er seine Mutter bemerkte, die still dastand und aus dem Fenster sah. Ihre Hände ruhten auf dem Spülbecken. Es war, als ob sie etwas so aufmerksam betrachtete, dass sie ihn nicht einmal hatte hereinkommen hören.
Sie waren ganz allein, und Mutter war nicht beschäftigt. Ob er jetzt zu ihr gehen und ihr von seinem Platz im Kirschbaum erzählen sollte? Eines Tages, wenn Vater, Wendy und Debby zum Park gingen und der Kirschbaum blühte, würde er dann eine Trittleiter holen, und Mama würde kommen und mit ihm in seiner geheimnisvollen weißen Welt sitzen. Es würde sehr eng sein, aber er konnte sich etwas weiter oben hinsetzen. Er würde Pfefferminzbonbons kaufen, und sie würden miteinander sprechen, nur sie und er, wie damals, als Wendy noch ein Baby war – bevor es bei Mutter mit den Kopfschmerzen angefangen hatte und Vater es sich angewöhnt hatte, so häufig wegzugehen und immer gleich böse zu werden. Wenn sie mitkäme, würde er sich nicht für Spotty und Tyke interessieren. Er würde zu Hause bleiben und brav sein und ihr helfen. Er ging einen Schritt auf sie zu.
»Mama«, flüsterte er.
Sie drehte sich erschrocken um. Sein Anblick, wie er so dastand, sein Pullover grün verschmiert vom feuchten Moos der Baumrinde, reizte sie bis ins Unerträgliche. Wenn er sich anständig betragen hätte, würde ihr Mann jetzt wieder gute Laune haben. Immer musste er sich über Francis ärgern, und der kleine Nichtsnutz schien sich überhaupt nicht darum zu kümmern. Er grinste sie an, als ob er etwas sehr Schlaues getan hätte.
»Warum schleichst du dich an mich heran und erschreckst mich so?«, sagte sie böse. »Und wo um alles in der Welt warst du? Du weißt, dass du deinem Vater sonntags morgens helfen solltest. Du – du verdirbst immer alles, Francis! Jetzt geh um Himmels willen und wasch dir die Hände, und fang beim Essen nicht wieder an zu zanken. Er ist selten genug zu Hause.«
Sie drehte sich mit einem Schluchzer dem Herd zu. Francis lief aus dem Zimmer. Die zerbrechliche weiße Welt des Kirschbaums war verschwunden, und er wusste, dass er so bald wie möglich einer Bande beitreten würde – einer sehr schlimmen Bande, die Sachen in die Luft jagte und Menschen verletzte. Am liebsten wollte er sofort damit anfangen. Doch das einzige Opfer in Reichweite war seine eigene Katze, die er schon als kleines Kätzchen bekommen hatte. Sie schnurrte, als sie ihn sah, doch er rannte auf sie los und stieß sie, so heftig er konnte, in den Garten hinaus und schlug die Tür zu, als sie vor Angst und Schmerzen aufschrie.